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VON DIENENDEN


Neues Wiener Journal, 18. Februar 1919

Eben bin ich nach Hause gekommen. Ich habe einen sehr geliebten Menschen noch eine Strecke Wegs das Geleit gegeben; dann bin ich ganz allein zu später Nachtstunde nach Hause gewandert und habe nachgedacht.

Man hat jetzt so viele Erlebnisse, und alle sind so wuchtig und schwer.

Wohin man schaut, Ungerechtigkeiten, erdrückendes Unrecht.

Man muß an die Menschen denken, die leiden!

O, wie kann ein Menschenherz leiden!

Wie eisig kalt … Wie gut wäre die Straßenbahn, die einen bis nach Hause brächte!

Man muß an die denken, die frieren; die sich irgendwo verkrochen haben mit steifen Gliedern, die ohne ihre Schuld die grausame Qual des Frierens erleiden müssen.

Ach – es heißt noch ein paar Tage die Zähne zusammenpressen, dann ist wieder der Frühling da – das Wunder, das uns sicherer ist als das Brot und über das man doch immer wieder staunt.

Seit ein paar Tagen spüre ich wieder eine gesammelte Kraft zur dramatischen Arbeit. Sie ist mir während der Jahre des Mordens abhanden gekommen. Man konnte ja keine Nacht ruhig schlafen ohne das Bild der Schlachtfelder vor sich, und jede Zeile niedergeschrieben, die nicht aus den Schreckensgeschehnissen des Tages hervorging, war überflüssig. Erst jetzt geschieht es wieder, daß die Eindrücke sich zu sublimieren beginnen.

Ich habe es in dieser Woche versucht, ein dramatisches Werk zu beginnen, und ich sehe mit Freude, daß es wächst.

Die ganze tiefe Liebe der Schaffenden umfängt mich wieder. Ich bin wie eine Mutter von vielen Kindern; so glücklich und so leidvoll!

Auf die erste Seite habe ich die Worte geschrieben: »Allen Dienenden gewidmet.« Und von Dienenden soll es handeln. Von armen Dienstboten. Und eine Tragödie des Hasses soll es sein. Die Tragödie eines Menschen, dem all seine Liebe in Haß gewandelt wurde. Aber das wäre nichts Neues. Denn das gerade ist der Kernpunkt jedes Dramas. Der Mord als die letzte Konsequenz des Hasses.

Es ist ein Uhr nachts. Ich habe bereits seit einer Stunde geschrieben und höre jetzt auf.

Wie zu einem Kinde sage ich: »Gute Nacht!«

Es hat bereits einen Odem, mein Werk, man kann die Herztöne fühlen; die Augen sind noch zu; bald werden sie erwachen.

Gute Nacht, du mein werdendes Kind! Der Dienenden muß ich gedenken. (So geht es den Menschen, die geistig arbeiten; den Schlaf ihrer Nächte »verdenken« sie. Und es wird Morgen und die Tagesarbeit ist da für sie so gut als für die anderen auch.) O, wer ein einziges Mal nicht denken bräuchte an das, was alles das Herz jetzt quält.

Wer, wie die Näherin, die den ganzen Tag an der Maschine gesessen hatte, sich müde hinlegen könnte zum Schlafe …

An die Dienenden muß ich denken.

Und ich werde wohl daran denken, ehe es in meinem dunkeln Zimmer grau geworden ist vom Frühdämmer.

… Vielleicht eignet sich das menschliche Herz am wenigsten zum Dienen.

Dienstbote sein, Magd, Knecht, das ist vielleicht das Härteste von allem.

Auch am besten Dienstplatz fühlt sich die menschliche Seele geknebelt und gefesselt; ein Sklave in Ketten.

Und wird sich immerdar so fühlen, denn das teuerste Gut des Menschen ist ihm genommen: die Freiheit.

Was er dafür eintauscht: Verköstigung, Lohn, ein Dach überm Kopf ist des Lebens nicht wert ohne das eine: Freiheit!

… Vor einiger Zeit kam ich in ein kleines, vornehmes und teures Hotel, um eine Freundin, eine Schauspielerin, aufzusuchen. Ich traf sie nicht an; sie war schon bei der Vorstellung im Theater; sie spielte an diesem Abend.

In ihrem Ankleide-, Empfangs- und Studierzimmer war es dunkel. Im Schlafzimmer brannte eine elektrische Birne.

Ein Stubenmädchen, eines von den »uniformierten« Hotelstubenmädchen in schwarzem Kleid und weißer Schürze, heizte im Ofen ein. Sie konnte mich nicht sehen – ich war unbemerkt eingetreten –, mir war alles hier bekannt. Ich nahm Platz beim Schreibtisch und versank sofort in Träumerei.

… Die armen Künstlerinnen in den paar armen kleinen Hotelzimmern. Da wurden sie daran gemahnt. Alles ist eitel: dieses Hotelbett, dieser Hotelkasten, dieser Spiegel mit dem gewöhnlichen, vergoldeten Rahmen; diese Tischchen, Sesselchen bis zum Thermometer, und diese Ottomane, Teppiche und Bettvorleger: Wie ist das alles fremd und lieblos.

Das Stubenmädchen schließt pflichtschuldig die Fenster, zieht die Gardinen zu, legt das seidene Nachtkleid der Künstlerin zurecht, stellt ein Glas Wasser auf das Tischchen neben das Schlafpulver, dann kommt sie herein, um hier Ordnung zu machen.

Ich frage sie: »Wo ist das Fräulein?«

»Ja, ich weiß es nicht.«

»Wahrscheinlich im Theater, nicht?«

»Ich weiß nicht, mir sagt sie es doch nicht.«

»Haben Sie sie denn nicht gesehen? Haben Sie nicht mit ihr gesprochen?«

»Was soll das Fräulein denn mit mir sprechen?«

»Nun, warum denn nicht? Ihr kennt einander doch schon so lange. So oft das Fräulein in Wien ist, wohnt sie hier, jetzt schon den zehnten Monat. Und da sind Sie einander noch nicht näher gekommen? Man sollte es nicht für möglich halten. Ein Mensch ist doch wahrlich wie der andere. Und warum so fremd? Warum diese Schranken?«

»Ja, das Fräulein hat anderes zu tun, als mit mir zu sprechen. Wer bin ich denn? Ein Mensch ist nicht wie der andere. Sie läutet mir zweimal, wenn sie etwas will: Wasser oder frische Handtücher oder die Schuhe bringen. Auch in der Nacht hat sie schon geläutet, wenn sie etwas brauchte.«

»Und Sie kamen?«

»Freilich kam ich; das mußte ich laut meines Dienstvertrages, und dem Fräulein wird es dann in die Rechnung gestellt.«

»Und wem läuten Sie, wenn Sie in der Nacht etwas brauchen?«

»Niemand; dazu habe ich kein Recht; ich bin nur ein armer Dienstbote.«

»Wie heißen Sie?«, frage ich.

»Marie; eigentlich heiße ich Anastasie, aber die Herrschaften hier sind gewöhnt an eine Marie, darum heiße ich auch Marie.«

»Marie«, sage ich, »Verzeihung, Anastasie, glauben Sie daran, daß es anders wird? Daß die Künstlerinnen mit ihrem Stubenmädchen ›sprechen‹ werden, daß die Menschen einander beistehen werden, daß sie einander die Bruder- und Schwesterhände reichen werden, um nicht länger armselig verlassen und allein dazustehen … Glauben Sie daran – Anastasie?«

»Wenn das wäre«, sagt sie, »aber dann bin ich schon zu alt.« Und sie läuft aus dem Zimmer, hinaus auf den Gang. Unten hat es schon mehreremale heftig geläutet. Man hört rufen: »Marie, wo bleiben Sie denn? Kommen Sie endlich, mir meine Schuhe ausziehen …«

Was Anastasie wohl damit meint: Dann bin ich schon zu alt.

Flüchtiges Glück

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