Читать книгу Vor dem großen Knall - Emma Vall - Страница 11
Die Zeltwache
Оглавление»Wo willst du schon wieder hin? Du bist doch gerade erst nach Hause gekommen.« Aisa musterte Svala über ihre Lesebrille hinweg. Ausnahmsweise saß sie vor dem Fernseher. Neben ihr stand eine leere Teetasse und auf dem Tisch lag eine achtlos hingeworfene Bananenschale.
»Nur den Schlafsack holen. Ich halte heute Nacht beim Zelt Wache.«
»Wache halten?« Aisa war entsetzt. »Mit fünfzehn!«
»Natürlich nicht allein«, sagte Svala. »Wir sind zu mehreren.« Sie sagte nicht, dass Malin, mit der sie Wache halten würde, genauso alt war wie sie.
»Außerdem schläft Katja in ihrem Wagen, also mach dir keine Sorgen.«
Das war eine glatte Lüge, denn Katja verbrachte die Nacht auf Tynningö, aber das brauchte Aisa ja nicht zu wissen. Svala fand, dass man Eltern gelegentlich vor der Realität bewahren musste.
»Das erlaube ich auf keinen Fall!«, brauste Aisa auf. »Du bleibst zu Hause. Du bist jetzt tagelang abends unterwegs gewesen.«
»Du meine Güte, wir proben ja schließlich auch. Da kommt man nach einer ewig langen Probe abends nach Hause und du schreist nur«, sagte Svala.
Auf Aisas Wangen hatten sich vor Ärger kleine rote Flecken gebildet.
»Ich ruf jetzt diese Katja an. Die ist ja völlig verantwortungslos. Wie lautet ihre Telefonnummer?«, sagte sie und hob den Hörer.
»Du rufst da nicht an und sie ist auch nicht verantwortungslos. Was ist bloß los mit dir? Spinnst du jetzt total?«, schrie Svala zurück. »Glaubst du, ich bin erst sieben und kann nicht auf mich selbst aufpassen? Was denkst du denn, was ich in dem Jahr gemacht hab, als du auf Island warst? Du kannst mir gar nichts verbieten!«, rief sie und rannte nach draußen.
Auf dem gesamten Weg zum Margaretapark war Svala stinkwütend. So ein Mist, jetzt hatte sie nicht einmal etwas zu essen dabei, außer der Tüte Chips, die sie vorhin schon in ihre Umhängetasche gestopft hatte.
Svala ging langsamer und ließ sich von dem frischen Wind abkühlen. Aisa war bestimmt nur deshalb sauer, weil sie sich einsam fühlte, aber Svala war kein Schmusekissen, das man nach Belieben hervorkramen oder wegräumen konnte.
Es würde bestimmt Spaß machen, mit Malin aus der Parallelklasse Wache zu halten. Sie sollten in der Nacht abwechselnd um das Zelt herumgehen, um sicherzustellen, dass nichts passierte. »Höchstwahrscheinlich bleibt es ruhig«, hatte Katja gesagt. »Wenn die Ton- und Lichtanlagen geliefert werden, wird es schlimmer, wegen der Diebstahlgefahr.«
Svala dachte an den Sprayer, beschloss dann aber, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen.
Die Chipstüte war fast leer. Svala fühlte sich pappsatt. Hätte sie sich bloß lieber Obst mitgebracht! Ihre Bücher hatte sie fast gar nicht aufgeschlagen. Morgen stand in Französisch und Englisch ein Test an und sie würde nur wenige Stunden Schlaf bekommen.
Malin war bereits eingeschlafen. Erst um drei würde sie Svala ablösen. Bis dahin dauerte es noch zwei Stunden, wenn Svala sich überhaupt so lange wach halten konnte. Die Kälte kroch ihr die Beine hoch und sie fror trotz ihres dicken Islandpullis, den sie zur großen Enttäuschung ihrer Mutter sonst nie trug. Obwohl der Mai schon gekommen war, herrschte noch eisige Kälte.
Svala sollte eigentlich einen Kontrollgang ums Zelt machen, aber das ungemütliche Wetter schreckte sie ab. Der Wind heulte um den Zirkuswagen, in dem sie Wache hielten. Sie hörte, wie der Sturm an der Zeltplane rüttelte. Aber konnte sie sicher sein, dass es wirklich nur der Wind war? Malin schnarchte leise. Svala beobachtete sie und fühlte sich einsam.
Als Malin sich schlafen legte, hatte Svala das Licht im Wagen gelöscht, weniger Malin als sich selbst zuliebe. Aus dem Dunkel nach draußen zu schauen gab ihr ein größeres Gefühl von Sicherheit, als wenn sie allein im dunklen Park hinter einem erleuchteten Fenster saß. Svala verdrängte den Gedanken, dass dort draußen jemand stehen könnte, der sie beobachtete.
Obwohl es abends inzwischen länger hell blieb, waren die Nächte immer noch stockfinster. Svala versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Eine einsame Laterne an der Spitze des Zeltdachs verbreitete einen traurigen, einsamen Lichtschein. Plötzlich schreckte Svala auf. Im Licht begannen dicke Schneeflocken zu tanzen und bald schneite es heftig. Der Schnee wirbelte durch die Luft. Als Svala die Tür ein Stückchen öffnete, stoben ihr die Schneeflocken entgegen. Wenn sie noch länger unschlüssig in der Tür stehen blieb, würde sie Malin wecken.
Svala schnappte sich die Taschenlampe und zog die Schultern hoch, damit ihr der Schnee nicht in den Ausschnitt fiel. Geduckt lief sie zum Zelt, das durch den Schnee die Farbe wechselte. Seine blauen und roten Streifen verschwanden unter einer weißen, feuchten Schicht.
Ob das Zelt wohl so viel Schnee aushielt? Svala war unsicher und überlegte, ob sie zum Wagen zurückkehren und Katja anrufen sollte. Aber sie wollte Katja nicht unnötig stören, wenn sie sich schon ausnahmsweise freigenommen hatte. Im Mai würde der Schnee wohl kaum endlos lange fallen, oder? Svala beschloss, wie geplant eine Runde um das Zelt zu drehen und abzuwarten, ob das Schneegestöber aufhörte.
Als sie den Lichtkegel, der über den Zelteingang fiel, hinter sich gelassen hatte, schaltete Svala die Taschenlampe an. Ihr Zirkuswagen war schon nicht mehr zu sehen, nur noch ihre Fußabdrücke im Schnee. Um sie herum war es völlig still. Svala stellte fest, dass es gar nicht so schlimm war, allein eine Wachrunde zu drehen. Sie wollte noch schnell einen letzten Blick ins Zelt werfen, bevor sie sich endlich in ihre Schulbücher vertiefen würde. Der Schnee und die Kälte hatten ihre Müdigkeit vertrieben.
Der kleine Lichtkegel der Taschenlampe suchte das Innere des großen Zeltes ab, in dem sich in nur wenigen Wochen Hunderte begeisterte Zuschauer tummeln würden und hoffentlich auch die erste Sommerwärme. Bei den Proben an den vergangenen Abenden hatte sich die unbarmherzige Kälte bei allen Mitgliedern der Theatergruppe durch die dicken Kleiderschichten gefressen.
Jetzt bei Nacht wirkte das Zelt so leer und verlassen. Niemand rief Anweisungen und dirigierte die Teilnehmer, es gab weder Musik noch Tanz und Gesang.
Svala fröstelte. Der Wind ruckelte und zerrte hinter ihr im Zelteingang. Sie streckte sich und gähnte gerade ausgiebig, als das Licht der Taschenlampe zu flackern anfing. Mist, die Batterien! Svala schüttelte die Lampe, die jetzt ganz ihren Geist aufgab. Svala wurde von der Finsternis verschluckt. Sie blieb stehen, horchte und ihr wurde immer mulmiger zumute. Im Dunkeln fühlte sie sich überhaupt nicht mehr sicher und lief deshalb schnell zurück zum Zirkuswagen. Dabei hatte sie das Gefühl, jemand wäre hinter ihr, aber jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, war es leer hinter ihr. Plötzlich rutschte sie auf einer glatten Stelle aus und fiel der Länge nach hin.
»Verdammter Mist!«
Svala rappelte sich hoch und versuchte sich den Schnee, der sich auf ihren Kleidern bereits in schmutziges Wasser verwandelt hatte, abzuklopfen. Ihr nasser Wollpulli fühlte sich an, als würde er eine Tonne wiegen, und wenn sie sich bewegte, schlackerte er hin und her. Sie sah sich gehetzt um.
Immerhin funktionierte die Taschenlampe jetzt wieder. Svala atmete aus. Doch dann fiel ihr Blick auf die Spuren im Schnee. Außer ihren eigenen Schuhabdrücken entdeckte sie noch andere. Frische.