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Viktoria

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Regina schlief nicht. Sie streckte sich gähnend und rieb sich die Augen. Der Regen fiel gleichmäßig, es ging kaum Wind. Der laute Streit, zwischen ihrem Mann und einer ihr unbekannten Frau, hatte sie aufgeweckt.

„Wir wollen uns nicht zanken, das bringt uns doch nicht weiter ...“

Regina stand am Fenster und beobachtete, durch die Gardinen, die Szene und hörte interessiert zu. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt diesem Kind - und der besorgten Miene ihres Mannes, der vor Wut zu platzen schien. Er versuchte sein Gesicht mit seinen Händen gegen den Regen zu schützen, der auf ihn, Julia und Simon, niederprasselte. Sie vermied es, die fremde Frau anzusehen. Stille. Sekunden verstrichen. Nur der Regen, der aufs Dach fiel, war zu hören und das Plätschern des Wassers, das von der Dachrinne in eine große Regentonne hineinlief.

… die letzten Wochen ihrer Schwangerschaft waren problematisch. Sie hatte alles versucht, um ihre Übelkeit zu unterdrücken, die jeden Morgen von ihrem Körper Besitz ergriff und den Großteil des Tages über anhielt. Selige Zeit der Schwangerschaft! Galle im Mund und stundenlanges Würgen über der Kloschüssel.

Sie entband ihre Tochter mittels Kaiserschnitt – ein Sohn wäre Sascha lieber gewesen.

„Wir haben ein kleines Mädchen“, freute sich Sascha tränenerstickt, als er endlich zu seiner Frau durfte. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Und Temperament hat sie“, meinte die Hebamme. „Schauen Sie mal.“

Regina drehte den Kopf und sah winzige Fäuste, die wild in der Luft herumfuchtelten, ein Gesichtchen, leuchtend rot vor Zorn. Und dunkle Haare, jede Menge dunkler Haare, die in feuchten Löckchen am Schädel klebten. Ergriffen sah sie zu, wie die Schwester den Säugling abtrocknete und in eine Decke hüllte, ihr das kleine Bündel in den Arm legte.

Regina brachte kein Wort hervor. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Als sie auf das vom Schreien ganz angeschwollene, hochrote Gesicht hinabblickte, begann das Baby sich zu winden, als wollte es sich unbedingt aus der Decke befreien. Aus den Armen seiner Mutter.

< Bist Du wirklich mein Baby? > Regina hatte sich vorgestellt, dass dies ein Augenblick sofortiger Vertrautheit sein würde, dass sie nur ihrem Neugeborenen in die Augen schauen müsste und die Seele darin erkannte. Aber da wollte sich kein derartiges Gefühl einstellen, als sie sich unbeholfen bemühte, das zappelnde Bündel zu besänftigen. Alles was sie sah, wenn sie ihre Tochter betrachtete, war ein wütendes kleines Wesen mit verquollenen Augen und geballten Fäustchen. Ein Wesen, das in lautes Protestgeheul ausbrach.

Regina überließ Viktoria wieder den kompetenten Händen der Hebamme, die tatsächlich etwas von ihrem Geschäft verstand.

Das Verhalten der Kleinen änderte sich auch nicht in den nächsten Tagen, als sie bereits wieder zu Hause war.

Das Baby schrie nur noch lauter und wand sich, als wollte es mit aller Gewalt aus den Armen seiner Mutter entfliehen. Das Schreien hörte nicht auf, wurde mit jedem neuen Anschwellen der Sirene nur lauter und fordernder. Sie spürte, wie das gierige Mündchen nach der Milchquelle zu suchen begann. Sie führte die hungrigen Lippen ihres Babys an ihre Brust und zuckte zusammen, als der zahnlose Kiefer zubiss. Ihre Brustwarzen wurden von dem kleinen Mündchen wie in einen Schraubstock eingezwängt. Die dargebotene Muttermilch konnte die Kleine nur kurze Zeit befriedigen, bald schon begann sie wieder zu zappeln. < Ich gebe mir wirklich Mühe, aber ich habe es allmählich satt, immer nach saurer Milch zu riechen >. So eifrig, wie Regina Viktoria auch auf dem Arm wiegend knuddelte und hätschelte, ihre Tochter wollte sich einfach nicht beruhigen. < Was mach ich falsch > fragte sie sich, während Regina den frustrierten Säugling betrachtete. > Warum stell ich mich so ungeschickt an? > Sie wiegte ihr Baby im Stehen immer bemüht, sie bei Laune zu halten, auch wenn ihr selbst fast der Kragen platzte. < Ich halt das nicht mehr aus! > Sie liebte ihre Tochter, aber sie war todmüde und wusste nicht, wann es ihr vergönnt sein würde, wieder ins Bett zu kriechen. Die Nacht dehnte sich vor ihr aus wie eine endlose Tortur und Viktoria schrie immer noch, offenbar fest entschlossen, graue Haare aus dem Kopf ihrer Mutter sprießen zu lassen.

Draußen färbte sich der Nachthimmel allmählich schon grau und die typischen Geräusche des Tagesanbruchs drangen durch die Fenster. Für ein Stadtkind, wie Regina, waren das Getöse eines Müllwagens oder das Wummern von Autoradios so vertraut wie ein Wiegenlied.

Sie öffnete den Küchenschrank und starrte die Gratisproben mit Fertigmilch aus dem Krankenhaus an. Viktoria schrie noch lauter. Regina wusste sich einfach nicht anders zu helfen. Endgültig demoralisiert griff sie nach einem Beutel, schüttete etwas von dem Pulver in ein Fläschchen und gab Wasser dazu, stellte es dann zum Aufwärmen in einen Topf mit heißem Leitungswasser – ein Zeugnis der Niederlage, ein Symbol ihres kompletten Versagens als Mutter.

Viktoria heulte wieder los. Sie fuchtelte, hellauf empört, dass ihre Forderung nicht augenblicklich erfüllt wurde.

Kaum hatte sie der Kleinen das Fläschchen hingehalten, da schlossen sich auch schon die rosigen Lippen fest um den Gummisauger und das Baby begann ebenso genuss- wie geräuschvoll zu trinken. Die Flasche leerte sich rapide. Kein Schreien und kein Zappeln mehr, nur noch zufriedene Babylaute.

Die Augen von Viktoria schienen ein Geheimnis zu bewahren, das sie nicht ergründen konnte.

Wer braucht schon eine Mutter, wenn es Babymilchpulver gibt?

Immer wieder fragte sie sich, ob Viktoria ihre leibliche Tochter war. Vielleicht war ihr eigenes Baby tot und Sascha wollte ihr diesen Schmerz ersparen und hatte ein anderes Kind in ihre Arme legen lassen. Ein gekauftes Kind? Konnte diese unbekannte Frau nicht Zwillinge entbunden haben?

Die Ähnlichkeit der Kinder war verblüffend.

Das Telefon läutete. Regina hörte eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.

„Mein Name ist Julia. Wir sind uns nie begegnet, aber wir haben vieles gemeinsam. Sagt Ihnen der Name Tatjana Pfeffer etwas?“

Ob jemand, der an einen eine ehrliche, inständige Frage richtet, einem die Antwort glaubt, hängt nicht so sehr davon ab, ob man lügt oder nicht, vielmehr von der Art der Antwort. Je mehr Wörter man antwortet, desto weniger glaubwürdig ist die Antwort. Die Lüge, ein großes Monster, versteckt sich – nimmt der Fragende unbewusst an – am schwersten hinter einem einzigen Wort.

„Nein.“

„Können wir uns sehen?“

Regina liebte Geheimnisse über alles und so stimmte sie einem Treffen zu. „Und wo schlagen Sie vor?“

„Auf dem Spielplatz.“

„Wie erkenne ich Sie?“

„Ich habe einen kleinen Sohn. Er ist im Alter Ihrer Tochter.“

Namenlose Verzweiflung keimte in Regina auf. Unerbittlich, wie eine Maschine, hatte sie sich bereits systematisch und in aller Ruhe, mit Hilfe von Anwalt Pfeffer, darangemacht, der Geschichte auf den Grund zu gehen.

Bisher war sie noch nie die letzte Instanz gewesen.

Daher also rührte ihre instinktive Panik, ein Gefühl, als käme sie gerade vom Jogging – schwitzende Hände, beschleunigter Herzschlag, rascher Atem. Sie konnte dem Problem weder ausweichen, noch jemand anderem die Schuld in die Schuhe schieben. Sie hatte den schwarzen Peter in der Hand.

Eine Menge Geschirr ging zu Bruch, aber Sascha schaffte es, ein letztes Mal, seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen.

Er wurde ins Gästezimmer verbannt. Wieder einmal. Alles, um einen erneuten Skandal zu vermeiden, nur kein Dreck aufwühlen.

Regina ließ ihn schon seit längerer Zeit beobachten, unter anderem, auch durch Franky.

Sascha meinte nur kurz und knapp: Er sei ein Mann aus Fleisch und Blut. Regina sollte seine Seitensprünge nicht persönlich nehmen. Liebe würde grundsätzlich überbewertet. Bei diesen Worten entblößte er lächelnd seine gleichmäßigen weißen Zähne – es war ein Lächeln, dem Regina zu misstrauen gelernt hatte.

Aber er musste vorsichtig sein. Der Begriff Hölle würde eine völlig neue Bedeutung erhalten. Niemand kannte Regina so wie er sie kannte. Sie war mittlerweile zu allem fähig. Sie würde ihn vernichten, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, würde ihn zum Clochard machen, einer jener traurigen Gestalten, die in Lumpen auf den Straßen von Paris nächtigen. Sein Leben hatte sich von jetzt auf gleich in einen Regen von Scheiße verwandelt.

Sodom und Gomorrha

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