Читать книгу Vor dem großen Knall - Emma Vall - Страница 7
Graffiti auf dem Zirkuswagen
ОглавлениеAm nächsten Tag ging Svala direkt nach der Schule in den Park. Es war kühl, aber sonnig. Katja hatte sich in ihren alten Gartenstuhl zurückgelehnt und faulenzte. Doch nur auf den ersten Blick. Zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet, während sie verärgert im Textbuch blätterte.
Nach dem Inferno am Vorabend, als fünfzig Personen zur Probe erschienen waren, war es im Park ruhig. Von der Schule waren allerdings nur wenige Leute gekommen. Svala hatte bei dieser Gelegenheit eine ganz neue Katja kennengelernt. Ruhig und bestimmt hatte sie das Kommando übernommen, und sobald sie ihre Stimme nur ein klein wenig erhob, hatten alle zugehört. An diesem Abend sollten sie zu verschiedenen Themen improvisieren.
Svala hatte die meiste Zeit über am Rand gesessen und zugeschaut. Sie wäre zwar gern dabei gewesen, aber sie wusste auch, dass sie sich komisch vorgekommen wäre. Die eine Svala wollte auf der Tribüne sitzen bleiben und kritische Beobachterin sein, während die andere Svala liebend gern auf der Bühne improvisiert und eine lebende Statue oder was auch immer verkörpert hätte.
Svala fühlte sich oft wie zwei verschiedene Personen. Eine, die beobachtete und registrierte, und eine andere, die eine Sache in Angriff nahm und dabei sein wollte. Allzu oft siegte die Zuschauerin. So wie gestern Abend. Svala hatte für die anderen immer eine Ausrede parat, warum sie lieber am Rand saß – aber sich selber konnte sie nur schwer anlügen.
Svala setzte sich auf die Treppe zum Zirkuswagen und wartete darauf, dass Katja das Gespräch eröffnete.
»Diese verdammten Kids«, sagte Katja unvermittelt und seufzte.
»Was ist denn los?«, fragte Svala vorsichtig.
»Komm mal mit.«
Katja sprang auf und zog Svala hinter sich her zu dem Zirkuswagen, der am äußersten Ende der Reihe stand und allmählich zum Schminkwagen umfunktioniert werden sollte. Über seine gesamte Rückseite stand mit großen schwarzen Buchstaben: Hier fögln Nutten und Schwuhle. Das Ganze war mit einem Tag signiert, den Svala noch nie gesehen hatte.
Der Wagen hatte gerade erst einen frischen Anstrich in einer fröhlichen roten Farbe bekommen. Und jetzt leuchteten ihnen die Worte in der schwarzen Schrift entgegen.
»Soll ich probieren, ob es abgeht?«, fragte Svala.
»Lass es uns zusammen versuchen.«
Schweigend schrubbten sie mit diversen Chemikalien, ohne dass die Farbe verschwand. Stattdessen sah nun alles noch schlimmer aus.
»Immerhin haben sie den Wagen nicht abgefackelt, wie sie es mit der Turnhalle versucht haben«, sagte Svala.
Katja verwuschelte ihr liebevoll das Haar.
»Das nenn ich positives Denken.« Dann wurde sie ernst. »Wir müssen es wegschleifen. Ich hab letzte Nacht keinen Ton gehört, der Täter muss verdammt still gewesen sein.«
»So was rufen uns die Typen aus Dalen nach«, sagte Svala schließlich. »Schwule Sau, Schwedennutte und solche Sachen.«
»Und das lasst ihr euch gefallen?« Katja rümpfte die Nase und Svala zuckte mit den Schultern.
»Was können wir denn machen?«
»Ich muss mehr Kids aus Dalen einbeziehen und nicht nur diejenigen aus dem Schulprojekt. Ist doch klar, dass sie sich ausgegrenzt fühlen. Eigentlich hätte ich das Zelt mitten in Dalen aufbauen sollen. Ich hab eine Gruppe von dort gesehen, die supergut tanzen kann. Wenn ich die bloß mit ins Boot holen könnte.« Katja sah Svala nachdenklich an.
»Zwischen den Leuten aus Dalen und uns aus Enskede hat es immer gekracht. Mein Bruder Pétur hat ständig was auf die Fresse gekriegt, als er hier gewohnt hat. Er ist andauernd verprügelt nach Hause gekommen. Ich pass immer auf, wenn ich spät noch unterwegs bin.«
»Rivalität und Angst, genau wie in ›Romeo und Julia‹. Dass dieses Drama sich ständig wiederholt, auch nach Hunderten von Jahren noch.« Katja lächelte traurig, bevor sie deklamierte:
»Zwei Häuser in Verona, würdevoll,
Wohin als Szene unser Spiel euch bannt,
Erwecken neuen Streit aus altem Groll,
Und Bürgerblut befleckt die Bürgerhand.
Das ist aus dem Prolog zu ›Romeo und Julia‹«, erklärte sie.
»Ich weiß, es hört sich schrecklich an, wenn ich so rede«, sagte Svala schnell. »Wo ich auf antirassistische Demos gehe und meine Mama selber eingewandert ist. Aber das Sexgerede von diesen Typen nervt total. Sie sind überhaupt nicht so wie Ervin aus Kroatien, der Freund von meinem Bruder.«
»Glaubst du nicht, dass sie sich in deiner Schule außen vor fühlen? Du findest ja selbst die Stimmung da nicht so toll«, sagte Katja. »Was denkst du, wie es für sie ist?«
Mit einer Schleifmaschine schafften sie es schließlich, die Graffitischrift zu entfernen, allerdings ging dabei der Anstrich vom Wagen gleich mit runter.
»Bewachst du abends den Platz?«, fragte Svala.
»Ich wohne doch sowieso in einem der Wagen. Aber bevor noch öfter solche ärgerlichen Sachen passieren, sollten wir nachts wohl wirklich Wachen einteilen, wenn jetzt die Proben anfangen. Wir machen einen Plan, wer wann zuständig ist. Bist du dabei?«
Die Frage munterte Svala auf. Ihr erster Reflex war allerdings der sonderbare Gedanke: Ich frag mal meine Mutter. Doch sie schluckte die Worte hinunter und sagte stattdessen: »Ja, klar. Wann du willst.«
Katja hob die Hand und winkte jemandem zu. Der süße langhaarige Junge, den Svala am Vortag gesehen hatte, kam über den schmalen Weg vom Handelsvägen auf sie zu.
»Hallo, Petter. Gut, dass du kommst. Da können wir gleich über die Beleuchtung sprechen. Kennt ihr euch?«, fragte Katja.
»Svala.« Svala streckte ihre Hand aus. Er warf ihr einen kurzen Blick zu und lächelte. Aber er schien sie nicht wirklich wahrzunehmen, er war einfach nur freundlich.
»Hallo. Gehörst du zum Ensemble?«
»Sie hilft mir«, sagte Katja. »Aber vielleicht willst du ja auch auf der Bühne stehen?« Sie sah Svala aufmerksam an.
»Vielleicht. Gestern hatte ich das Gefühl, es könnte Spaß machen, aber nur als eine in der Menge.«
»Klar«, sagte Katja und prustete los. »Ich wollte dir auch nicht gleich die Rolle der Julia geben.«
»Linn ist bestimmt total super als Julia«, sagte Petter mit einem träumerischen Tonfall. »Sie sieht echt toll aus.«
Katja versetzte ihm mit der Spitze ihres Stiefels einen Tritt.
»Keine Chance. Sie ist seit Monaten fest mit Felix zusammen«, sagte sie und zwinkerte Svala zu. Dann schnappte sie ihren Ordner und ging zum Zelt.
»Wir proben heute Abend um sieben. Komm auf alle Fälle vorbei!«, rief sie Svala über ihre Schulter zu, bevor sie mit Petter verschwand.
Wieso eigentlich nicht? Warum sollte sie nicht einmal ausprobieren, Theater zu spielen? Lust dazu hatte sie schon lange. Es brauchte ja nicht gleich eine Sprechrolle zu sein.
Svala schlenderte langsam nach Hause, wo sie sich mit ihren Schulbüchern in die Sofaecke sinken ließ. Ihre Mutter benutzte diesen Raum als Schlafzimmer, Wohnzimmer und Atelier, daher hing ein schwacher Geruch von Terpentin in der Luft. Auch wenn Svala nicht kapierte, wie Aisa in den Farbdünsten schlafen konnte, schien ihre Mutter glücklich zu sein, dass sie bis in die Nacht hinein malen konnte. Manchmal, wenn Svala den Fernseher abgeschaltet hatte und ins Bett gegangen war, legte Aisa eine CD mit gregorianischem Chorgesang auf und stellte sich an die Staffelei. Es war schon vorgekommen, dass sie immer noch malte, wenn Svala morgens aufstand. Dann guckte Aisa nur geistesabwesend hoch und murmelte etwas von Frühstück.
Gelangweilt nahm Svala das Erdkundebuch und fing an, sich die afrikanischen Staaten mit ihren Hauptstädten einzuprägen. Algerien, Togo, Elfenbeinküste, Angola, Südafrika. Das Auswendiglernen fiel ihr leicht, weshalb die Namen schnell saßen, jedenfalls für den Test, den sie morgen ablegen musste.
»Idioten!«, brüllte Aisa und warf sich ins Sofa. Svala war so ins Lernen vertieft gewesen, dass sie nicht einmal bemerkt hatte, wie Aisa nach Hause gekommen war.
»Pass auf meine Papiere auf.« Svala versuchte ihre Sofaecke gegen ihre empörte Mutter zu verteidigen.
»Abgelehnt! Kannst du dir vorstellen, dass sie meine drei Bilder ›Unrasiert aus dem Dunkel der Fußmatte‹ nicht nehmen wollen?« Aisa zeigte auf den Brief, den sie in der Hand hielt.
Svala wartete darauf, dass Aisa den Brief vor Wut in Fetzen riss. Stattdessen las ihre Mutter vor, welche Bilder in die Sommerausstellung des Kunstsalons aufgenommen würden – an die hundert Stück hatte man ausgewählt.
»Das war ein Riesenfehler von ihnen«, sagte Aisa.
Dann lachte sie, als wäre ihr ein genialer Einfall gekommen, und streichelte zärtlich den Brief.
»Mein Triptychon soll in einer eigenen Ausstellung strahlen. Und diesen Brief werde ich dann auf die Rückseite kleben. Was lernst du da übrigens?«
»Erdkunde. Es geht um Afrika.«
»Lass mal sehen.« Aisa nahm ihr die Zettel mit den Übungsaufgaben aus der Hand.
»Spinnt der, euer Lehrer? Sollt ihr das alles völlig ohne Zusammenhang lernen? Und warum bitte schön sehen die Länder so aus?« Sie deutete aufgebracht auf die schnurgeraden Staatsgrenzen.
»Hat der Lehrer kein Wort zum Kolonialismus gesagt? Wie die reichen Länder Afrika ausgesaugt haben? Die EU-Länder, die heute eine Festung um ihre zusammengeraubten Reichtümer angelegt haben? Ihr könnt doch nicht einfach nur Fakten nachbrabbeln, ohne den Zusammenhang zu verstehen.«
Aisa kochte vor Wut und wollte den Erdkundelehrer sofort anrufen.
»Hör auf, Pétur hatte ihn auch in der Neunten und da hat er dieselben Tests geschrieben. Glaubst du, du kannst mit deinem Anruf irgendwas ändern?«
Svala zog wütend die Augenbrauen zusammen. Wenn Aisa ihn anrief, würde ihr Erdkundelehrer sauer werden. Inzwischen konnte sie immerhin die Namen aller Länder und die meisten Hauptstädte, auch wenn sie keine Ahnung über ihre Regierungsformen, ihre Traditionen oder Kulturen hatte.
»Diese Schule!«, sagte Aisa mit einem resignierten Seufzer. »Hoffentlich finden wir nach diesem sinnlosen Unterricht ein Gymnasium, das Wert auf Bildung legt und auf die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen.«
Aisa erhob sich ungeduldig vom Sofa.
»Ich ruf in der Buchhandlung an. Jetzt soll Ulla die Chance bekommen, den Bewohnern von Enskede außer ihren Büchern auch noch echten Kunstgenuss zu bieten.«
Svala malte sich aus, wie die drei Kunstwerke im Schaufenster von Ullas Laden hingen und allen Passanten ins Auge fielen. Sie wusste nicht recht, ob sie es peinlich finden sollte oder witzig. Sie wusste nur, dass ihre Mutter es garantiert schaffen würde, Ulla zu überreden, dass sie ihre neueste Werkfolge in der Buchhandlung würde ausstellen können – eine alte, abgewetzte Fußmatte, die Aisa zerschnitten und auf drei Bilder mit behaarten Frauen verteilt hatte. Das Ganze war unbeschreiblich und nicht gerade Aisas schönstes Kunstwerk. Trotzdem war Svala stolz, dass sie eine Mutter hatte, die sich etwas traute.
Allerdings machte Aisa, seit sie von ihrer Auszeit auf Island zurückgekehrt war, ein total übertriebenes Theater um ihre Projekte. Svala ging das auf die Nerven, und manchmal dachte sie, dass sie und Pétur es eigentlich richtig gut gehabt hatten, als sie noch alleine wohnten.