Читать книгу Emily Brontë: Sturmhöhe. Vollständige deutsche Ausgabe von "Wuthering Heights" - Эмили Бронте, Emily Bronte - Страница 6
Drittes Kapitel
ОглавлениеWährend sie mich die Treppe hinaufführte, riet sie mir, die Kerze zu verbergen und keinen Lärm zu machen; denn ihr Herr mache merkwürdig viel Wesen um das Zimmer, in das sie mich führen wolle, und würde gutwillig niemand dort wohnen lassen. Ich fragte sie nach dem Grund. Sie wisse ihn nicht, war die Antwort; sie sei erst seit ein oder zwei Jahren hier, und die Leute seien oft so wunderlich, daß sie nicht neugierig sein wolle.
Ich selbst war zu betäubt, als daß ich neugierig sein konnte, schloss meine Tür und sah mich nach dem Bett um. Die ganze Einrichtung bestand aus einem Stuhl, einem Kleiderschrank und einem großen Kasten aus Eichenholz, aus dessen oberem Teil Vierecke herausgeschnitten waren, die wie Wagenfenster aussahen. Ich ging auf das Ungetüm zu, um hineinzublicken, und entdeckte, daß es eine besondere Art altmodischer Lagerstätte war, äußerst zweckdienlich erdacht, damit nicht jedes Familienmitglied ein eigenes Zimmer brauchte. Es bildete ein richtiges kleines Kabinett, und der Sims eines Fensters diente als Tisch. Ich schob die getäfelten Schiebetüren beiseite, kroch mit meinem Licht hinein, schob sie wieder zusammen und fühlte mich vor Heathcliffs Wachsamkeit und aller Welt sicher.
In einer Ecke des Simses, auf den ich meine Kerze stellte, waren einige stockfleckige Bücher aufgestapelt, und in seinen Anstrich waren überall Schriftzeichen eingeritzt. Diese Zeichen aber bildeten alle nur einen Namen, der sich in allen Arten von Buchstaben, großen und kleinen, wiederholte: hier Catherine Earnshaw, da in Catherine Heathcliff umgewandelt, und dort wiederum in Catherine Linton.
In stumpfer Teilnahmslosigkeit lehnte ich meinen Kopf gegen das Fenster und buchstabierte immer wieder Catherine Earnshaw — Heathcliff — Linton, bis mir die Augen zufielen. Aber noch nicht fünf Minuten waren verstrichen, als ein Schimmer von weißen Buchstaben, lebendig wie Gespenster, aus dem Dunkel hervortrat. Die Luft war erfüllt von Catherinen, und als ich mich aufrichtete, um den aufdringlichen Namen zu bannen, entdeckte ich, daß der Docht meiner Kerze sich über einen der alten Bücherbände geneigt und daß sich der Raum mit dem Geruch angebrannten Kalbleders gefüllt hatte. Ich schnäuzte das Licht, und da ich mich infolge der Kälte und einer aufsteigenden Übelkeit sehr elend fühlte, setzte ich mich auf und nahm den beschädigten Band auf meine Knie. Es war ein Testament in kleinem Druck, das schrecklich modrig roch. Das Vorsatzpapier trug die Inschrift ›Dies Buch gehört Catherine Earnshaw‹ und ein Datum, das etwa ein Vierteljahrhundert zurücklag. Ich klappte es zu und nahm ein anderes und noch ein anderes zur Hand, bis ich sie alle durchgesehen hatte. Catherines Bibliothek war erlesen, und der Zustand der Abnutzung, in dem sie sich befand, bewies, daß sie viel gebraucht worden war, allerdings nicht immer ihrer eigentlichen Bestimmung gemäß. Kaum ein Kapitel war frei von Randbemerkungen in Tintenschrift, die jeden Platz, den der Drucker frei gelassen hatte, ausfüllten. Manche von ihnen bestanden aus losen Sätzen, andere wieder stellten eine Art von regelrechtem Tagebuch dar, das in unausgeschriebener Kinderhand hingekritzelt war. Auf einer freien Seite (die einst wahrscheinlich wie ein Schatz entdeckt worden war) erblickte ich oben zu meinem großen Vergnügen eine ausgezeichnete Karikatur meines Freundes Joseph, roh, aber wirkungsvoll skizziert. Ein plötzliches Interesse für die unbekannte Catherine loderte in mir auf, und ich begann sogleich, ihre verblassten Schriftzüge zu entziffern. „Ein furchtbarer Sonntag!“ begann der Absatz unter der Zeichnung. „Ich wünschte, mein Vater wäre wieder da. Hindley ist ein unausstehlicher Ersatz für ihn. Sein Benehmen Heathcliff gegenüber ist abscheulich. H. und ich werden aufmucken. Wir haben heute Abend den ersten Schritt dazu getan. Den ganzen Tag hatte es in Strömen geregnet, und wir konnten nicht in die Kirche gehen, darum mußte Joseph unbedingt eine Gemeinde in der Dachstube zusammentrommeln. Während Hindley sich mit seiner Frau vor einem behaglichen Feuer wärmte — ich bürge dafür, daß sie nichts anderes taten als in ihren Bibeln lesen —, wurde Heathcliff, mir und dem unglücklichen Ackerknecht befohlen, unsere Gebetbücher zu nehmen und hinaufzugehen. Wir wurden in einer Reihe auf einen Kornsack gesetzt, ächzend und vor Kälte klappernd, und hofften, Joseph würde auch frieren und uns in seinem eigenen Interesse eine kurze Predigt halten. Vergebliche Hoffnung! Der Gottesdienst dauerte genau drei Stunden. Und dann hatte mein Bruder die Stirn, als er uns herunterkommen sah, zu rufen: ›Was, schon fertig?‹ An Sonntagabenden wurde uns gewöhnlich erlaubt, zu spielen, wenn wir nicht viel Lärm machten; jetzt genügt schon ein Kichern, in die Ecke gestellt zu werden!
›Ihr vergesst, daß ihr hier euren Herrn habt‹, sagte der Tyrann. ›Den ersten, der mich reizt, schlage ich nieder! Ich bitte mir völligen Ernst und Ruhe aus. Junge, warst du das? Frances, Liebling, zieh ihn an den Haaren, wenn du vorbeigehst, er hat mit den Fingern geschnippt.‹ Frances zog ihn herzhaft an den Haaren, dann ging sie und setzte sich auf den Schoß ihres Mannes, und so blieben sie, wie zwei kleine Kinder, küssten sich und redeten stundenlang Unsinn — närrisches Geschwätz, dessen wir uns geschämt hätten. Wir drängten uns, so dicht es ging, in die Nische unter der Anrichte. Ich hatte gerade unsere Kinderschürzen zusammengebunden und sie als Vorhang angebracht, als Joseph mit einer Bestellung aus dem Stall hereinkam. Er reißt mein Machwerk herunter, zieht mich an den Ohren und krächzt: ›Der Herr is grad erscht begraben und der Sonntag noch nich zu Ende, un de Worte vons Evangelium noch in eure Ohren, un ihr wagt zu spielen! Pfui über euch! Setzt euch hin, schlechte Kinder! ’s gibt genug gute Bücher, wenn ihr lesen wollt. Setzt euch hin und denkt an eure Seelen!‹
So schalt er und zwang uns, uns so zu setzen, daß uns von dem entfernten Feuer ein schwacher Schein treffen konnte und uns den Text der Schwarten zeigte, die er uns aufdrängte. Ich konnte diese Beschäftigung nicht leiden. Ich ergriff den schmutzigen Band am Rücken, schleuderte ihn in die Hundehütte und schrie, ich haßte gute Bücher. Heathcliff versetzte dem seinen einen Fußtritt, so daß es in die gleiche Richtung flog. Und dann gab es einen Aufruhr.
›Mr. Hindley‹, schrie unser Geistlicher, ›komm Se her! Miß Cathy hat ’n Rücken von Die Krone des Heils abgerissen, un Heathcliff hat seine Wut am ersten Teil von Die breite Straße zur Verdammnis ausgelassen! ’s is schändlich von Sie, daß Sie ihnen so den Willen lassen. Oh, der alte Herr hätt se tüchtig durchgeprügelt — aber der lebt ja nich mehr!‹
Hindley eilte aus seinem Paradies am Kamin herbei, packte einen von uns beim Kragen, den anderen beim Arm und steckte uns beide in die hintere Küche, während Joseph uns versicherte, der Gottseibeiuns werde uns bestimmt noch holen. Mit diesem Trost kroch jedes von uns in einen anderen Winkel, um auf sein Kommen zu warten. Ich holte mir dieses Buch und ein Tintenfaß vom Wandbrett, stieß die Haustür auf, um besser sehen zu können, und habe mir zwanzig Minuten lang die Zeit mit Schreiben vertrieben. Aber mein Leidensgenosse ist ungeduldig und macht den Vorschlag, wir sollten den Umhang der Melkfrau nehmen und unter seinem Schutz uns ins Moor davonmachen. Ein guter Gedanke, zumal der mürrische Alte, wenn er hereinkommt, glauben wird, seine Prophezeiung habe sich erfüllt—feuchter und kälter kann es draußen im Regen auch nicht sein!“
Ich denke, Catherine hat ihre Absicht ausgeführt, denn der nächste Satz handelte von etwas anderem: sie wurde weinerlich.
„Ich hätte es mir nie träumen lassen, daß Hindley mich jemals so zum Weinen bringen werde!“ schrieb sie. „Mein Kopf schmerzt so, daß ich ihn auf dem Kissen nicht still halten kann; und doch kann ich nicht nachgeben. Armer Heathcliff! Hindley nennt ihn einen Landstreicher und will ihn nicht mehr bei uns sitzen oder mit uns essen lassen. Und er sagt, wir dürften nicht mehr miteinander spielen, und er droht, ihn aus dem Hause zu werfen, wenn wir seinen Befehlen zuwiderhandeln. Er hat unserem Vater vorgeworfen (wie durfte er?), daß er H. zu freigebig behandelt hat, und schwört, daß er ihn auf den Platz zurückweisen werde, der ihm gebühre…“
Ich begann über der verblichenen Seite einzunicken, und meine Augen wanderten vom Geschriebenen zum Gedruckten. Ich sah einen rot verzierten Titel: „Siebzigmal sieben und das erste vom einundsiebzigsten Mal. Eine erbauliche Predigt, gehalten von Hochwürden Jabes Branderham, in der Kapelle von Gimmerden Sough.“ Und während ich mir, nur halb bewußt, den Kopf darüber zerbrach, was Jabes Branderham wohl aus seinem Thema machen würde, sank ich ins Bett zurück und schlief ein. Wehe über die Wirkungen des Tees und der Aufregung! Denn was sonst konnte schuld daran sein, daß ich solch eine fürchterliche Nacht verbrachte? Ich entsinne mich keiner anderen, die nur im geringsten mit dieser zu vergleichen wäre, seit ich fähig war zu leiden.
Ich fing an zu träumen, fast bevor ich aufhörte zu wissen, wo ich war. Ich glaubte, es sei Morgen und ich hätte mich, mit Joseph als Führer, auf den Weg nach Hause gemacht. Der Schnee lag ellenhoch auf unserer Straße, und während wir dahinstapften, quälte mich mein Begleiter mit ständigen Vorwürfen, weil ich keinen Pilgerstab mitgenommen hätte, ohne den ich nie in das Haus gelangen werde; dabei schwang er prahlerisch einen plumpen Knüttel, den er, soviel ich verstand, als Pilgerstab bezeichnete. Einen Augenblick lang erschien es mir widersinnig, daß ich einer solchen Waffe bedürfen sollte, um in meine eigene Wohnung zu gelangen. Dann blitzte eine neue Vorstellung in mir auf: Ich ging gar nicht nach Hause; wir gingen über Land, um den berühmten Jabes Branderham über den Text ›Siebzigmal sieben‹ predigen zu hören. Entweder Joseph oder der Prediger oder ich hatte das ›erste vom einundsiebzigsten Mal‹ verbrochen und sollte an den Pranger gestellt und exkommuniziert werden.
Wir kamen zur Kapelle. In Wirklichkeit bin ich auf meinen Spaziergängen zwei- oder dreimal daran vorübergegangen; sie liegt in einer Senke zwischen zwei Bergen, einer hochgelegenen Senke bei einem Sumpf, dessen torfig feuchte Beschaffenheit die Eigentümlichkeit haben soll, die wenigen Leichname, die dort liegen, zu erhalten. Noch ist das Dach heil geblieben, aber da die Besoldung des Geistlichen nur zwanzig Pfund im Jahr beträgt und freie Wohnung in einem Haus mit zwei Zimmern, die Gefahr laufen, in Kürze zu einem einzigen zusammenzufallen, will kein Geistlicher die Obliegenheiten des Pastors übernehmen, um so weniger, als allgemein berichtet wird, daß seine Gemeinde ihn eher verhungern ließe, als seinen Lebensunterhalt auch nur durch einen Pfennig aus ihrer Tasche zu verbessern. In meinem Traum jedoch hatte Jabes eine vollzählige und andächtige Gemeinde. Und er predigte.
Großer Gott, diese Predigt! Sie bestand aus vierhundertneunzig Abschnitten, deren jeder völlig einer der üblichen Ansprachen von der Kanzel entsprach und eine besondere Sünde behandelte. Woher er sie alle nahm, weiß ich nicht. Er hatte seine eigene Art der Auslegung, und es schien wesentlich zu sein, daß sein Nächster bei jeder Gelegenheit mehrere Sünden beging. Sie waren von der seltsamsten Art: merkwürdige Vergehen, von denen ich vorher keine Ahnung gehabt hatte.
Oh, wie müde ich wurde! Wie ich mich krümmte und gähnte, einnickte und wieder aufschrak! Wie ich mich selbst zwickte und kniff, mir die Augen rieb, wie ich aufstand und mich wieder hinsetzte und Joseph anstieß, damit er mir Bescheid sagen sollte, wenn Jabes endlich zum Schluß käme. Ich war dazu verdammt, alles mit anzuhören. Schließlich gelangte er zum ›ersten vom einundsiebzigsten Mal‹. Bei diesem Punkt überkam mich eine plötzliche Erleuchtung: ich mußte aufstehen und Jabes Branderham als den Sünder brandmarken, dem kein Christ zu verzeihen braucht.
„Herr“, rief ich, „die ganze Zeit habe ich ohne Unterbrechung in diesen vier Wänden gesessen und habe die vierhundertneunzig Abschnitte Ihrer Predigt ertragen und verziehen. Siebenmal siebzigmal habe ich meinen Hut genommen und war drauf und dran, fortzugehen — siebenmal siebzigmal haben Sie mich albernerweise gezwungen, wieder niederzusitzen. Das vierhunderteinundneunzigste Mal ist zuviel. Leidensgefährten, packt ihn! Zerrt ihn herunter und reißt ihn in Fetzen, daß der Ort, der ihn kennt, ihn nicht mehr erkennen kann!“
„Du bist der Mann!“ schrie Jabes nach einer feierlichen Pause und beugte sich über die Brüstung. „Siebenmal siebzigmal hast du dein Gesicht zum Gähnen verzerrt, siebenmal siebzigmal habe ich mit meiner Seele Rat gepflogen. Siehe, das ist menschliche Schwäche; es soll vergeben sein! Das erste vom einundsiebzigsten Mal ist gekommen. Brüder, vollstreckt an ihm das Urteil, wie es geschrieben steht! So geschehe zur Ehre aller Seiner Heiligen!“ Nach diesen abschließenden Worten stürzte die ganze Gemeinde sich wie ein Mann mit erhobenen Hirtenstäben auf mich und umzingelte mich, und da ich keine Waffe zur Verteidigung hatte, rang ich mit Joseph, meinem nächsten und wildesten Angreifer, um die seine. Im Handgemenge der Massen kreuzten sich die Knüttel; nach mir gezielte Hiebe sausten auf fremde Schädel nieder, schließlich hallte die ganze Kapelle von Schlägen und Gegenschlägen wider. Jeder kämpfte gegen jeden, und Branderham, der auch nicht müßig bleiben wollte, bewies seinen Eifer durch prasselndes Getrampel auf dem Bretterboden der Kanzel, das so laut dröhnte, daß es mich zu meiner unaussprechlichen Erleichterung weckte. Und was hatte mir den fürchterlichen Lärm vorgegaukelt? Was hatte bei dem Spektakel Jabes’ Rolle gespielt? Nur der Zweig einer Föhre, der im Sturm manchmal gegen das Fenster schlug und dessen trockene Zapfen seltsam rasselten! Argwöhnisch lauschte ich einen Augenblick, entdeckte den Störenfried und drehte mich auf die andere Seite, schlummerte ein und träumte wieder, wenn möglich noch unangenehmer als vorher.
Dieses Mal war ich mir bewußt, in dem Eichenkabinett zu liegen, und vernahm deutlich den tobenden Wind und das Schneetreiben draußen. Ich hörte auch den Föhrenzweig mit seinem aufreizenden Geräusch, das ich nun der richtigen Ursache zuschrieb; aber es ärgerte mich so sehr, daß ich beschloß, es zum Schweigen zu bringen; ich glaubte aufzustehen und mich zu bemühen, den Fensterflügel loszuhaken. Der Haken war in der Krampe festgelötet, ein Umstand, den ich im Wachen bemerkt, aber wieder vergessen hatte. „Das muß trotzdem aufhören!“ murmelte ich, stieß meine Faust durch die Scheibe und streckte den Arm aus, um den lästigen Zweig zu packen. Statt dessen schlossen sich meine Finger um eine kleine, eiskalte Hand! Das schreckhafte Entsetzen eines Alpdruckes überfiel mich. Ich versuchte meinen Arm freizubekommen, aber die Hand klammerte sich daran fest, und eine todtraurige Stimme schluchzte: „Laß mich hinein, laß mich hinein!“ „Wer bist du?“ fragte ich und versuchte mit Macht, mich zu befreien. „Catherine Linton“, antwortete es bebend. (Warum dachte ich nur an Linton? Ich hatte zwanzigmal öfter Earnshaw gelesen als Linton.) „Ich bin wieder da, ich hatte mich im Moor verirrt!“ Während es sprach, nahm ich dunkel das Gesicht eines Kindes wahr, das durch das Fenster blickte. Das Entsetzen machte mich grausam: Da es zwecklos schien, das Geschöpf abzuschütteln, zog ich sein Handgelenk an das zerbrochene Glas und rieb es hin und her, bis das Blut herunterrann und die Bettücher befleckte. Und immer noch wehklagte es: „Laß mich hinein!“, hielt mich mit zähem Griff fest und machte mich fast wahnsinnig vor Angst. „Wie kann ich denn!“ sagte ich endlich. „Laß mich los, wenn ich dich einlassen soll!“ Die Finger lockerten sich, ich zog meinen Arm mit einem Ruck durch das Loch zurück, türmte hastig die Bücher zu einer Pyramide davor auf und hielt mir die Ohren zu, um das klägliche Flehen nicht mehr zu hören. So hielt ich wohl eine Viertelstunde lang aus; doch kaum lauschte ich wieder, so war das traurige Weinen wieder da, das ohne Pause wimmerte. „Geh weg“, rief ich, „ich werde dich nie hereinlassen, und wenn du zwanzig Jahre bettelst!“
„Es sind zwanzig Jahre“, klagte die Stimme, „zwanzig Jahre! Ich bin seit zwanzig Jahren heimatlos!“ Jetzt war draußen ein schwaches Kratzen zu vernehmen, und der Bücherstapel bewegte sich, als wenn er mir entgegenstürzen wollte. Ich versuchte aufzuspringen, konnte aber kein Glied rühren und schrie in rasendem Entsetzen laut auf. Zu meiner Bestürzung entdeckte ich, daß der Schrei nicht geträumt war.
Hastige Schritte näherten sich meiner Zimmertür, jemand stieß sie mit kräftiger Hand auf, und ein Licht schimmerte durch die Öffnungen oben an meinem Bett. Ich saß noch schaudernd da und wischte mir den Schweiß von der Stirn, da schien der Eindringling zu zögern und murmelte etwas vor sich hin. Schließlich sagte er flüsternd, offenbar ohne eine Antwort zu erwarten: „Ist jemand hier?“
Ich hielt es für das beste, meine Anwesenheit zu bekennen, denn ich erkannte Heathcliffs Stimme und fürchtete, er würde weitersuchen, wenn ich mich ruhig verhielte. Deshalb wandte ich mich um und schob die Türen auseinander. Nie werde ich die Wirkung vergessen.
Heathcliff stand in Hemd und Hose an der Tür, eine Kerze tropfte über seine Finger, und sein Gesicht war so weiß wie die Wand hinter ihm. Das erste Knacken des Holzes durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag, das Licht flog weit weg aus seiner Hand, und seine Aufregung war so heftig, daß er kaum imstande war, die Kerze wieder aufzuheben.
„Es ist nur Ihr Gast, Mr. Heathcliff“, rief ich laut, denn ich wollte ihm die Demütigung ersparen, seine Feigheit noch länger zu offenbaren. „Ich hatte das Mißgeschick, im Schlaf zu schreien. Ein furchtbarer Alpdruck ängstigte mich. Es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe.“
„Hol Sie der Teufel, Mr. Lockwood! Ich wollte, Sie wären in der Hölle!“ rief mein Wirt und stellte die Kerze auf einen Stuhl, weil er merkte, daß er sie nicht ruhig halten konnte. „Und wer hat Sie in dieses Zimmer gewiesen?“ fuhr er fort, bohrte seine Nägel in die Handflächen und knirschte mit den Zähnen, um das Zucken seiner Kinnbacken zu unterdrücken. „Wer war das? Ich habe nicht übel Lust, ihn augenblicklich aus dem Hause zu jagen.“
„Es war Ihre Magd Zillah“, erwiderte ich, sprang aus dem Wandbett und suchte eilig meine Kleider zusammen. „Ich hätte nichts dagegen, wenn Sie es täten, Mr. Heathcliff; sie hat es reichlich verdient. Ich glaube, sie wollte auf meine Kosten wieder mal feststellen, daß es hier spukt. Das tut es! Es wimmelt hier von Gespenstern und Kobolden! Ich versichere Ihnen, Sie haben alle Ursache, den Raum zu verschließen. Niemand wird Ihnen für einen Schlummer in einer solchen Bude Dank wissen.“
„Was meinen Sie damit?“ fragte Heathcliff, „und was tun Sie da? Legen Sie sich nieder bis zum Morgen, da Sie nun doch einmal hier sind. Aber um Himmels willen, machen Sie nicht noch einmal solch schrecklichen Lärm; der wäre nicht zu entschuldigen, außer wenn Ihnen die Kehle durchgeschnitten würde!“
„Wenn die kleine Teufelin durch das Fenster hereingekommen wäre, so hätte sie mich wahrscheinlich erwürgt!“ entgegnete ich. „Ich denke nicht daran, die Verfolgungen Ihrer gastlichen Ahnen noch einmal zu erdulden. War nicht der hochwürdige Jabes Branderham mütterlicherseits mit Ihnen verwandt? Und dieser Racker, Catherine Linton, oder Earnshaw, oder wie sie hieß, muß ein Wechselbalg gewesen sein, das schlechte kleine Geschöpf! Sie hat mir erzählt, sie habe seit zwanzig Jahren keine Ruhe auf Erden gefunden; ohne Zweifel die gerechte Strafe für ihre Sünden in dieser Welt!“ Kaum hatte ich diese Worte herausgebracht, da erinnerte ich mich der Verbindung von Heathcliffs und Catherines Namen in dem Buch, das meinem Gedächtnis bis zu meinem Erwachen völlig entfallen war. Ich errötete über meine Unüberlegtheit, ließ mir jedoch nicht merken, daß ich mir einer Kränkung bewußt war, und fuhr hastig fort: „Tatsache ist, daß ich den ersten Teil der Nacht damit verbracht habe“ — hier brach ich wieder ab, denn ich hatte sagen wollen: ›in den alten Bänden dort zu lesen‹, aber das hätte meine Kenntnis ihres geschriebenen und gedruckten Inhalts offenbart, dahim fuhr ich, mich berichtigend, fort: „den Namen zu buchstabieren, der in den Fenstersims eingeritzt ist. Eine eintönige Beschäftigung, die mich einschläfern sollte, so wie Zählen oder…“
„Was soll das heißen, daß Sie so zu mir sprechen?“ donnerte Heathcliff in wilder Leidenschaft. „Wie… wie wagen Sie das, unter meinem Dach? — Allmächtiger! Er ist wahnsinnig, daß er so spricht!“ Und er schlug sich wie rasend vor die Stirn. Ich wußte nicht, ob ich diese Sprache übelnehmen oder in meiner Erklärung fortfahren sollte; aber er schien so vollkommen außer sich zu sein, daß ich von Mitleid ergriffen wurde und meine Träume weiter erzählte. Ich versicherte, daß ich den Namen Catherine Linton nie zuvor gehört, daß aber das wiederholte Lesen auf mich die Wirkung ausgeübt habe, daß er Gestalt annahm, als ich meine Vorstellungskraft nicht mehr in der Gewalt hatte. Heathcliff zog sich immer mehr in den Schatten des Bettes zurück, während ich sprach, und war, als er sich hinsetzte, fast dahinter verborgen. An seinen unregelmäßigen und unterbrochenen Atemzügen jedoch erkannte ich, daß er mit aller Macht versuchte, einen Ausbruch heftiger Gemütsbewegung niederzukämpfen. Ich wollte ihm nicht zeigen, daß ich seine Aufregung wahrnahm, und fuhr ziemlich geräuschvoll fort, mich anzuziehen, sah nach der Uhr und hielt ein Selbstgespräch über die Länge der Nacht: „Was, noch nicht drei Uhr? Ich hätte darauf geschworen, es wäre sechs. Die Zeit bleibt hier stehen; wir sind gewiß um acht zur Ruhe gegangen.“
„Im Winter um neun, und um vier stehen wir immer auf“, sagte mein Wirt, ein Stöhnen unterdrückend, und eine Bewegung seines Armschattens ließ mich ahnen, daß er eine Träne aus den Augen wischte. „Mr. Lockwood“, fügte er hinzu, „Sie können in mein Zimmer gehen; Sie würden unten so früh nur im Wege sein, und Ihr kindischer Angstschrei hat meinen Schlaf zum Teufel gejagt.“
„Meinen auch“, erwiderte ich. „Ich werde im Hof umhergehen, bis es dämmert, und dann werde ich verschwinden. Sie brauchen keine Sorge zu haben, daß ich meinen Besuch noch einmal wiederholen werde. Jetzt bin ich völlig davon geheilt, Geselligkeit zu suchen, sei es auf dem Lande oder in der Stadt. Ein verständiger Mensch sollte ausreichende Gesellschaft in sich selbst finden.“
„Höchst erfreuliche Gesellschaft!“ murmelte Heathcliff. „Nehmen Sie die Kerze und gehen Sie, wohin Sie wollen, ich komme gleich nach. Vermeiden Sie jedoch den Hof — die Hunde sind los — und das ›Haus‹; dort hält Juno Schildwache, und… nein, Sie können nur im Treppenhaus und in den Gängen hin und her gehen. Also fort jetzt! Ich komme in zwei Minuten!“
Ich gehorchte insofern, als ich das Zimmer verließ; dann aber blieb ich stehen, weil ich nicht wußte, wohin der schmale Korridor führte, und wurde der unfreiwillige Zeuge eines Ausbruchs von Aberglauben bei meinem Gutsherrn, der in auffallendem Gegensatz zu dem Wesen stand, das er sonst zur Schau trug. Er ging auf das Bett zu, stieß den Fensterflügel auf und brach dabei in leidenschaftliche Tränen aus. „Komm herein! Komm herein!“ schluchzte er. „Cathy, komm doch! Oh, komm noch einmal! Oh, mein Herzensliebling! Höre mich wenigstens dieses eine Mal!“ Das Gespenst zeigte sich so launisch, wie Gespenster eben sind: es gab kein Zeichen seines Daseins, aber der Schnee und der Wind wirbelten heftig herein, bis dorthin, wo ich stand, und bliesen das Licht aus.
Es lag so viel Pein in dem Schmerzensschrei, der diese Raserei begleitete, daß mein Mitleid seine Narrheit übersah und ich mich zurückzog, ärgerlich darüber, daß ich überhaupt gelauscht und meinen lächerlichen Alpdruck erzählt hatte, da dieser so unbeschreiblichen Schmerz hervorgerufen hatte, obwohl es über meine Begriffe ging, warum es geschah. Ich stieg vorsichtig in die unteren Regionen hinab und landete in der hinteren Küche, wo die Glut des Feuers, sorgfältig zusammengescharrt, es mir möglich machte, meine Kerze wieder anzuzünden. Nichts rührte sich, außer einer graugestreiften Katze, die aus der Asche gekrochen kam und mich mit einem kläglichen Miauen begrüßte.
Zwei zum Halbkreis geformte Bänke umschlossen fast den Herd; auf einer von ihnen streckte ich mich aus, und die Mieze sprang auf die andere. Wir waren beide eingeschlafen, ehe uns jemand in unserem Unterschlupf aufstöberte. Dann kam Joseph polternd eine Holzleiter herunter, die in einer Luke im Dach mündete, vermutlich der Aufstieg in seine Bodenkammer. Er warf einen finsteren Blick auf die kleine Flamme, die ich zu einem Flackern auf dem Rost angefacht hatte, stieß die Katze von ihrer erhöhten Lagerstätte, setzte sich auf den frei gewordenen Platz und machte sich daran, eine dreizöllige Pfeife mit Tabak zu stopfen. Meine Anwesenheit in seinem Heiligtum galt ihm augenscheinlich als Zudringlichkeit, viel zu schändlich, auch nur bemerkt zu werden. Schweigend nahm er die Pfeife zwischen die Lippen, verschränkte die Arme und paffte. Ich überließ ihn diesem Genuß ungestört; nachdem er das letzte Rauchwölkchen herausgezogen und einen tiefen Seufzer ausgestoßen hatte, stand er auf und verschwand ebenso ernsthaft, wie er gekommen war. Die Tür führte in das ›Haus‹, wo die Frauen bereits tätig waren. Zillah trieb mit einem riesigen Blasebalg funken-sprühende Flammen in den Schornstein hinauf, und Mrs. Heathcliff kniete am Kamin und las beim Feuerschein in einem Buch. Sie schützte ihre Augen mit der Hand vor der Ofenhitze und schien in ihre Beschäftigung versunken, die sie nur unterbrach, um die Magd zu schelten, wenn sie sie mit Funken übersprühte, oder um dann und wann einen Hund wegzustoßen, der gar zu vorwitzig in ihr Gesicht schnüffelte. Es überraschte mich, auch Heathcliff dort zu sehen. Er stand am Feuer, den Rücken mir zugedreht, und machte der armen Zillah gerade einen stürmischen Auftritt; sie unterbrach von Zeit zu Zeit ihre Arbeit, um einen Zipfel ihrer Schürze hochzunehmen und einen entrüsteten Laut auszustoßen.
„Und du, du nichtswürdiges…“, fuhr er gerade, als ich eintrat, auf seine Schwiegertochter los und benutzte ein Beiwort, so harmlos wie Gans oder Schaf, das gewöhnlich durch einen Gedankenstrich ersetzt wird, „treibst du wieder deine müßigen Possen? Die anderen verdienen ihren Unterhalt — du lebst von meiner Gnade! Laß den Unsinn sein und mach dich nützlich! Du sollst mir für die Plage büßen, dich ewig vor Augen zu haben. Hörst du, du verdammtes Frauenzimmer?“
„Ich werde meinen Unsinn lassen, weil du mich dazu zwingen kannst, wenn ich nicht will“, antwortete die junge Dame, klappte ihr Buch zu und warf es auf einen Stuhl. „Aber ich werde nur tun, was mir paßt, und wenn du dir die Seele aus dem Halse fluchst!“
Heathcliff hob die Hand, und die Sprecherin, augenscheinlich mit ihrer Wucht vertraut, brachte sich in sichere Entfernung. Ich hatte keine Lust, einen Kampf von Hund und Katze hier mit anzusehen, und trat rasch vor, als wollte ich an der Wärme des Feuers teilhaben und hätte keine Ahnung von dem unterbrochenen Streit. Sie bewiesen beide genug Geschmack, die Feindseligkeiten einzustellen. Heathcliff vergrub seine Fäuste, die Versuchung bekämpfend, in seinen Taschen, während Mrs. Heathcliff mit gekräuselten Lippen einem weit entfernten Sitz zusteuerte und dort, solange ich noch anwesend war, ihren Worten getreu starr wie eine Bildsäule verharrte. Ich blieb nicht mehr lange. Am Frühstück teilzunehmen, lehnte ich ab, und beim ersten Schein der Dämmerung suchte ich eine Gelegenheit, in die frische Luft zu entkommen, die jetzt klar und still und eisig kalt war.
Bevor ich das Ende des Gartens erreichte, rief mein Gutsherr hinter mir her, ich solle stehenbleiben, und bot mir an, mich übers Moor zu begleiten. Es war gut, daß er das tat, denn der ganze Bergrücken war ein einziges wogendes weißes Meer. Die Höhen und Senken entsprachen nicht mehr den Erhebungen und Senkungen des Bodens, viele Gruben waren bis zum Rande angefüllt, und ganze Reihen der Schutthalden von den Steinbrüchen waren aus dem Bild der Landschaft verschwunden, das ich mir nach meinem gestrigen Marsch im Geiste gemacht hatte. Ich hatte mir auf einer Seite der Straße eine Reihe in Abständen von sechs bis sieben Ellen hochkant stehender Steine gemerkt, die sich durch die ganze Ausdehnung der Einöde fortsetzte. Die Steine waren aufgerichtet und mit Kalk bestrichen, um im Dunkeln als Wegweiser zu dienen, selbst wenn ein Schneefall wie dieser den Unterschied zwischen dem tiefer liegenden Sumpf zu beiden Seiten und dem festeren Weg verwischen sollte. Jedoch außer hin und wieder auftauchenden schmutzigen Flecken waren alle Spuren ihres Vorhandenseins verschwunden, und mein Führer mußte mich häufig durch Zurufe nach rechts oder links weisen, während ich mir einbildete, genau den Windungen der Straße zu folgen. Wir sprachen wenig miteinander. Am Parktor von Trushcross Grange machte er halt und sagte, dort könnte ich mich nicht mehr verirren. Unser Abschied beschränkte sich auf eine hastige Verbeugung, dann ging ich, auf mich selbst angewiesen, los, denn die Pförtnerwohnung ist noch nicht verpachtet. Die Entfernung vom Tor bis zum Gehöft beträgt zwei Meilen; ich glaube, bei mir wurden vier daraus, weil ich mich zwischen den Bäumen nicht zurechtfand und manchmal bis zum Hals im Schnee versank, eine Lage, die nur der nachempfinden kann, der so etwas durchgemacht hat. Auf alle Fälle — wie meine Irrfahrt auch verlief — schlug die Uhr zwölf, als ich das Haus betrat, und das entsprach genau einer Stunde für jede Meile des gewöhnlichen Weges von Wuthering Heights.
Mein Faktotum und ihre Trabanten stürzten zu meiner Begrüßung herbei und schrien durcheinander, sie hätten schon alle Hoffnung aufgegeben, mich wiederzusehen, sie hätten geglaubt, ich sei in der Nacht umgekommen, und hätten beratschlagt, wie die Suche nach meinen sterblichen Überresten aufgenommen werden sollte. Ich bat sie, sich zu beruhigen, da ich wieder da sei, und schleppte mich, bis ins Innerste erstarrt, die Treppe hinauf. Dort habe ich mich, nachdem ich trockene Kleider angezogen hatte und dreißig bis vierzig Minuten lang auf und ab gegangen war, um mein Blut wieder in rechten Gang zu bringen, in meine Studierstube geschleppt, schwach wie ein Kätzchen, beinahe zu schwach, mich an dem lustigen Feuer und dem dampfenden Kaffee zu erfreuen, den die Magd zu meiner Belebung bereitet hatte.