Читать книгу Mandura - Die Anfänge I - Enn Bolda - Страница 7
Beute
ОглавлениеImmer tiefer sinke ich in die Dunkelheit, alles schwarz und ruhig und sehr friedlich. Dann wird es heller, ich sehe in den Himmel. Kleine, fedrige Wolken ziehen im lauen Wind dahin. Es ist warm, Anella liegt neben mir, streichelt mein Gesicht. Langsam gleiten ihre Hände tiefer, über meine Brüste, meinen Bauch. Ihre Lippen folgen ihren Händen, tiefer hinab, ihre Zunge kitzelt mich; ich lache.
Der Wind wird stärker, dunkle Wolken kommen auf, ich kann den Regen schmecken. Anella ist fort und der Fremde beugt sich über mich. Ich bin wie gelähmt. Die Frauen umringen uns und kreischen vor Lachen, ich schreie gellend. Und erwache.
Ihr Herz raste. Es war kalt, der volle Mond leuchtete ins Zimmer. Sein Licht fiel auf den Fremden, der neben ihr auf dem Bett lag und schlief. Sie konnte ihn atmen hören. Ihr Vater stand neben dem Bett, das Mondlicht glitzerte in seinen Augen. Er verriet ihr, wo das Messer des Fremden war. Unvorsichtig von ihm, es hier zu haben, während er neben ihr schlief.
Leise glitt sie aus dem Bett und zog das Messer aus seinem Stiefel. Es sah sehr scharf aus, das Mondlicht glänzte auf der Schneide. Der Fremde hatte sich nicht bewegt, er schlief wie ein Kind, sein Kettenhemd hatte er ausgezogen. Seine Kehle war ungeschützt.
Vorsichtig kniete sie sich über ihn, sah auf das Messer. Ihr Vater erklärte ihr, wie sie es zu benutzen hatte. Wie bei der Wolfsjagd, die Klinge nach unten, um den Unterarm zu schützen, wenn man dem Wolf die Kehle durchschnitt.
Er war der beste Jäger, einmal brachte er ihrer Mutter ein Wolfsfell als Geschenk. Es war so weich! Doch eines Nachts kehrte ihr Vater nicht von der Jagd zurück, der Wolf war schneller gewesen.
Tränen liefen ihr über das Gesicht, ihr Vater drängte sie. Sie konnte die Bartstoppeln an Hals und Kinn des Fremden sehen und lauschte auf die Stimmen. Sie rieten ihr, sie solle ihn töten, jetzt sofort. Dann wäre sie frei, könne gehen, wohin sie wolle, tun, was sie wolle, aber sie müsse ihn töten, unbedingt! Jetzt! Sie sah ihre Gestalten im Mondlicht, sie umringten sie, kreischten und schrien.
Wieder blickte sie auf das Messer. Die Zeit verging sehr langsam, das Mondlicht wanderte durch den Raum.
Ein Wolf heulte den Mond an, ein klagender, einsamer Laut. Er weckte den Fremden, es war zu spät! Sie fuhr mit dem Messer über seinen Hals.
Aber der Mann war viel zu schnell wach und wehrte die Klinge mit dem Arm ab. Das Messer war scharf, schnitt ohne Mühe durch das Leder des Ärmels tief in sein Fleisch, sie sah fasziniert das Blut hervorquellen.
Mit der anderen Hand packte er ihr Handgelenk, drückte ihr den verletzten Arm gegen die Kehle und warf sie, ohne ihr Handgelenk loszulassen, rückwärts zu Boden, hielt sie mit seinem ganzen Gewicht am Boden fest. Sein heißes Blut lief ihren Hals herab.
„Lass das Messer los!“ Er flüsterte, die Zähne zusammengebissen.
„Nein.“
Sie versuchte sich unter ihm hervor zu winden, doch der Mann war viel schwerer als sie. Sie konnte sich nicht rühren, bekam kaum noch Luft und er drückte stärker zu. Stöhnend ließ sie das Messer los.
Er nahm es an sich und begann, ohne sie loszulassen, Streifen vom Rock ihres Kleides abzureißen.
Die Stimmen machten ihr Vorwürfe, warum sie ihn denn nicht gleich getötet hätte, so eine Chance würde sie nie wieder bekommen; und sie lachten sie aus und schrien und kreischten, ihr Kopf tat so weh! „Oh, hört endlich auf! Haltet doch alle den Mund, ihr macht mich wahnsinnig!“
„Mit wem redest du?“ Voller Wut sah der Mann auf sie herunter, hörte aber nicht auf, seinen Arm zu verbinden. Der Schnitt war tief und reichte vom Handgelenk bis fast zum Ellenbogen, der Stoff schnell vom Blut durchtränkt.
Seltsam, er schien die Stimmen, die Gestalten im Zimmer nicht zu bemerken. Sie lachte, sagte aber nichts.
Fluchend stand er auf, zerrte sie auf die Füße; sie konnte nicht allein stehen und musste sich an ihm festhalten. Mit grimmigem Gesicht schleppte er sie zum Bett. Sie lächelte ihn, in seinen Armen liegend, an. „Ihr seid so weiß im Mondlicht und Euer Blut ist so dunkel. Seht Ihr?“
Sie zeigte ihm ihre Hand, die voller Blut war, seinem Blut; der Mann antwortete nicht. „So schrecklich schön.“
Sein Blut war salzig und süß zugleich. Sie sah den Mond, hörte nicht, wie er das Zimmer verließ, hörte den Stimmen zu, die unablässig auf sie einredeten, aber so laut! Sie hielt sich die Ohren zu.
Ihr Kopf tat weh, alles drehte sich und sie übergab sich. Und immer noch hörte sie die Stimmen, sie kreischten und schrien, immer lauter, immer schriller, ließen sie nicht in Ruhe.
* * *
Oh, Götter, wie konnte er nur darauf reinfallen? Wie hatte er nur einschlafen können, neben dieser … Und wie hatte sie verdammt noch mal mit dem Messer auf ihn losgehen können, seinem eigenen Messer?!
Keuchend lehnte Reik an der Korridorwand, hielt sich den Schädel, bemüht, seinen Atem zu beruhigen, sich zu beruhigen, um nicht gleich wieder ins Zimmer zu stürzen und die kleine … Verdammt, sie hatte versucht, ihm die Kehle durchzuschneiden! Er hatte ihr nichts, aber auch gar nichts getan und sie … Sie war wahnsinnig, nicht bei Sinnen, sie sah und hörte Dinge, die überhaupt nicht da waren, träumte von …
Sie hatte von ihrer Ankunft geträumt, schon vor Monaten. Doch eine mächtige Zauberin stellte er sich anders vor.
„Hauptmann? Alles in Ordnung, Ihr …“
Er wandte sich zu Len um, der eilig über den dunklen, erfreulich verlassenen Gang kam, nickte vage. „Ja, geht schon. Wisst Ihr, wo Kjelben …“
„Unten, in der Halle, bei Eurem Onkel. Euer Arm …“
„Hm, ich habe sie wohl unter … Ein Missverständnis, ich war zu hastig, zu grob, und die Kleine …“ Er sollte die Lüge nicht noch weiter ausspinnen, musste Len nichts erklären, sich nicht rechtfertigen. Sollte es schlicht dabei belassen. „Passt auf sie auf. Wir brauchen die Frau.“
„Aber …“
„Ja, genau. Und keiner von diesen Leuten hier kommt zu ihr, wenn ich nicht anwesend bin.“
„Wie Ihr befiehlt, Hauptmann. Dann …“
Er nickte nur, eilte hinunter, seinen blutenden Unterarm, der provisorische Verband half nicht viel, fest umklammernd.
Einige brennende Fackeln an den Wänden und das Kaminfeuer spendeten ein wenig Licht, machten die leidlich große Halle derart zu einem düsteren Ort unruhig zuckender Schatten. Natürlich bekam Bro einen Wutanfall, als er erfuhr – nicht erfuhr, Reik beließ es bei seinen vagen Andeutungen, aber irgendwas musste er schließlich sagen –, was vorgefallen war. „Und diese verlauste, dreckige kleine Schlampe …“
„Sie hat sich nur verteidigt, Bro, sie hat nichts …“ Er verzog das Gesicht, biss die Zähne zusammen. Kjelben war nicht sonderlich zartfühlend bei der Versorgung der Schnittwunde. „Es ist meine eigene Schuld, ich war unvorsichtig. Leichtsinnig.“
„Bist dem kleinen Flittchen ein bisschen zu nahe gekommen, was?“ Bros Grinsen glich einem Zähnefletschen, als er sich an zwei seiner Männer wandte. „Das will ich von ihr hören. Schafft sie her, jetzt gleich. Aber passt auf eure Messer auf, die Kleine ist offenbar ein wenig unwillig.“
Jemand lachte unterdrückt, es war Reik gleich, aber er musste… „Bro, lass sie, es geht ihr wirklich nicht …“
„Nicht gut? Das will ich hoffen. Das Schätzchen hat dich angegriffen.“
„Sie fühlte sich von mir angegriffen und hat sich verteidigt! Sie ist krank, Bro, sie weiß kaum mehr, was sie tut.“
Bro musterte ihn misstrauisch. „Das werde ich ja gleich erfahren.“
„Aber sie versteht dich doch gar nicht, sie spricht kein …“
„Dann übersetzt du, wie die letzten Tage. Und so ein bisschen Südländisch verstehe ich ja schließlich auch.“
Sie hatten ihr die Hände auf dem Rücken zusammengebunden und schleppten sie die Treppe herunter, schleiften sie quer durch die Halle bis nah vor den Kamin.
Sie sah schlimm aus, wie eine Irre. Die Haare wirr, Gesicht, Hals und Hände voller Blut, ebenso das zerrissene Kleid. Und schien völlig weggetreten, lächelte verzückt in die Flammen des Feuers. Die Männer mussten sie stützen, sonst wäre sie wohl einfach zu Boden gesunken.
Bros Befragung, der Versuch einer Befragung war mühsam und letztendlich vergeblich, denn sie reagierte überhaupt nicht, blickte ihn nur vage lächelnd an. Irgendwann gab Bro es auf und wies Kjelben an, ihr einen Becher Branntwein zu geben. Nicht allein Branntwein. Sie verzog das Gesicht, wollte zurückweichen, aber die Männer hielten sie unerbittlich fest.
Reik ahnte, worauf das hinauslaufen würde, bezwang sein ungutes Gefühl; im Tempel machten sie das ebenso. „Trinkt das bitte.“
Verwirrt schüttelte sie den Kopf und er wollte ihr versichern, ihr geschähe nichts, niemand würde ihr etwas tun, nickte jedoch nur bestätigend.
Sie trank, verschluckte sich fast, hustete und rang keuchend nach Luft, trank aber tapfer den Becher leer.
„Geht es Euch jetzt besser?“
Sie nickte vorsichtig.
„Bro wird Euch einige Fragen stellen. Und es wäre gut für Euch, wenn Ihr ehrlich antwortet.“
Wieder nickte sie, sah ihn ernst an. „Fragt.“
Bro trat dicht an sie heran und musterte sie grimmig, bevor er die Hände an ihre Schläfen legte. Ihr wortlos in die Augen blickte.
Erst geschah gar nichts. Reik hörte im Hintergrund einige Männer reden, hörte das Knacken der Scheite im Kamin.
Dann plötzlich schrie sie, tobte und wand sich im Griff der Männer, kämpfte brüllend gegen Bros Eindringen in ihr Bewusstsein an, kreischte gellend, wehrte sich offenbar mit aller Kraft, bis ihr das Blut aus der Nase floss. Und Bro sie endlich frei gab.
„Du meine Güte …“ Sein Onkel nahm die Hände von ihrem Kopf, trat zwei Schritte zurück und starrte die junge Frau fassungslos an. „Keine Ahnung, was sie ist, aber das … Unglaublich!“
Diese Nacht würde er keine vernünftige Erklärung mehr für ihr Handeln bekommen, nicht von ihr. Dennoch widerstrebte es Reik, sie allein zu lassen, trotz seiner Wut, seines Ärgers, seiner Verwirrung. Er hatte ihr nichts zu leide getan, und sie …
Aufstöhnend lehnte er sich einen Augenblick gegen die Wand, schüttelte den Kopf. Fuhr sich über Stirn und Augen, bevor er wieder den düsteren Raum betrat, dunkel, da der Mond untergegangen war.
Sie stand schluchzend am Fenster, reagierte nicht auf sein Eintreten, rührte sich auch nicht, als er hinter sie trat. Wandte sich aber schließlich doch zu ihm um. „Ihr werdet es selbst tun?“
Er blickte zweifelnd auf sie. Wie weit konnte er ihr trauen? Im Moment, in Zukunft? „Dreht Euch um.“
Sie gehorchte und er durchtrennte ihre Fesseln. Blieb dicht hinter ihr stehen und lauschte ihrem Atem. Roch sie, das Blut auf ihr. Sein Blut.
Er sollte ihr jetzt besser nicht zu nahe kommen, drehte sie lediglich zu sich herum. „Wascht Euch das Blut ab, so könnt Ihr nicht schlafen.“
„Macht Ihr Euch über mich lustig?“
„Nein. Mir ist bestimmt nicht nach Lachen zu Mute.“
Er ging zur Tür, redete kurz mit einem der Soldaten. Kam mit einer Fackel und Kerzen zurück und machte Feuer im Kamin, Brennholz gab es ja genug im Zimmer. Rückte einen Sessel davor, drückte die junge Frau hinein und hockte sich vor sie. „Warum habt Ihr alles kaputt geschlagen?“
„Habe ich das?“, fragte sie mit rauer Stimme nach.
„Wer sonst? Es waren keine anderen Personen im Zimmer. Echte Personen, die jeder sehen kann, nicht nur Ihr.“
„Ich kann mich nicht daran erinnern. Nur einmal, da habe ich mich gewundert, dass ich nicht im Bett lag, sondern auf dem Boden, und alles tat mir weh. Vielleicht … vielleicht war ich … über etwas wütend?“
„Bisschen dürftige Erklärung, oder?“
Sie zuckte die Schultern, schwieg.
Es klopfte an der Tür und Len brachte eine Schüssel mit heißem Wasser und Tücher herein, stellte alles auf dem Tisch ab. Ein recht massiver und wohl nur deshalb noch heiler Tisch.
„Reicht es, wenn ich mich umdrehe, oder soll ich vor die Tür gehen, bis Ihr fertig seid?“
„Es ist sowieso egal, Ihr wart den halben Tag und einen Teil der Nacht allein mit mir im Zimmer, viel schlimmer geht es kaum noch. Trotzdem wäre ich Euch dankbar, wenn Ihr Euch umdrehen würdet.“
Verglichen mit dem, was er bislang von ihr gehört hatte, klang das richtig vernünftig. Er drehte sich zum Kaminfeuer, sah in die Flammen. Hörte, wie sie sich langsam und bedächtig wusch.
„Ihr könnt Euch wieder umdrehen, ich bin fertig, na ja, so …“
Reik erhob sich, trat zu ihr. Sie hatte sich in eine Decke gewickelt, hielt sich am Tisch fest und starrte ihm wie gebannt ins Gesicht. Er bemerkte ihr Zittern, legte ihr behutsam den Arm um die Schultern und führte sie wieder zum Sessel.
„Ihr macht das absichtlich, nicht wahr?“
„Was mache ich absichtlich?“
„Mich so anzusehen, so wie jetzt.“
„Sicher mache ich das absichtlich.“ Was für eine absurde Frage. Oder er verstand sie einmal mehr nicht richtig. „Gebt mir Eure Hand. Ich fürchte, das könnte wehtun.“
Zögernd streckte sie den Arm aus.
„Macht Ihr viel mit der Linken?“
„So gut wie alles.“
Er nickte, betastete ihre Hand, bewegte vorsichtig die Finger, das Gelenk; er wollte ihr ungern Schmerzen bereiten. Sah, wie sie Zähne zusammenbiss.
„Aber in nächster Zeit wohl nicht mehr. Dauert das noch lange?“, fragte sie ungeduldig.
„Nein, ich bin gleich fertig, Kjelben kann es morgen richtig verbinden.“
Er wickelte ein Stück Stoff um ihr Handgelenk, kein sonderlich fester Verband. „Vermutlich ist aber nichts gebrochen.“
„Danke.“
„Schon gut.“
Schweigend saß er auf dem Boden zu ihren Füßen, schaute ins Kaminfeuer, rührte sich nicht. Zu viele Gedanken in seinem Kopf. Ja, gut, er mochte sie, er war fasziniert, er hatte das Bedürfnis, sie zu beschützen. Aber sie hatte versucht, ihm die Kehle aufzuschlitzen, verdammt.
Hörte ihr leises Weinen. „Reik?“
Er sah zu ihr hoch, schaute in ihre Augen.
„Reik, werdet Ihr mich töten? Heute Nacht?“
Wieder sah er in die Flammen, schüttelte langsam den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Ich nicht und auch sonst niemand. Keiner weiß, was tatsächlich passiert ist, außer uns beiden natürlich. Und das ist auch besser so.“
Denn das wäre ihr Tod.
Abrupt stand er auf und zog sie mit auf die Füße, hielt sie fest. Hob sanft ihr Kinn an. „Warum sollte ich ein so aufregendes Mädchen wie Euch auch töten?“
„Aber …“
„Kein aber, Ihr müsst schlafen. Moment.“
Er drückte sie auf die Bettkante und zog sich das Hemd über den Kopf. Bemerkte ihren Blick, nicht ängstlich, viel mehr neugierig.
„Was soll das?“
„Zieht es an. Ich weiß, es riecht, aber ich kann nicht schlafen, wenn ich weiß, dass Ihr nackt neben mir liegt.“
„Aber Ihr könnt nicht neben mir schlafen!“
Fing das wieder an. Doch er würde sie diese Nacht sicher nicht allein lassen. „Ach, warum nicht?“
Murrend zog sie sein Hemd über, ließ die Decke los, krabbelte ins Bett und deckte sich bis an die Nasenspitze zu.
Er legte sich zu ihr, horchte auf den Wind, der um das Gebäude wehte, Fensterläden klappern ließ, durch die Blätter der Bäume des Waldes rauschte. Lauschte ihren leisen Atemzügen.
* * *
Mara fuhr aus dem Schlaf hoch. Der Wind war stärker geworden.
Der Fremde, Reik, lag neben ihr, auf den Ellenbogen gestützt, und sah sie an. „Schlaft.“
Er legte ihr eine Hand über die Augen und sie schlief wieder ein.
Auch der Wind schläft, in der Ferne heult ein Wolf.
Keuchend schrecke ich auf. Ich bin im Wildewald, die Bäume stehen eng beisammen und die Wölfe heulen. Sie kommen näher und ich renne, Dornen zerkratzen mir die nackten Beine, Zweige schlagen gegen meine Arme und verfangen sich in meinem Haar. Aber so schnell ich auch laufe, die Wölfe kommen immer näher, ich habe keine Kraft mehr zum Weiterlaufen. Ich kann sie zwischen den Bäumen erkennen, sie kreisen mich ein, kommen näher, ihre roten Augen leuchten mordgierig. Sie werden mich bei lebendigem Leibe auffressen! Der erste Wolf springt, ich schreie und schreie.
Schreiend erwachte Mara, blickte sich gehetzt um. Die Wölfe lauerten in der Zimmerecke, dort, wo es am dunkelsten war. Sie schrie immer weiter, bis etwas sie packte, sie sich loszureißen versuchte. Erkannte Reik, der sie festhielt.
„Sie sind hier, in der Ecke! Sie wollen mich fressen!“ Zitternd klammerte sie sich an ihn. Roch ihn.
„Da ist nichts in der Ecke, es war nur ein böser Traum.“
Sie schluchzte, ließ ihn nicht los. Spürte seine lebendige, warme Haut unter ihren Fingern, ihren Händen. „Es war so schrecklich, sie haben mich durch den Wald gehetzt und sie hatten ganz rote Augen!“
„Ihr könnt beruhigt sein, nichts ist hier, niemand wird Euch etwas tun.“
Langsam wichen Grauen und Angst von ihr. „Ihr seid hier.“
„Ja, und ich passe auf Euch auf. Legt Euch wieder hin und schlaft.“
„Nein, ich kann nicht schlafen.“
„Dann bleibt eben wach.“
Er zog sie neben sich und legte die Arme um sie. Es war warm, sie fühlte sich geborgen, beschützt. Seltsam beruhigt und beunruhigt zugleich. Die Wölfe kamen in dieser Nacht nicht noch einmal.
Als Mara die Augen aufschlug, schaute sie Reik direkt ins Gesicht. Er lächelte sie an, spielte mit einer Strähne ihres Haars. „Schöne Farbe, ich mag dieses Rot.“
Wenn sie nicht aufpasste, würde sie sich noch im Blau seiner Augen verlieren. Wieso konnte sie nur nicht aufhören, ihm immer ins Gesicht zu starren? „Ihr habt einen seltsamen Geschmack.“
„Das finde ich eigentlich nicht. Was seht Ihr mich so traurig an?“
Alles war so verkehrt, warum konnte er nicht ein anderer Mann sein und sie eine andere Frau und sie beide nicht in diesem wüsten Zimmer in dieser verdammten Burg? Das war alles so falsch!
Sie legte die Hand an sein Gesicht, konnte kein Wort sagen. Es tat weh.
Betroffen blickte er auf sie herunter. „Warum weint Ihr denn jetzt, habe ich etwas Falsches gesagt?“
Behutsam nahm er ihre verletzte Hand, küsste jede Fingerspitze, und sie konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Seine Lippen wanderten ihren Arm hinauf, liebkosten ihren Hals.
Mara schluckte und versuchte, ihre Stimme wieder zu finden. „Bitte, ich …“
„Gènaija, hört auf zu weinen. Was ist denn so furchtbar?“
Sich die Tränen vom Gesicht wischend stand sie auf, trat zur Fensteröffnung und sah über den Wald, Nebel hing zwischen den Bäumen. „Es ist seltsam, ich habe nicht geglaubt, dass ich den Wildewald noch einmal sehen würde. Ich habe tatsächlich geglaubt, Ihr würdet mich töten. Es wäre nicht schlimm gewesen, nur dass ich nie wieder den Wald sehen würde, oder die Berge. Manchmal sind ihre Gipfel von hier aus zu sehen, sehr weit im Norden, wie dunkle Wolken am Horizont. Ich hätte nie wieder Anella sehen können, sie umarmen, das … das hätte ich vermisst. Und die Sonne, das Licht. Ich hatte keine Angst vor dem Sterben, nur vor dem Schmerz. Dass Ihr mir wehtun würdet. Vielleicht habe ich es mir sogar einen Moment lang gewünscht, ich weiß nicht.“
„Warum?“, wollte er wissen.
„Es schien mir … einfacher.“
„Und jetzt?“
Mara drehte sich um, trat zum Bett und kniete sich neben ihn; er ließ sie nicht einen Moment aus den Augen. „Vielleicht ist es wirklich einfacher, aber ich will nicht sterben.“
„Gut. Und warum blickt Ihr mich so an?“
„Eure Augen …“
„Was ist mit meinen Augen?“
„Sie sind so … so blau!“
Er lachte. „Ja, ich weiß. Und?“
„Nichts und.“
„Gènaija, könntet Ihr nicht ein Mal nicht ganz so abweisend zu mir sein? Entweder Ihr regt Euch so sehr auf, dass Ihr vor Wut kaum noch wisst, was Ihr tut, oder Ihr seid kalt, eiskalt und fern wie die Gletscher im Norden. Lächelt Ihr denn gar nicht, seid Ihr nie freundlich, ich meine freiwillig, nicht nur, weil es die Höflichkeit gebietet?“
„Zu einem Mann?“ Sie runzelte die Stirn. „Nein.“
„Ihr habt keinen Freund, Liebhaber?“
Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. „Meint Ihr nicht, dass das eine sehr persönliche Frage ist? Das geht Euch überhaupt nichts an.“
„Möglich.“
„Ihr müsst ja eine sehr hohe Meinung von Euch haben, Ihr haltet Euch bestimmt für unwiderstehlich, nicht wahr?“ Ärgerlich presste sie die Lippen zusammen. „Ihr meint, Ihr könnt Euch alles erlauben.“
„Ja. Könnte ich jetzt mein Hemd wiederhaben?“
Verständnislos sah Mara ihn an. „Wie bitte?“
„Mein Hemd, Ihr habt es an. Und Ihr wollt doch sicher nicht, dass Eure Freundin uns so halb ausgezogen sieht, oder? Sie kommt sicher bald, um nach Euch zu sehen.“
„Oh, Ihr seid …“
„Unverschämt?“ Er grinste.
„Nein, das wollte ich nicht sagen. Ihr seid schrecklich, Ihr seid ein unmöglicher Mensch und Ihr habt überhaupt kein Benehmen, das wollte ich sagen. Und hört auf, so zu grinsen!“
Voller Wut krabbelte sie vom Bett, riss sich das Hemd vom Leib und zog ihr Kleid an. Es war unangenehm kalt und klamm und sah ziemlich mitgenommen aus. Einen Moment verspürte sie Bedauern; das einzige richtigen Kleider, das sie hatte, nicht nur diese Kittel.
Sie wandte sich wieder zu dem Mann um, wurde rot. „Ihr hättet ja wenigstens in die andere Richtung sehen können!“
Schmiss ihm das Hemd an den Kopf. „Da, und jetzt verschwindet! Raus!“ Mit geballten Fäusten stand sie da und starrte ihn an.
Aber er ging nicht, kam zu ihr und packte sie grob an den Schultern. „Was meint Ihr eigentlich, mich so behandeln zu können? Wenn ich wollte, könnte ich Euch mit Leichtigkeit töten, ich könnte alles mit Euch machen, niemand würde mich daran hindern, und Ihr hättet nicht die geringste Chance. Was macht Euch so verdammt sicher?“
„Wer sagt, dass ich mir sicher bin?“
„Aber …“ Verblüfft sah er sie an, einen Moment sprachlos, sein Griff lockerte sich. „So unvorsichtig könnt Ihr doch nicht sein!“
„Doch, so unvorsichtig bin ich, leichtsinnig, dumm, wie Ihr wollt. Ich kann nicht anders. Ihr seid nicht der erste, der mir das vorhält.“
„Gènaija, das ist Wahnsinn! Es wundert mich überhaupt nicht, dass Ihr ständig in Schwierigkeiten steckt.“
„Ich bin wahnsinnig. Ich nahm an, das wüsstet Ihr inzwischen.“
„Das glaube ich aber nicht. Gènaija, bitte, um Eurer selbst willen, übertreibt es nicht.“ Seine Stimme klang eindringlich, fast flehend. „Irgendwann werdet Ihr an jemanden geraten, der Euch wirklich wehtun will, dem es egal ist, ob Ihr dabei sterben solltet. Ihr müsst nicht immer bis an die Grenze gehen …“
„Doch, ich muss! Irgendetwas treibt mich, immer weiter. Ich weiß, dass ich mich in Schwierigkeiten bringe, welche Risiken ich eingehe. Und irgendwann werde ich wohl dabei umkommen, aber jetzt noch nicht, noch lebe ich. Manchmal genieße ich es.“
„Was, das Risiko oder das Leben?“, fragte er nach.
„Beides! Es ist aufregend.“
Lächelnd sah sie ihm in die Augen und er erwiderte ihr Lächeln. „Ja, das ist es. Ich dachte, Ihr lächelt einen Mann nicht freiwillig an?“
„Ich habe meine Meinung geändert.“
„Gut. Wisst Ihr, Gènaija, dieser Ludeau hatte ganz Recht.“
„Womit?“
„Ihr seid ein kluges Mädchen, Ihr werdet es schon selbst herausfinden.“
Und damit verließ er das Zimmer.
(7. Tag)