Читать книгу Flüchtiges Glück - Else Feldmann - Страница 12
ОглавлениеPOPPER-LYNKEUS ZUM 81. GEBURTSTAG
Neues Wiener Journal, 23. Februar 1919
Wie im Traum gehe ich jedesmal diesen Weg von der Elektrischen durch die paar kleinen Gassen, die Fasholdgasse, dann biegt man ab in die Trauttmansdorffergasse, die Wattmanngasse, dann kommt gleich die Woltergasse.
Es ist alles so ruhig, so feierlich; selten begegnet man Leuten; bald geht ein feudal aussehender Herr an einem vorüber; ein Hausmädchen mit einem Hund, und manchesmal hüpft ein Kind über den Weg; sonst aber ist es still.
So oft ich das Stückchen Woltergasse hinuntergehe, bis zum zweiten Hause, ist es mir, als fühlte ich mich von allem befreit.
… Das Haus hat ein Gärtchen, und Tannen sind darin, Blautannen. Im Sommer gibt es viele Blumen und die Vögel singen in den Bäumen. Jetzt liegt das Gärtchen im Nebel da und alles sieht aus wie verzaubert.
Ich gehe die Stufen hinauf. An der Türe ist ein Schild: Josef Popper. Ich läute. Annerl macht mir auf. Mit einem raschen Blick prüfe ich, ob sie wohl und gesund ist; dann liegen wir uns in den Armen. Mariedl kommt aus der Küche. Diese zwei Frauen, Tante und Nichte, diese zwei guten Hausgeister, diese beiden Heimchen bei Lynkeus! »Annerl«, flüstere ich – denn Popper schläft um diese Zeit – »wie geht es unserm …?« Und von ihrem Gesicht lese ich es ab. Ist das Gesicht rosig und heiter, liegt ein Lächeln über diesem schönen, junggebliebenen Frauenantlitz, dann geht es gut; ich habe ihr Gesicht schon an Tagen gesehen, wo es schmerzverzogen und trübsinnig war; dann ging es schlecht. Gestern war Annerls Gesicht wieder voll Sonnenschein; also ging es gut.
Ich sitze eine Weile bei Annerl und Mariedl. Sie erzählen mir ihre Wirtschaftssorgen, ihre häuslichen kleinen Freuden und Leiden; dann aber sprechen wir von Politik, von Büchern, von geistigen Sachen. Ich erzähle ihnen, was ich gelesen, was ich geschrieben habe.
Nach einer Viertelstunde ist Popper erwacht; man kann zu ihm hinein. Ich öffne leise die Tür, ohne anzuklopfen. Wie beseligend ist es, in diese teuern Züge zu blicken.
Popper ist vollkommen wohl, jugendlich und frisch.
Er ruht auf dem Sofa, aber manchmal geht er auch im Zimmer umher mit seiner hohen, aufrechten Gestalt – was sind die Jahre für das Genie –, man muß bewundernd stehen bleiben und ihn anschauen: Welch ein schöner Mensch! In einem dunkelgrauen Anzug, weißem Kragen, dunkler Halsbinde; fein und vornehm sieht er aus. Das wundervolle Haupt mit dem hermelinweißen Seidenhaar, die Augen, die eine Welt der Güte und Liebe ausstrahlen. Alles an dem Mann ist so göttlich groß und menschlich zugleich.
Ich setze mich zu ihm und wir sprechen. Ich halte seine Hand in meinen Händen und ich fühle es wie etwas Heiliges – soll ich es Traum, erfüllte Sehnsucht, Glück oder Ehrfurcht nennen –, ich möchte die Stunde festhalten, den Tonfall der geliebten Stimme mit mir nehmen.
Wir sprechen von der »Nährpflicht«. Ich sage, was mir gerade durch die Seele geht: Die Nährpflicht wird Wahrheit. Das Geld ist nichts mehr, die Ware ist alles. Alle Reichtümer, aller Besitz ist nichts, wenn nicht die Arbeit da ist, die hervordringenden Arbeiter. Ich komme täglich zu Menschen, die im schrecklichsten Elend leben. Frühgealterte Männer, die das Leben gepeitschter Tiere hinter sich haben; Frauen, die weder Glück noch Liebe kennen gelernt, die Kinder geboren in Haß und Verzweiflung, Kinder, die nicht lachen und spielen können, nur stöhnen und klagen. Es sind oft liebenswerte Menschen, edel in ihrem Denken und Fühlen und trotzdem geschändet von Armut.
In einigen Jahren, wenn der Sozialismus das Gut der ganzen Welt geworden ist, werden sich die Menschen besinnen: Wohltätigkeit – welch trauriger Schwindel, welch ein Betrug an den Armen! Jemand schenkt von seinem Überfluß, aber erst dann, wenn der Beschenkte am Zugrundegehen ist. Wenn ihm nicht mehr geholfen werden kann. An Stelle der schandbaren Wohltätigkeit tritt die soziale Fürsorge. Aber auch soziale Fürsorge wird immer Stückwerk bleiben. Nie werden die »Verschämten« in den Dachkammern aufgefunden werden, nie die Mutter, die schweigend für ihre Kinder hungert. Immer werden viele zugrunde gehen, viele verhungern, viele ungeheilt dahinsiechen.
Erst das Gesetz der allgemeinen Nährpflicht wird die Menschheit von dem Übel der Armut und des Verhungerns erlösen.
Die größte Befreiungstat aller Zeiten, die nie ein Mensch für die Menschheit gefunden hat: Jeder im Staate ohne Ausnahme ist gesichert für Wohnung samt Einrichtung, Nahrung, Kleidung, ärztliche Hilfe und Krankenpflege.
Keine Mutter wird mehr von der Sorge zerfressen werden: Wo nehme ich für den nächsten Tag Brot für meine Kinder; kein alter Arbeiter wird mehr denken: Wohin lege ich mein müdes Haupt, wenn das Asyl für Obdachlose geschlossen ist.
Die allgemeine Nährpflicht wird Selbstverständlichkeit, wird Gesetz geworden sein. Es wird nicht mehr denkbar sein, daß Menschen das, was sie unbedingt zum physischen Leben haben müssen, nicht bekommen sollten.
Popper-Lynkeus wird es erleben. Es wird das Wunder geschehen, daß einer der größten Gedanken, der je von einem der größten Menschen gedacht wurde – verwirklicht werde.
Wie könnte es anders sein! Das wirtschaftliche Programm der Sozialdemokraten, wenn es eines gäbe, führt nicht aus dem Chaos.
Es ist einfach und klar wie der Tag: Nur das Gesetz der allgemeinen Nährpflicht kann Lösung und Heil der Zukunft sein.
Im Zimmer ist es finster geworden. Josef Poppers Augen schauen mich ernsthaft an.
In der Sofaecke lehnt der große Denker und Menschenbeglücker, leuchtet Lynkeus’ blasses Gesicht aus dem Dunkel.