Читать книгу Mandura - Die Anfänge I - Enn Bolda - Страница 6

Jäger

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Wieder nahm Mara den feuchtkalten, dunklen Gang zurück zur Halle, noch düsterer, da der Tag sich seinem Ende entgegen neigte. Keine sonderlich kluge Idee, doch ihr war erneut schwindelig, das Dröhnen in ihrem Kopf übermächtig, und so wollte sie eine Weile für sich sein.

Und plötzlich stand Ludeau vor ihr, packte sie an den Schultern und drückte sie rüde gegen die Wand. „Ich habe dich gewarnt, Rotschopf, oder etwa nicht? Und was tust du? Rennst zu diesem dreckigen Barbaren, sprichst den Kerl einfach an! Glaubst du etwa, so verhält sich eine anständige Frau unseres Volkes, glaubst du das?! Antworte mir!“

„Aber ich …“

Er schlug ihr so hart ins Gesicht, dass ihr Kopf gegen die Wand prallte. „Widersprich mir nicht! Und woher weißt du überhaupt, wie man Verwundete versorgt?! Das ist Aufgabe der Bediensteten! Das wird dir noch sehr leid tun, das versichere ich dir!“

„Ach, und was willst du tun, mich wieder mal verprügeln? Oder was?“ Sie sah ihn verächtlich an und Ludeau riss erneut die Hand hoch.

„Ihr werdet das Mädchen nicht noch einmal schlagen!“

Ludeau fuhr herum, funkelte den blauäugigen Fremden, der drohend auf ihn zu kam, voller Hass an. „Wollt Ihr es mir etwa verbieten? Ich kann mit ihr machen, was ich will!“

„Nicht, solange ich hier bin. Lasst sie los!“ Die Stimme des Nordländers war leise, aber sehr bestimmt.

Ludeau ließ sie los und stürmte wütend den Gang entlang. Gegen einen wesentlich größeren Mann, der noch dazu bewaffnet war, hatte er keine Chance.

Mara rutschte zitternd an der Wand zu Boden, vergrub den Kopf in den Armen und begann zu weinen.

„Ist es sehr schlimm?“

Sie schaute schluchzend auf. Der Nordländer hockte vor ihr und betrachtete sie mitleidig.

„Er ist gestorben, er …“ Sie unterbrach sich. Offensichtlich hatte der Mann etwas anderes gemeint, denn er sah sie irritiert an.

„Der Wachmann, er ist tot. Ich weine seinetwegen, nicht Ludeaus wegen. Der kann mich nicht zum Weinen bringen. Er war so jung und er ist nicht einmal mehr aufgewacht, ich konnte nichts für ihn tun. Nur dasitzen und warten, dass er stirbt. Aber das ist Euch wahrscheinlich egal.“

„Nein, das ist es nicht. Es tut mir Leid, auch wenn Ihr mir das nicht glauben werdet.“ Er klang zumindest mitfühlend.

„Was macht es für einen Unterschied, ob ich Euch glaube? Davon wird er auch nicht wieder lebendig.“

Er musterte sie schweigend, stand auf und half ihr auf die Füße. Der Mann war wirklich sehr viel größer als sie.

„Ihr solltet vorsichtig sein, Herr, Ludeau wird sich an Euch rächen, Euch töten wollen. Was …“ Verwirrt hielt sie inne. „Warum seht Ihr mich so an?“

„Ich wundere mich. Wieso tut Ihr das?“

„Euch warnen? Ihr habt mir doch nichts getan, im Gegenteil, und … Ich verabscheue es, wenn Menschen getötet werden. Ihr …“

Diese Augen! Sie fühlte sich ihm ausgeliefert, vollkommen hilflos, und das Merkwürdige war, sie fand es angenehm. Für einen Moment vergaß sie den toten Wachmann, die Verletzten, das Blut, vergaß, dass ihr schwindlig war, ihr Kopf entsetzlich weh tat und sie in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. Wollte für den Rest ihres Lebens hier stehen, nichts mehr denken und nur noch in diese unwahrscheinlich blauen Augen sehen.

Sanft strich er ihr mit der Hand über die Wange, fuhr mit dem Daumen den Umriss ihrer Lippen nach, und sie schloss die Augen. Als Mara seine Lippen auf ihren Schultern, ihrem Hals spürte, hatte sie das Gefühl, als müsste sie sterben, konnte sich nicht wehren, wollte sich nicht wehren. Er zog sie an sich, seine Hände wanderten über ihren Körper.

Aufstöhnend schob sie ihn zurück. „Nicht, Ihr dürft das nicht tun! Wenn nun jemand kommt?“

„Heißt das, Ihr hättet nichts dagegen, wenn wir allein wären und niemand könnte kommen?“ Sein Lächeln gefiel ihr.

„Nein, ich … Ihr werdet nicht mit mir allein sein, ganz sicher nicht! Und jetzt lasst mich los!“

Zögernd ließ er sie los. Mara lehnte mit schlotternden Gliedern an der Wand; sie war müde, verwirrt und vor lauter Kopfschmerz und Schwindel konnte sie nicht mehr klar denken.

„Ist alles in Ordnung mit Euch?“

„Nein, es ist gar nichts in Ordnung! Nichts! Könnt Ihr mich nicht in Ruhe lassen?“ Sie sollte nicht schreien, er war doch nur freundlich.

„Ungern. Wo sind Eure Gemächer?“

Sie starrte ihn fassungslos an. „Meine was?“

„Eure Gemächer, Euer Zimmer, der Ort, wo Ihr schlaft. Ich bringe Euch hin.“

„Aber …“, abwehrend schüttelte sie den Kopf. „Das dürft Ihr nicht! Versteht Ihr nicht, Ihr …“

„Natürlich darf ich, wer sollte mir etwas verbieten? Und da Ihr meine Gefangene seid, gewissermaßen, gibt es auch keinen Grund, Euch etwas vorzuwerfen, falls Ihr Euch darüber Gedanken macht. Also, wohin?“

Es war lächerlich, der Kerl hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er redete, er wusste nichts.

Er packte ihren Oberarm und zerrte sie, ungeachtet ihrer Widerworte, mit grimmiger Miene durch die Burg, so dass die Leute ihnen verwundert nachschauten, erschreckte die Frauen im Wohnraum, indem er wild hineinstürmte.

Doch er tat ihr nichts. Und verließ tatsächlich die Schlafkammer, als Mara ihn darum bat.

* * *

Reik hatte nicht vorgehabt, sich in die Streitereien dieser Leute einzumischen, er hatte auch ganz sicher nicht geplant, für dieses Mädchen Partei zu ergreifen. Und es doch getan.

Er konnte gar nicht anders, konnte einfach nicht zulassen, dass der verdammte Kerl sie erneut schlug. Dann hatte er sie geküsst, und das hatte ihm sehr, sehr gut gefallen. Sie gefiel ihm, trotz ihrer doch sehr biestigen, ja beleidigenden Art. Aber wie hätte er denn an ihrer Stelle reagiert, wenn sein Heim unerwartet angegriffen und erobert worden wäre, doch auch nicht gastfreundlicher.

Offensichtlich hatte sie jedoch nichts gegen seine Küsse und Zärtlichkeiten einzuwenden gehabt. Anfangs zumindest.

Er unterdrückte sein Grinsen und wies zwei Männer an, vor ihrer Tür Wache zu stehen, bevor er sich zu Bro begab. Sie hatte ihn schließlich vor diesem Kerl, Ludeau, gewarnt.

Vielleicht würde der Aufenthalt hier doch nicht ganz umsonst sein.

Sein Onkel war schlecht gelaunt, was Reik gut verstand; einer seiner Männer war tot, weil diese idiotischen Hinterwäldler sie sinn- und grundlos angefallen hatten. Und jetzt hatte er auch noch dieses heruntergekommene Gemäuer, diese halb verfallene Burg am Hals, in der es aus jeder Ecke stank.

Und die Frauen? Nicht eine hatte ihnen beim Reden auch nur ins Gesicht gesehen, sie waren so verängstigt gewesen, dass es ihn nicht gewundert hätte … Heulten und greinten und versteckten sich hintereinander, hinter ihren alten Männern. Dazu dieser niederträchtige Kerl, Ludeau, ließ seine Wut an einem jungen Mädchen aus. Er konnte sich lebhaft vorstellen …

Ächzend sank er in einen Sessel, fuhr sich über das Gesicht und erwiderte Bros irritierten Blick.

„Noch mehr Ärger?“

„Nein. Oder ja, ich weiß nicht. Nicht so wichtig. Irgendwelche guten Neuigkeiten?“ Dankend nahm er von Kjelben einen Becher mit reichlich schalem Bier entgegen, trank widerwillig einige Schlucke.

„Nun, ich sehe keinen zwingenden Grund, länger als ein, zwei Nächte hier zu bleiben.“ Bro lachte bellend. „Du hast die Frauen ja selbst erlebt.“

„Ja.“ Hatte er. „Die schmale, rothaarige …“

Kjelben meldete sich nach einem Blick auf Bro zu Wort. „Scheint ein bisschen reinlicher als der Rest, jedenfalls stinkt sie nicht. Und kennt sich recht gut mit der Heilkunde aus, aber das … hat die Kleine wohl von dieser Heilerin, Kora, gelernt. Der Kräuterfrau aus dem Dorf. Vielleicht solltet Ihr Euch mal mit der unterhalten, Hauptmann.“

Reik nickte. „Hab’ ich morgen gleich als erstes vor. Aber ich bezweifle ernsthaft, dass hier …“

Das Klopfen an der Tür unterbrach ihn, er erhob sich. Das Mädchen, von dem sie gerade geredet hatten, betrat aufgebracht den nur mäßig erleuchteten Raum. Sie trug noch immer das blutfleckige Gewand, das zerdrückt war, so als hätte sie darin geschlafen; vielleicht hatte sie kein anderes.

Und ging gleich wieder auf ihn los. „Was soll das? Warum habt Ihr zwei Wachen vor unserer Tür postiert? Oder soll ich besser sagen, vor meiner Tür? Denn ich gehe nicht davon aus, dass auch die anderen Frauen eine solche … Behandlung erfahren.“

„Kommt mit.“ Ungewollt klang seine Stimme barsch.

„Wohin?“ Sie zögerte.

„Kommt mit, ich will allein mit Euch reden“, forderte Reik sie auf.

„Aber ich nicht mit Euch. Euer Anführer versteht also doch unsere Sprache? Der andere auch, Kjelben, der Heiler?“

Doch er packte sie einfach am Arm und zog sie in den Nebenraum, sie hörte ja eh nicht zu, schloss die Tür. Es war stockdunkel.

„Ja, sie verstehen Eure Sprache, zumindest ein wenig. Deswegen wäre ich Euch auch sehr dankbar, wenn Ihr meinen Onkel nicht immer als Anführer bezeichnen würdet. Er heißt Bro Domallen und die korrekte Anrede für ihn lautet Eure Hoheit.“

„Kann ich ja nicht wissen, wir sind einander nich …“, unvermittelt schrie sie auf.

„Was ist denn? Habt Ihr …“

„Ich habe mir die Zehen gestoßen. Hier sollte es eine Tür zu einem kleinen Garten geben. Ich mag nicht, wenn es so dunkel ist.“

„Habt Ihr Angst vor der Dunkelheit oder vor mir?“ Die Frage konnte er sich nicht verkneifen.

„Ich bin bloß vorsichtig. Und ich fühle mich besser, wenn ich Euch sehen kann.“ Sie klang immer noch patzig, so als hätte sie ständig das Gefühl, sich verteidigen zu müssen.

Offenbar hatte sie aber die Tür gefunden, von der sie geredet hatte, stieß sie auf. Der Mond stand hoch am Himmel und erleuchtete hell das Viereck des verwahrlosten Gartens. Der Boden war sicherlich kalt unter ihren nackten Füßen. Er folgte ihr. „Würdet Ihr mir jetzt vielleicht erklären, was dieser Auftritt sollte?“

„Ich will keine Wachen vor meiner Tür stehen haben, das ist lächerlich.“

Verstand sie den Grund wirklich nicht? „Mir erscheint es angebracht. Ihr habt mich doch selbst vor diesem …“

„Ludeau“, half sie ihm

„Diesem Ludeau gewarnt, er würde sich rächen wollen. Ich kann auf mich aufpassen, aber Ihr …“

„Das ist meine Angelegenheit, ich möchte nicht, dass Ihr Euch einmischt. Ist Euch nicht klar, dass Ihr mich in Schwierigkeiten bringt? Sogar Anella fragte mich, wieso Ihr mich unbedingt in meine Kammer begleiten wolltet, und Anella ist meine Freundin. Ich will gar nicht wissen, was die anderen Frauen für Vermutungen anstellen.“

Ging es lediglich darum? „Lasst sie doch reden …“

„Ihr versteht nichts! Es ist vollkommen sinnlos, Euch irgendetwas erklären zu wollen. Ich möchte, dass die Wachen vor meiner Tür sofort verschwinden. Und ich erwarte, dass Ihr Euch von mir fern haltet, und wenn Ihr mich schon unbedingt ansprechen müsst, dann fasst mich gefälligst nicht an!“ Ihre Arroganz war erstaunlich. Grob.

„Nein. Ich werde die Wachen ganz sicher nicht abziehen. Ich werde nicht zulassen, dass er Euch noch einmal anfasst oder schlägt.“

„Glaubt Ihr wirklich, Ihr könntet mich beschützen? Wie wollt Ihr das machen, vielleicht für immer hierbleiben?“

Die Antwort war doch viel einfacher. „Nein, ich …“ Ihre blasse Haut schimmerte silbrig, ihre schmale, schlanke Gestalt schien seltsam unwirklich. „Ihr seid wunderschön im Mondlicht.“

Abwehrend schüttelte sie den Kopf. „Oh bitte, fangt jetzt nicht so an.“

Sie stolzierte ins Gebäude zurück und verschwand, begleitet von ihrem Wächter, genauso plötzlich, wie sie erschienen war.

Reik war sich nicht im Klaren, ob er über ihren Auftritt einfach lachen oder sich ärgern sollte. Das Mädchen war doch völlig … Sie nur eigenartig zu nennen wäre untertrieben.

* * *

Maras Kopfschmerzen waren zurückgekehrt, schlimmer als zuvor. Auf der Treppe wäre sie fast gestolpert, da ihr schwindelig wurde.

Lange konnte sie keine Ruhe finden und als sie endlich schlief, neben Anella in dem Bett in der engen Kammer, die sie sich teilten, quälten sie grauenhafte Alpträume.

Die Barbaren überfallen die Burg, töten alle. Ich flüchte mit Anella in den Wohnturm, aber als wir auf die Plattform gelangen, erkennen wir, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Mit dem Schwert in der Hand wende ich mich zum Treppenaufgang, um dem Feind entgegen zu treten.

Ein Mann tritt aus dem Aufgang, der Kerl mit den blauen Augen. Er ist über und über mit Blut beschmiert, trägt keinen Helm mehr. Anella klettert auf die Brüstung des Turmes und springt in die Tiefe, ohne ein Wort. Schreiend stürze ich mich auf den Fremden, das Schwert mit beiden Händen umklammernd, stoße es ihm bis zum Heft in den Leib. Und er lacht, sein Blut fließt heiß über meine Hände, besudelt mein goldfarbenes Kleid, immer mehr Blut, und er lacht noch immer. Ich schreie, kann nicht aufhören zu schreien, schreie immer weiter. „Nein!“

„Mara, wach auf! Es ist nur ein Traum, Mara.“

Sie klammerte sich wimmernd an Anella, schluchzte.

Die fremden Wachmänner waren mit gezogenen Schwertern ins Zimmer gestürmt, Anella schickte sie wieder hinaus. „Es ist alles gut, ich bin ja bei dir, ich halte dich. Ganz ruhig.“

Irgendwann schlief Mara wieder ein, träumte erneut; so viel Blut.

Es war noch dunkel, als sie am Morgen erwachte, kühl.

Vorsichtig stieg sie aus dem Bett, bemüht, Anella nicht zu wecken, nahm fröstelnd ihre Schuhe in die Hand und ging leise zur Tür.

„Mara, wo willst du denn schon hin? Es ist mitten in der Nacht, komm wieder ins Bett“, klang es von unter den Decken und Kissen her.

„Die Sonne geht bald auf. Ich muss den Heiltee für die verletzten Männer bereiten. Schlaf ruhig noch weiter, Anella, wir sehen uns beim Frühstück.“

Anella murmelte verschlafen eine Antwort und drehte sich auf die andere Seite.

Wie schon in der Nacht folgte ihr auch jetzt ein Wächter, als sie nach unten in die Küche ging, vermutlich war es sogar derselbe. Er war jung, ziemlich jung, hatte hellbraunes, wirres Haar und haselnussbraune Augen, ein hübsches Gesicht. Und er war groß, größer als die Männer, die sie kannte, aber das waren die Nordländer alle.

Niemand war in der Küche, dabei wimmelte es hier um diese Zeit üblicherweise nur so vor Köchinnen und Mägden, die das Frühstück vorbereiteten. Verwundert schürte Mara das Feuer im Herd, immerhin war die Glut noch nicht erloschen, drehte sich zu dem Wächter um und drückte ihm zwei Eimer in die Hand. „Wenn Ihr schon hier seid, könnt Ihr Euch auch nützlich machen. Ich brauche Wasser, versteht Ihr? Der Brunnen ist auf dem Hof.“

Sie wies ihm den Weg und bald darauf kam er mit vollen Eimern zurück. „Danke. Stellt die Eimer neben den Herd. Ja, genau, dahin.“

Nachdem sie einen großen Kessel mit Wasser aufgestellt hatte, begab sie sich in den Nebenraum, wo Kräuter und Gewürze gelagert wurden, um einen anregenden Tee für die Verwundeten vorzubereiten. Mischte sich anschließend selbst einige Kräuter; auch sie brauchte etwas zur Stärkung und gegen die anhaltenden Kopfschmerzen.

„Wisst Ihr, ich glaube nicht, dass Ihr überhaupt nicht versteht, was ich sage.“, versuchte sie ein Gespräch.

Der junge Wächter beobachtete sie aufmerksam, lächelte, wann immer sie zu ihm sah, sagte aber nichts.

Seufzend kehrte Mara in die Küche zurück und goss kochendes Wasser über die Kräuter; allein der Geruch war belebend. Sie stellte die Kanne auf den groben Holztisch in der Ecke neben der Hoftür, suchte Brot und einige Reste vom gestrigen Festessen hervor. „Bitte, setzt Euch. Ihr seht aus, als könntet Ihr ein Frühstück vertragen. Und der Tee vertreibt die Müdigkeit und die bösen Träume.“

Lächelnd griff der Bursche nach der gefüllten Schale, die sie ihm reichte, trank aber erst, nachdem Mara getrunken hatte. Glaubte er etwa, sie würde ihn vergiften wollen?

Missmutig starrte sie in ihre Schale, trank ihren Tee aus und kaute an einem Kanten Brot herum. Das war absurd, warum sollte sie so etwas tun? Er hatte ihr schließlich nichts getan. Gut, seine Leute hatten die Burg erobert, aber deshalb würde sie keinen Mord begehen, schon gar nicht mit Gift.

Ärgerlich goss sie den Tee für die Verletzten auf und nahm den großen, schweren Krug. Sie hatte zu tun, und wenn die Köchinnen nicht bald kamen, hatte sie noch viel mehr zu tun. Doch darüber konnte sie sich später Sorgen machen. Erst einmal brachte sie den verwundeten Wachmännern den Heiltee, wechselte, wenn notwendig, die Verbände.

Auf dem Weg zu den hinteren Räumen traf sie Kora. „Gut, dass Ihr da seid, Kora. Ich fürchtete schon, Ihr wäret gegangen. Wisst Ihr, wo die Köchinnen abgeblieben sind? Um diese Zeit sind sie doch längst bei der Arbeit?“

„Nun mal langsam, Kindchen. Ich sagte Euch doch, dass ich noch nicht gehe“, beruhigte ihre Lehrerin sie. „Und die Köchinnen und Mägde sind gerade mit mir durchs Tor gekommen, Ihr müsst Euch also keine Sorgen machen. Wolltet Ihr zu den verletzten Männern?“

„Ja, bei den Wachen war ich schon.“

„Gut, ich werde für Euch gehen. Und keine Widerrede, Ihr seht aus, als fallt Ihr gleich um, Liebes. Ihr geht jetzt in die Halle und frühstückt richtig, nicht nur ein Stück Brot und einen Schluck Kräutertee. Gestern habt Ihr doch sicher auch nichts gegessen, oder?“ Kora klang sehr streng.

„Nein, aber ich habe …“

„Mein liebes Kind, Ihr könnt mir nicht helfen, wenn Ihr vor Hunger und Müdigkeit ganz zittrige Knie habt. Also, geht bitte.“ Sie wandte sich an den jungen Wächter und redete in seiner Sprache eindringlich auf ihn ein. Der junge Mann nickte nur wortlos.

Mara schaute Kora erstaunt an. „Ihr könnt ihre Sprache? Aber …“

„Mara, Ihr wolltet doch gehen. Ich habe ihm lediglich gesagt, er soll aufpassen, dass Ihr genug esst.“

Mara verstand überhaupt nichts mehr. Kora konnte die Sprache der Fremden? Warum sprach sie dann erst jetzt mit ihnen? Oder …

Mit einem Mal kam ihr Koras Verhalten doch sehr fragwürdig vor. Ihr schien es, als weilte diese schon immer auf Ogarcha, aber das stimmte gar nicht. Kora war vor ungefähr zehn Jahren hergekommen, oder etwas früher, auf jeden Fall erst, nachdem Maras Mutter gestorben war. Und davor?

Mit nachdenklich gesenktem Kopf folgte sie dem jungen Burschen in die Halle, wo sich schon etliche versammelt hatten, zumeist Nordländer, aber auch ein paar Bewohner der Burg.

Mara begab zu den Frauen und setzte sich neben Anella, die sich flüsternd vorbeugte. „Du bist ihn immer noch nicht losgeworden, was? Der andere ist zu dem Fremden gegangen, du weißt schon, der mit den blauen Augen.“

Sie nickte nur.

„Er schaut die ganze Zeit zu dir herüber.“

„Wer, mein Leibwächter?“, fragte sie nach.

„Der auch. Nein, der Fremde.“

„Wenn es ihm Spaß macht.“ Lustlos stocherte sie auf dem Holzteller herum, sie hatte keinen Hunger. „Anella, hat Luca davon gesprochen, was die Fremden hier eigentlich wollen?“

„Nein, er hat nicht viel gesagt. Sie haben wohl lange mit dem Rat geredet, aber er weiß auch nicht, worüber. Es geht ihm heute schon viel besser, er sitzt bei den anderen Männern, ist das nicht schön?“

Mara verzog den Mund. „Ich wette, sie berichten ihm von den spannenden Ereignissen der letzten Nacht, die Frauen haben bestimmt alles haarklein weitergegeben.“

„Mara, wieso bist du so … so …“

Verärgert fuhr sie auf. „Wie bin ich denn, wütend? Meinst du das vielleicht, ja?!“

Verblüfft schaute Anella sie an. „Schrei doch nicht.“

„Warum denn nicht, ich bin wütend, ich will schreien! Und es ist mir so egal, ob ich damit auffalle, verstehst du?! Es ist mir egal, es ist mir vollkommen egal!“

„Bitte, setz dich wieder, beruhige dich doch!“ Ihre Freundin zog an ihrem Arm, damit sie sich wieder auf die Bank setzte, aber Mara riss sich los. „Lass mich, ich will mich nicht beruhigen!“

„Aber sie schauen schon alle her! Mara, du bringst dich wirklich in Schwierigkeiten, hör auf!“

„Ach nein, ich bringe mich in Schwierigkeiten, wer hätte das gedacht? Warum hast du das nicht früher gesagt, dann hätte ich besser aufpassen können?!“

Anella blickte sie flehend an, Tränen liefen ihr übers Gesicht.

Doch Mara konnte nicht aufhören. Als hätte sie eine unsichtbare Grenze überschritten, und jetzt gab es kein Zurück mehr. „Es tut mir ja sehr Leid, dir das sagen zu müssen, aber du hast nicht die geringste Vorstellung von meinen Schwierigkeiten! Und nicht ich bin es, die sich in Schwierigkeiten bringt, sondern diese verdammte Burg mit ihren … Bewohnern, mit ihren dummen Regeln. Hätte ich nicht heimlich und entgegen den Regeln bei Kora gelernt, wären einige Männer jetzt ziemlich schlecht dran, unter anderem dein Verlobter. Aber hat es mir irgendjemand gedankt? Nein, natürlich nicht, sie machen mir Vorwürfe! Ist das nicht reizend? Ich habe es satt, verstehst du, es reicht mir! Endgültig!“

Bevor Mara die Halle verließ, drehte sie sich noch einmal zu den tuschelnden, empört dreinblickenden Männern und Frauen um. „Das war alles, ihr könnt jetzt weiter essen. Ich habe euch nichts mehr zu sagen. Und jetzt entschuldigt mich bitte, ich habe rasende Kopfschmerzen und werde mich vermutlich gleich übergeben.“

* * *

Jula, Soldat in der manduranischen Armee, hatte kaum ein Wort von dem, was die junge Frau sagte, verstanden. Aber er hörte ihre Wut und Verzweiflung, ihre Resignation heraus; sie tat ihm Leid. Beinah kam es ihm so vor, als würde sie sich verabschieden, und das beunruhigte ihn zutiefst.

Sie war freundlich zu ihm gewesen und das hätte sie sicher nicht sein müssen. Schließlich musste sie in ihm einen Feind sehen, einen der verhassten, gefürchteten Nordländer. Ängstlich hatte sie aber nicht auf ihn gewirkt, oder so verhuscht wie viele der anderen Frauen, eher …

Er kam nicht darauf, folgte ihr mit den Augen. Sie schien die düstere, nicht sonderlich anheimelnde Halle, das spärliche Licht kam von irgendwo hinter der Empore oben, verlassen zu wollen. Eilig stand er auf.

Just in dem Moment, als ihr einer der Kerle, die sie gestern auf der Lichtung heimtückisch angegriffen hatten, drohend in den Weg trat. Sofort griff Jula zum Schwert, zog aber nicht, noch nicht.

Verstand nicht, was die zwei redeten, doch klang es nicht gut. Feindselig, voller Wut, Hass und, von Seiten des Mannes, Häme.

Jula hörte den fragenden Ton in der Stimme der jungen Frau, bevor diese sich zu ihm umwandte. Bevor der Kerl sie packte, ihr brutal den Arm verdrehte und gleichzeitig ein Messer an die Kehle drückte. Jula zog blank.

Einige Weiber kreischten, ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen sprang auf, kreidebleich im Gesicht. Er glaubte Domallens Blick auf sich zu spüren, sah Len auf der anderen Seite hinter dem Mistkerl, der die junge Frau bedrohte, seine beruhigenden Gesten. Zu weit entfernt.

Die junge Frau schrie nicht, wehrte sich auch nicht, sondern sprach zu dem Kerl. Welcher ihr nur stärker den Arm verdrehte, Jula hörte ihr unterdrücktes Stöhnen, und sie zurück in die Halle drängte. Einige Schritte vor Domallen, der wie alle anderen aufgestanden war und ihn wachsam beobachtete, blieb der Dreckskerl stehen, seine Worte klangen fordernd.

Domallen befahl Jula mit ruhiger, fester Stimme, das Schwert wegzustecken, und er gehorchte.

Wieder wurde geredet, wieder konnte er nur erahnen, worüber, konnte nicht eingreifen, während seine Wut auf diesen verdammten Kerl wuchs, der die junge Frau bedrohte, ihr weh tat, das sah er ihr doch an, und wenn … Unvermittelt stand Len neben ihm, berührte seine Schulter. „Immer schön ruhig, Junge. Überlass das dem Hauptmann.“

„Was? Aber …“

Der Kerl verdrehte einmal mehr den Arm der jungen Frau, so heftig, dass diese aufschrie, ihr Gesicht ganz blass. Doch bevor Jula reagieren konnte, hatte Len fest seine Schulter gepackt. „Der Idiot ist so dämlich, ihn zum Zweikampf zu fordern. Keine Frage, Domallen macht ihn fertig.“

„Die haben doch …“

Len, seit Jahren ein guter Freund, in vielerlei Hinsicht sein Vorbild, obwohl er ihm das nie gesagt hatte, zuckte die Achseln. „Hinterwäldler-Pack, du kannst ihnen nicht trauen.“

Tatsächlich brachte jemand das Schwert des Mannes. Doch der nahm es nicht auf. Meinte, noch mehr reden zu müssen. „Ihr nehmt meine Herausforderung an, Reik aus dem Haus Domallen?“

„Ja. Zweikampf bis zum Tod.“

Das hatte Jula allerdings verstanden, er ballte die Fäuste.

Ein Raunen ging durch die Halle, doch der Dreckskerl musste noch einige Worte loswerden. Starrte Domallen hasserfüllt an und stieß die junge Frau grob weg.

Dann erst tauschte der Kerl sein Messer gegen das Schwert.

Mitleidig schaute Jula zu der Frau, die am Rand des unregelmäßigen, weiten Kreises, der sich um die beiden Kontrahenten gebildet hatte, stehen geblieben war, ihren Arm umklammerte. Er hätte ihr gern geholfen, wenn er nur gewusst hätte, wie. Aber er konnte ja nicht einmal mit ihr reden, verstand dieses verfluchte Südländisch nicht. Len ließ ihn nicht aus den Augen, als befürchtete der, er könne etwas Dummes machen. Zu der blassen, jungen Frau stürzen, die sich geistesabwesend mit dem dunkelhaarigen Mädchen unterhielt, sie schnappen, auf sein Pferd setzen und mit ihr nach Mandura abhauen? Nee, das sicher nicht, obwohl …

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die beiden Männer, die sich kampfbereit gegenüber standen. Und plötzlich genug davon hatten, sich abwartend zu umkreisen. Der Dreckskerl griff Domallen an, stieß überhastet zu, doch der Hauptmann parierte den Hieb mit Leichtigkeit.

Julas Blick wanderte zu der jungen Frau, die dem Kampf wie gebannt zusah, sichtlich fasziniert. Kein guter Zweikampf, er hatte bessere gesehen – wenn auch keinen auf Leben und Tod –, hatte Domallen schon weit besser kämpfen gesehen.

Der Südländer, ein kräftiger, gedrungener Kerl, deutlich kleiner als Domallen und womöglich ein paar Jahre älter, griff wieder und wieder an, traf aber kein einziges Mal, kam mit keinem Hieb, keinem Stoß durch Domallens Deckung. Der sich kaum zu bewegen schien, einfach abwartete, in Julas Augen nicht die beste Taktik, lediglich die Angriffe des Südländers abwehrte. Was den immer mehr in Rage brachte.

Dann endlich griff Domallen an, traf seinen Gegner an der Seite. Keuchend wich der Mann zurück, die Hand auf die Wunde gepresst, Blut quoll ihm zwischen den Fingern hervor. Aber Domallen setzte nicht nach, sondern gab dem unterlegenen Südländer mit gesenktem Schwert die Chance, sich zu erholen. Oder gar aufzugeben?

Wieder griff der Südländer an, was sollte er sonst tun, stürzte sich schreiend auf Domallen und traf, verletzte ihn am Oberarm. Und dann ging alles sehr schnell, Domallen bedrängte den Südländer, der rückwärts taumelte, im Fallen sein Schwert losließ und auf dem Rücken landete, hilflos wie ein Käfer. Mistkäfer.

Der Hauptmann stand drohend über ihm, die Spitze seines Schwertes schwebte über der Kehle des Besiegten, aber er stieß nicht zu. Wandte sich stattdessen an die junge Frau.

Jula ahnte, wenn er die Worte auch nicht verstand, was Domallen sie fragte. Und sie wartete lange, die Unruhe unter den Leuten in der Halle wurde immer größer, sehr lange mit ihrer Antwort, schien gar nicht recht anwesend zu sein. Fast als würde sie träumen, ihre Stimme rau, belegt.

Im nächsten Moment kippte sie einfach um, Jula konnte sie gerade noch auffangen.

* * *

Es gefiel Reik nicht, lediglich auf die Ereignisse zu reagieren, nicht selbst handeln und das Geschehen bestimmen zu können. Sein Vorgehen eines Hauptmanns der Garde nicht würdig. Aber was sollte er machen, die junge Frau war krank, nicht einmal ansprechbar.

Mehrmals am Tag schaute er kurz nach der jungen Frau, wenn die Heilerin Kora oder dieses Mädchen, Anella, bei ihr waren. Doch wirklich tun konnte er nichts, während seine Gedanken ständig um sie kreisten, ihr seltsames Verhalten, ihre abweisende, zugleich so faszinierende und widersprüchliche Art. Sie interessierte ihn.

Anderen wurde, auf seine Anweisung hin, der Zutritt zu dem Zimmer verweigert, und dieser Ludeau gelangte ganz sicher nicht mehr zu ihr.

Der Kerl hatte nach dem Zweikampf nicht nur schleunigst die Halle, sondern offenbar auch das Gelände der Burg verlassen, blieb selbst nach zwei Tagen noch verschwunden.

Immerhin konnte er Bro überreden, ihren Aufenthalt um einige Tage zu verlängern, bis … ja, bis er endlich mit ihr reden konnte. Es erschien ihm immer wichtiger. Bedeutsam.

* * *

Immer der gleiche, qualvolle Traum, und jedes Mal schien er schlimmer zu werden. Die Fremden überfielen Ogarcha, metzelten alle Bewohner nieder und sie floh mit Anella auf den Turm. Der Fremde folgte ihnen und Anella sprang, sie stieß ihm das Schwert in den Leib, aber er lachte nur, und sie schrie und schrie und jedes Mal dauerte es länger, bis sie von ihren eigenen Schreien erwachte.

Doch in manchen Träumen verfolgte sie etwas Anderes, etwas derart Grauenhaftes, dass sie nicht einmal schreien konnte.

Wenn Mara nicht schlief, nicht träumte, quälten sie Kopfschmerzen, oftmals so stark, dass sie glaubte, ihr Kopf würde zerbersten, so arg, dass ihr übel wurde und sie sich übergeben musste. Hilflos zitternd saß sie auf der Bettstatt, die Knie angezogen, den Rücken gegen die Wand gepresst, und wagte nicht, sich zu bewegen, aus Angst, die Schmerzen könnten noch schlimmer werden.

Mitunter war Anella bei ihr, redete leise mit ihr. Ein Mal sprach sie mit Kora, doch worüber sie redeten, vergaß sie sofort wieder.

Vielleicht war Kora auch gar nicht da gewesen und sie hatte nur geträumt? Sie unterhielt sich wiederholt mit Menschen, die nicht da waren, nicht da sein konnten, weil sie längst tot waren. Redete mit ihrem Vater. Er erzählte ihr von der Wolfsjagd und sie wunderte sich, denn als er noch lebte, hatte er ihr nie von der Wolfsjagd berichtet oder davon, wie man den Wolf tötet, ohne selbst verletzt zu werden.

Und dann waren da die Stimmen, die unablässig auf sie einschwatzten, laut keiften und kreischten, bis ihr die Ohren klangen. Die Stimmen machten sie zornig, so zornig, dass sie ihre Kopfschmerzen vergaß und aufsprang und … auf dem Fußboden erwachte und alles tat ihr weh, wieder einschlief.

Und irgendwann war alles gleich, sie wusste nicht mehr, ob die Nordländer noch immer mordend durch die Burg zogen und Anella vom Turm gesprungen war oder ob sie träumte, sie hätte rasende Kopfschmerzen. Sie konnte nicht sagen, ob jemand bei ihr in diesem unaufgeräumten halbdunklen Zimmer war und zu ihr sprach oder ob sie träumte, jemand wäre da und redete. Vielleicht träumte sie, vielleicht auch nicht und vielleicht war sie tot.

Mara begann zu lachen, nein, tot war sie wohl nicht, Tote hatten sicherlich keine Kopfschmerzen und ihnen war auch nicht übel. Lachend kroch sie zum Bett und amüsierte sich darüber, dass sie auf dem Boden lag, lachend schlief sie ein, obwohl sie nicht sicher war, ob sie tatsächlich einschlief, und darüber lachte sie noch mehr.

* * *

„Ihr könnt nicht zu ihr, Mara ist krank. Ihr könnt unmöglich mit ihr reden!“ Das dunkelhaarige, dralle Mädchen, noch ein halbes Kind, gebarte sich wie eine Tiermutter, die ihr Junges verteidigte. Nur um Reik zum wiederholten Mal daran zu hindern, das Zimmer zu betreten, in dem die Frau, auf seine Anweisung hin, untergebracht worden war.

„Ich muss aber mit ihr reden, es ist wichtig!“

„Nein, sie wird sich nur wieder aufregen und das kann nicht gut für sie sein.“

Der flehende Ton, das Verhalten des Mädchens war beinah anrührend, doch darauf konnte Reik keine Rücksicht nehmen. Ihm lief die Zeit davon, Bro wollte nicht mehr lange bleiben. „Versteht Ihr denn nicht, es …“

„Nein, und ich will auch gar nicht verstehen. Geht jetzt, bitte!“

Ihr Streitgespräch hatte die Frau gestört, denn diese richtete sich auf, sah sich verwirrt um. „Anella? Warum weckst du mich? Wer ist dieser Mensch und was tut er in unserem …“ Sie stockte. „… in dem Zimmer, in dem ich …“

Hastig setzte sie sich auf, offenbar zu hastig, griff sich stöhnend an den Kopf. „Was ist denn hier passiert?“

Das Mädchen Anella setzte sich achtsam zu ihr, die Hände auf ihren Schultern, und musterte sie besorgt. „Du weißt nicht, wer er ist?“

Die junge Frau vermied es, verneinend den Kopf zu schütteln, ihre Stimme heiser. „Nein, obwohl … Ich habe ihn schon mal gesehen …“

Er trat hinzu, schickte das Mädchen weg und nahm am Rand der Bettstatt Platz.

Entsetzt starrte die junge Frau ihn an. „Aber … aber Ihr seid tot! Ich habe Euch getötet, Ihr könnt gar nicht hier sein!“

Bebend schlug sie die Hände vors Gesicht, atmete viel zu schnell; er roch ihren Schweiß.

„Ich bin ganz sicher nicht tot. Wie kommt Ihr denn auf den Gedanken?“

„Nein. Nein, natürlich seid Ihr nicht tot und Anella ist auch nicht vom Turm gesprungen, sie saß ja eben noch hier. Es tut mir leid, ich bin … durcheinander, ich weiß nicht …“, stammelte sie.

„Ihr wisst aber wieder, wer ich bin?“

Sie rutschte eilig von ihm fort und zog die Beine an, betrachtete ihn argwöhnisch. „Ja, ich … ich weiß zumindest, was passiert ist. Glaube ich. Wisst Ihr, dass Euer Wächter glaubte, ich wolle ihn vergiften? Er hat erst getrunken, nachdem auch ich vom Tee getrunken hatte, das ist … unglaublich.“

Reik zuckte nur mit den Schultern, sie schien ihm noch immer reichlich verwirrt zu sein, grinste ihr zu. „Man kann auf dieser Burg nicht vorsichtig genug sein, ihre Bewohner geraten leicht in Wut.“

„Ihr seid unverschämt. Ludeau … er hat Euch zum Zweikampf gefordert …“ Sie runzelte die Stirn.

„Das war keine Herausforderung, das war Erpressung. Er hatte sich wie alle anderen ergeben.“

„Aber Ihr habt angenommen.“

Oh, Himmel, das wollte sie doch jetzt nicht ernstlich diskutieren? „Was sollte ich denn tun? Er wollte Euch töten!“

„Er hat gedroht, mich zu töten, aber er hätte es nicht getan. Er wollte nur, dass Ihr gegen ihn zum Zweikampf antretet. Und anders hätte er Euch wohl nicht dazu bewogen.“

Das war doch … „Ihr verteidigt ihn auch noch?“

„Nein, ganz bestimmt nicht, er ist …“ Unvermittelt richtete sie sich auf, packte seinen Arm. „Warum habt Ihr ihn nicht getötet? Warum habt Ihr mich gefragt, ob ich nicht um sein Leben bitten will, warum?“

Verwundert schüttelte er den Kopf. „Warum habt Ihr nicht einfach Nein gesagt?“

„Ich weiß nicht. Ich wollte ja, sie haben alle erwartet, ich würde Nein sagen, aber … aber ich konnte nicht. Stattdessen habe ich ihm seine Ehre genommen.“ Sie biss sich auf die Lippen, bemerkte ihre Finger auf seinem Unterarm und zog hastig die Hand weg.

„Deswegen habt Ihr so geantwortet, um ihm den letzten Rest seiner Ehre zu nehmen?“

„Nein. Mir ist gerade erst klar geworden, dass es so aussieht, als wäre genau das meine Absicht gewesen. Wäre ich an Eurer Stelle gewesen und hätte ein Schwert in der Hand gehabt, dann wäre Ludeau jetzt tot, aber so?“

Die Aussage überraschte Reik allerdings nicht. Ihm war der brodelnde Hass aufgefallen, mit dem sie diesem Mann begegnete. Inzwischen wusste er, warum. Wollte nicht an den vergangenen Abend denken, das erneute Aufeinandertreffen mit dem Kerl. Seinen Zorn.

Die so verletzlich wirkende junge Frau schien in Gedanken weit fort. „Ihr braucht kein Schwert, um zu töten, Ihr brecht einem Menschen das Herz oder Ihr treibt ihn in den Wahnsinn“, murmelte sie.

„Wie bitte?“

„Kora hat das zu mir gesagt, als sie hier war. Sie hat es ernst gemeint.“

Den einen Moment sprach sie vollkommen klar und vernünftig, den nächsten dann solchen Unsinn; ablehnend verzog er das Gesicht. „Das kann sie nicht gesagt haben. Sie … Die wenigen Male, die Kora bei Euch war, wart Ihr bewusstlos. Seither ist sie verschwunden. Ihr müsst das geträumt haben.“

„Aber …“ Verwirrt blickte sie ihn an. „Ja, vielleicht.“

Sie presste die Hände gegen die Schläfen, kniff die Lider zu. „Könnte ich etwas zu trinken bekommen?“

„Sicher.“ Reik reichte ihr einen Becher Wasser, bemerkte, wie sie sehr genau darauf achtete, seine Finger nicht zu berühren.

„Danke. Glaubt Ihr … Glaubt Ihr, ich bin grausam?“

Er hatte keine Ahnung, worauf sie hinaus wollte, studierte ihr Gesicht, ihre Augen. Sie war seinem Blick nicht ausgewichen. Wunderschöne Augen, ein herrlicher Mund, sanft geschwungene Lippen, die er … „Ich kenne Euch nicht gut, also ist mein Eindruck, meine Meinung vielleicht nicht sonderlich gut begründet.“

„Ich weiß, dass Ihr mich nicht gut kennt.“

Bestätigend nickte er. „Ich glaube, Ihr könnt sehr grausam sein.“

„Oh. Und wie kommt Ihr zu dieser Meinung?“

Er lachte nicht, aber die Situation war absurd. „Was wollt Ihr jetzt von mir hören? Mitunter habt Ihr einen Menschen so, hm, kalt angesehen, das fiel mir auf. Besser kann ich Euch das nicht erklären, will ich auch nicht.“

„Mein Blick?“

„Nicht nur, aber das würde zu weit führen“, wich er aus. „Was guckt Ihr so misstrauisch?“

Sie fing jetzt hoffentlich nicht wieder mit diesem Unsinn an, er dürfe unmöglich mit ihr allein in einem Zimmer weilen; die Südländer, und diese Leute bestimmt, waren in der Hinsicht seltsam.

„Was wollt Ihr von mir?“

Einiges, viel, aber das … später. „Erzählt mir von Euren Träumen.“

Starr sah sie ihn an. „Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht.“

„Ihr wisst sehr genau, wovon ich spreche, sonst würdet Ihr jetzt nicht erzittern und noch blasser werden. Ich rede von den Träumen, die Euch jede Nacht schreiend erwachen lassen, ach was sage ich, die Euch überfallen, wann immer Ihr zu schlafen versucht. Ich meine das, wovon Ihr vorhin bereits geredet habt, als Ihr sagtet, Ihr hättet mich getötet und Anella sei vom Turm gesprungen.“

„Wer sagt, dass ich nachts schreiend aufwache?!“

„Eure Freundin hat mir, wenn auch widerwillig, ein bisschen von Euch erzählt. Zudem schlafe ich gleich nebenan, ich höre Euch. Also?“

„Nein, ich will nicht, ich …“, wehrte sie ab.

„Aber ich will.“ Er rückte näher, nahm ihren Kopf in seine Hände. „Ich will jede Einzelheit hören, alles, habt Ihr mich verstanden? Und seht mich an!“

Und sie begann, schilderte ihm ihre Träume, Alpträume, sparte nicht an Einzelheiten. Verwirrende, erschreckende, grausige Geschichten, sie erzählte erstaunlich lebendig, ja leidenschaftlich, als würde sie alles erneut erleben. Vermied es aber stur, ihn auch nur ein Mal anzusehen.

„War das alles?“ Bro würde das wohl erstmal genügen.

Verzweifelt und wenig erfolgreich bemühte sie sich, ihre Tränen zurückzuhalten. „Reicht Euch das noch nicht? Nein, das war nicht alles! Ich habe zuvor schon von riesigen Männern auf großen Pferden geträumt, die über kleine Dörfer herfallen und die Bewohner abschlachten. Und dann haben sie mich verfolgt, durch den Wald gehetzt. Ich konnte ihnen nicht entkommen, sie haben mich eingekreist und dann …“ Atemlos, wie auf der Flucht.

„Und dann?“, fragte er gespannt.

„Nichts.“

„Gut, das reicht mir.“

„Es ist nicht gut, gar nichts ist gut! Lasst mich endlich los, Ihr tut mir weh!“

Eilig ließ er die Hände sinken, fast verlegen, wandte den Blick ab. Er hatte nicht … Tröstend strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich wollte Euch bestimmt nicht wehtun, nur … Es ist wichtig.“

„Was ist wichtig? Meine Träume? Das meint Ihr doch nicht ernst, alle Menschen träumen. Reitet Ihr durch die Welt und befragt die Leute nach ihren Träumen?“, ereiferte sie sich.

„So ungefähr.“ Er wollte jetzt nichts erklären.

„Ach. Verratet Ihr mir auch, warum Ihr das tut?“

Sie war viel zu aufgebracht und wütend, zu durcheinander, sie würde ihm nicht richtig zuhören. „Nein, das geht nicht.“

„Oh, das geht nicht. Ist ja auch egal, ich will es gar nicht wissen. Hauptsache, Ihr seid zufrieden. Oder nicht, wollt Ihr mich noch ein bisschen weiter mit Euren Fragen quälen, ja? Oder warum seid Ihr noch immer hier?“ Zitternd vor Wut funkelte sie ihn an, außer sich vor Zorn. „Vielleicht um auszuprobieren, ob ich es wert bin, dass Ihr meinetwegen einen Zweikampf auf Leben und Tod ausgetragen habt?! Eine kleine Wiedergutmachung dafür, dass Ihr verletzt worden seid?! Bitte, ich kann Euch nicht daran hindern!“, schrie sie.

Doch er hörte auch die Angst in ihrer Stimme, panische Angst, fasste behutsam nach ihrer Hand. Schreiend riss sie sich los und sprang auf, geriet aber schon beim ersten Schritt ins Taumeln und stürzte, kroch auf Händen und Knien Richtung Tür.

Es war düster im Zimmer, keine Kerze, keine Fackel spendete auch nur ein wenig Licht. Die Luft stickig, beinah wie … Reik fühlte sich in einen ihrer Träume versetzt, unwirklich und nicht dort, wo er sein sollte. In einem verwüsteten Raum in einem heruntergekommenen Gemäuer, welches die Bewohner Burg nannten, irgendwo im Wildewald. Die Atmosphäre bedrohlich, angespannt wie auf einer Jagd. Er der Jäger, sie die Beute.

Seine Beute, der Gedanke, die Vorstellung verlockend … Der Geruch, ihr Körpergeruch, der Geruch ihrer Angst intensiv, überdeutlich. Reik musste sich zwingen, sich nicht von ihrer Panik, ihrer Erregung anstecken zu lassen.

Hielt die Tür zu, an der sie sich mühsam hochgezogen hatte, war ihr viel zu nah. Zitternd wandte sie sich zu ihm um, starrte ihn an. Wie das Kaninchen den Wolf, der Gedanke ließ ihn unwillkürlich lächeln. Er sah die Angst in ihren Augen, noch etwas anderes, hörte ihr Keuchen. Ihr Geruch, sein Geruch, denn natürlich roch er, blickte ihr ins Gesicht, als ihre Knie nachgaben und sie hilflos zu Boden rutschte.

Beugte sich über sie, ihr Mund wie zum Schrei geöffnet. Blut besudelte ihren Hals, ihre aufgerissene Kehle, seine Hände, und der Geruch nach warmem Blut, ihrem Blut, drohte seine Selbstbeherrschung zu überwältigen, da er über ihr kniete.

Es war dunkel geworden, die Sonne schon lange untergegangen. Reik hockte vor ihr, betastete vorsichtig ihren Hals, wo das Tier … Nein, kein Tier, auch nicht er selbst, und da war kein Blut. Nur die Zartheit und Glätte ihrer Haut und ihr rasender Puls.

Sie holte zittrig Luft, stöhnte leise und griff sich an die Kehle.

„Was war das? Ich glaubte …“ Abwehrend schüttelte er den Kopf, begegnete ihrem Blick. „Etwas hat Eure Kehle aufgerissen, Ihr seid verblutet, es war … Ich weiß nicht, was das war!“

„Es war eine erfolgreiche Jagd.“ Ihre Stimme nur ein raues Krächzen.

„Eine erfolgreiche Jagd?“

„Ein Tier jagt ein anderes und reißt ihm die Kehle auf. So etwas nennt man eine erfolgreiche Jagd, oder nicht?“

„Doch, das wäre eine treffende Beschreibung“, gab er fassungslos zu. „Aber ich verstehe es wirklich nicht.“

„Und Ihr erwartet ernsthaft, dass ich es Euch erkläre? Mein Hals, meine Kehle tun so weh, dass ich kaum sprechen kann, gar nicht zu reden von meinen Kopfschmerzen, und Ihr wollt eine Erklärung?“

„Ja.“ Genau die hätte er gern. Nicht nur die Benennung des Offensichtlichen.

Behutsam nahm Reik sie auf die Arme, trug sie zum Bett. Sie ließ sich ohne ein Wort zurücksinken, ihr Atem noch immer viel zu hastig. Er glaubte fast, ihren raschen Herzschlag zu spüren, betrachtete sie aufmerksam. Legte erneut die Hand auf ihren Hals und fühlte ihren Puls, viel zu schnell. Ihre Haut so zart.

Er wartete, bis sie sich ein wenig beruhigt zu haben schien, ihr Atem gleichmäßiger ging, schaute sie nur an. „Ihr schuldet mir eine Erklärung.“

„Ich schulde Euch gar nichts! Und ich kann es Euch auch nicht erklären, es war … es war wie ein Traum, ich war ein Tier, das von einem anderen Tier gejagt wurde. Es hat mich erwischt und mir die Kehle aufgerissen, ich bin gestorben, verblutet.“

Nun, so hatte es ausgesehen. „Aber wieso …“

„Vielleicht Euer Geruch, Ihr riecht wie ein Raubtier. Ach, ich weiß es nicht! Ich träume doch sowieso ständig, ich weiß schon gar nicht mehr, ob ich wache oder träume, warum also nicht beides zugleich?“

„Und das andere Tier, der Jäger? Das war ich?“, wollte er wissen.

„Vielleicht.“ Offen blickte sie ihm in die Augen. „Ihr habt mich getötet.“

Er widersprach nicht, sagte nichts, sah sie nur an. Sein Gesicht dicht über ihrem Gesicht, sehr nah, seine Hand noch immer auf ihrem Hals, und er wunderte sich, dass sie sich gar nicht daran störte, nicht protestierte.

Für den Moment wollte er nichts an der Situation ändern. So unbequem war das Bett nicht, die Unordnung im Zimmer ihm herzlich gleichgültig, ihre Nähe angenehm und sehr willkommen. Selbst wenn sie bald darauf einschlief.

(Ende 6. Tag, Vollmond)

Mandura - Die Anfänge I

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