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3. KAPITEL DAS KLEINSTE ÖKOSYSTEM

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1934 VERÖFFENTLICHTE EIN ERST 23-JÄHRIGER sowjetischer Biologe eine Studie mit dem Titel The Struggle for Existence. Dieses Büchlein, 1934 auf Englisch in Baltimore erschienen, dürfte heutzutage nur den wenigsten Biologiestudenten bekannt sein, lieferte aber die erste experimentelle Basis für das Verständnis, wie Arten miteinander konkurrieren und sich in einer Welt begrenzter Ressourcen gegenseitig (und sich selbst) vernichten können.

Der junge Biologe Georgi Franzewitsch Gause war der Sohn des Architekturprofessors Franz Gause und von Galina Gause, einer Arbeiterin im Stahlwerk einer Autofabrik. Georgi Gause und seine Familie verbrachten die Sommerferien im Kaukasus, wo er die Liebe zur Natur entdeckte. Mit 17 Jahren begann er das Studium an der renommierten Lomonossow-Universität in Moskau. Im sowjetischen Studienbetrieb war für jeden Studenten ein Fakultätsbetreuer vorgesehen; in einer dieser glücklichen Fügungen, die das Leben und den Lauf der Geschichte beeinflussen, wurde Gause Professor Wladimir Alpatow zugeteilt. Alpatow war beeinflusst von amerikanischen Studien zum Bevölkerungswachstum und der Hypothese, dass sich das Wachstum jeder Population, auch die des Menschen, mit zunehmender Populationsdichte verlangsamt. Das ließ darauf schließen, dass die menschliche Bevölkerung nicht ewig weiterwachsen würde, bis alle natürlichen Ressourcen verbraucht sind und die Bevölkerung als Ganzes stirbt. Stattdessen würde das Bevölkerungswachstum zunächst langsam beginnen, sich ab einem bestimmten Punkt enorm beschleunigen, bevor es wieder abnimmt und die Bevölkerung sich auf einem bestimmten Wert einpendelt. Biologen haben dieses Muster – langsame Zunahme, explosives Wachstum, schließlich Stabilisierung; logistisches Wachstum genannt – seither bei vielen Arten beobachten können, unter anderem beim Menschen. Aufgrund dieser Theorie wurde prognostiziert, dass sich die Weltbevölkerung um das Jahr 2050 bei neun bis zehn Milliarden stabilisieren sollte.

In den Naturwissenschaften muss eine erstellte Theorie durch Beobachtungen oder, idealerweise, durch Experimente bestätigt werden. Gause ging davon aus, dass sich die Annahme des logistischen Wachstums niemals in der freien Natur nachweisen lassen würde, weil Arten nicht in einem Vakuum leben, sondern in komplexen Beziehungsnetzen interagieren. Einfach gesagt, es gibt in der Natur zu viele Störfaktoren, die herausgelöst werden müssten, um die zur Bestätigung der Hypothese notwendigen Faktoren zu erhalten. Gause allerdings glaubte, er könne Experimente im Labor durchführen, indem er eine vereinfachte Umgebung errichtete, in der er alle Faktoren kontrollieren konnte. Das war der Beginn einer der bedeutendsten Studien in der Geschichte der Biologie.


GAUSE WAR STARK VON Charles Darwin und dessen Werk Über die Entstehung der Arten beeinflusst. Darwin ging davon aus, dass alle Arten in Konkurrenz zueinander stehen, auf eine Art und Weise, die der Mensch gar nicht wahrnehmen kann, weil er nichts von »den gegenseitigen Beziehungen aller organischer Wesen« weiß. Nach Darwin ist »jedes organische Wesen bestrebt, sich in einem geometrischen Verhältnis zu vermehren; jedes Wesen hat in manchen Abschnitten seines Lebens, in bestimmten Jahreszeiten, in jeder Generation oder in unregelmäßigen Abständen um seine Existenz zu kämpfen und Verluste zu erleiden«.

Das von Darwin erwähnte »geometrische« Wachstum (auch exponentielles Wachstum genannt) bedeutet Wachstum. Ein wunderbares Beispiel zur Veranschaulichung exponentiellen Wachstums ist die Geschichte des Handwerkers, der einem indischen König ein Schachbrett zum Geschenk macht. Der König, erstaunt über das Brett und das Spiel, bietet ihm jede Belohnung, die er sich wünsche. Der Handwerker erbittet sich ein Reiskorn auf dem ersten Feld des Schachbretts, zwei Körner auf dem zweiten, vier auf dem dritten, acht auf dem vierten und so weiter, bis alle 64 Felder jeweils mit der doppelten Zahl des vorhergehenden Felds gefüllt sind. Das ist die Belohnung, die er sich erbittet. Der König stimmt zu. Es gibt nur ein kleines Problem: Verdoppelt man die Reiskörner 64-mal und zählt die Reismenge auf allen Feldern zum Schluss zusammen, ergibt das insgesamt 210 Milliarden Tonnen Reis – genug, um ganz Indien unter einer ein Meter dicken Reisschicht zu begraben.

Anders ausgedrückt, würde sich jede Art exponentiell vermehren – was plausibel sein könnte, wenn jedes Individuum nur zwei Nachkommen hat –, würde unser Planet unter einer gewaltigen Zahl von Individuen aller Arten ächzen. Das aber ist in unserer Welt nicht der Fall. Wir sehen, dass nicht alle Arten in gleicher Häufigkeit vorkommen. In den afrikanischen Savannen gibt es mehr Gräser als Akazien, mehr Gnus als Elefanten. Darwin dachte sich daher, dass es trotz des Drangs jeder Art, sich so stark wir möglich zu vermehren, etwas geben muss, was ihre Zahl beschränkt, eine Art »Ringen ums Überleben«, was die Häufigkeit ihres Vorkommens, ihre Abundanz begrenzt. Ein Faktor in diesem Ringen ist natürlich die verfügbare Nahrung. Ein weiterer, so Darwin, muss in der Beziehung jeder Art mit den anderen Arten im Ökosystem zu suchen sein.

Vor Darwin wurde kaum verstanden, wie Arten, die Ökosysteme bilden, interagieren. Biologen wussten, dass Pflanzen um Licht und Nährstoffe im Boden konkurrieren und Räuber ihre Beute dezimieren, sie verstanden aber nicht, wie sich die Abundanz einer Art innerhalb dieses komplexen Beziehungsnetzes stabilisiert. Gause wollte beweisen, dass die komplexen Beziehungen zwischen einzelnen Organismen durch einfache Prozesse bestimmt sind, die mathematisch modelliert werden können. Er schrieb: »Ein solch grundlegender Prozess liegt vor, wenn eine Art eine andere Art frisst oder wenn es zwischen einer kleinen Zahl von Arten in einem begrenzten Mikrokosmos zum Wettstreit um den verfügbaren Platz kommt.«

Einige Jahre vorher hatte der italienische Biologe Umberto D’Ancona eine statistische Studie über die Zahl der Fische durchgeführt, die auf drei Märkten im nördlichen Teil der Adria verkauft wurden. Er konnte beobachten, dass im Ersten Weltkrieg die relative Zahl der Raubfische – Haie, Rochen – im Vergleich zu ihrer Beute zugenommen und kurze Zeit später wieder abgenommen hatte. Er schlussfolgerte, dass durch den drastischen Einbruch der Fischerei während des Kriegs »das natürliche Gleichgewicht« im marinen Ökosystem wiederhergestellt und durch die intensive Befischung nach Kriegsende wieder gestört worden war. Ohne sich der ökologischen Erklärung bewusst zu sein, fragte D’Ancona seinen Onkel, den berühmten Mathematiker Vito Volterra (der damals schon im Ruhestand war), ob er ihm nicht ein mathematisches Modell zur Beschreibung dieser Beobachtungen liefern könne. Volterra entwickelte daraufhin die ersten Gleichungen für die Interaktion zwischen den Arten. Diese Gleichungen bildeten die Grundlage, um die Beziehungen zwischen Räubern und ihrer Beute sowie der Beziehungen zwischen Arten, die um Ressourcen wetteifern, zu verstehen. Auf die Adria Anfang des 20. Jahrhunderts übertragen, bewirkte nach diesem Modell die verringerte Befischung, dass sich der Bestand der Großfische – der Räuber – von den Folgen der Ausbeutung durch den Menschen erholte. Einer größeren Zahl von Raubfischen stand mehr Beute zur Verfügung, was den beobachteten Anstieg der relativen Zahl von Räubern erklärte. Nach dem Krieg wurde wieder mehr gefischt, worauf die Zahl der Raubfische zurückging, was die Zahl der Beutefische wieder ansteigen ließ.

Gause kannte D’Anconas und Volterras Arbeiten und machte sich daran, Volterras Modelle mit eigenen Experimenten zu überprüfen. Verglichen mit dem, was Universitätsstudenten heute zur Verfügung steht, waren Labore Anfang des 20. Jahrhunderts recht primitiv eingerichtet, aber Gauses Kreativität kompensierte die fehlenden technischen Mittel. In mit Nährlösung gefüllten und mit Watte ausgestopften Bechergläsern schuf er jene Mikrokosmen, die er sich vorstellte. Jedes Becherglas enthielt ein sich selbst erhaltendes Ökosystem, das gegenüber allen Störfaktoren, wie man sie in der Natur findet, isoliert war.


MIT SEINEM ERSTEN EXPERIMENT wollte Gause testen, ob das Wachstum einer einzelnen Art dem logistischen Gesetz folgt. Die von ihm gewählte Art war Paramecium caudatum, das Pantoffeltierchen, ein einzelliger Organismus, der tatsächlich wie ein Pantoffel aussieht. Der transparente Körper ist mit feinen Wimpern bedeckt, mit denen es sich fortbewegt und mithilfe derer es sich seine aus Kleinorganismen wie Bakterien und Hefe bestehende Nahrung zufächelt. Das Pantoffeltierchen ist nur 200 bis 300 Mikrometer groß (das Zwanzigstel eines durchschnittlichen Reiskorns) und vermehrt sich relativ schnell und ungeschlechtlich durch Querteilung in zwei Tochterzellen. Das macht es zum idealen Organismus für Experimente, die sich über mehrere Generationen erstrecken.

Gause gab jeweils fünf einzelne Pantoffeltierchen in kleine Bechergläser mit jeweils 0,5 Kubikzentimetern Nährlösung (was etwa zehn Wassertropfen entspricht). Sechs Tage lang zählte er die Zahl der Individuen in jedem Glas. Die Zahlen stiegen anfangs schnell an, dann langsamer, bis am vierten Tag eine durchschnittliche Abundanz von 375 Pantoffeltierchen im Glas gezählt wurde, womit eine »gesättigte Population« erreicht war, wie Gause sie nannte. Das Wachstum der Pantoffeltierchen im Mikrokosmos entsprach exakt der logistischen Kurve.

Im nächsten Schritt wurde das Mini-Ökosystem etwas komplizierter gestaltet, indem er eine zweite Art hinzufügte. Gause glaubte, dass unterschiedliche Arten, mochten sie noch so eng miteinander verwandt sein, ihre Umwelt nicht auf die gleiche Weise nutzen. Sie nehmen zum Beispiel unterschiedliche Nahrungsmengen zu sich und scheiden unterschiedliche Mengen an Stoffwechselprodukten aus. Seine Frage lautete also: Erreichen zwei Arten, die zusammenleben, eine gesättigte Population ähnlich jener, die beide als Reinkultur erzielen? Oder setzt sich eine der beiden Arten gegenüber der anderen durch – das heißt, erreicht sie eine höhere Abundanz?

Gause nahm dafür zwei Arten von Hefen mit gleicher Nahrungsgrundlage: Saccharomyces cerevisiae, die Back- oder Bierhefe, und Schizosaccharomyces kefir, die Hefe, mit der Kefir hergestellt wird. Beide Arten können sich mit oder ohne Sauerstoff vermehren. Ohne Sauerstoffzugabe kommt es beim Hefewachstum zu Gärungsprozessen: Als Abfallprodukt entsteht Ethanol. Wird Sauerstoff zugegeben, tritt ebenfalls, wenngleich eingeschränkt, Gärung auf, aber die Hefezellen teilen sich sehr viel schneller. Beide Arten produzieren alkoholische Gärung, die Kefirhefe aber wächst ohne Sauerstoff sehr viel langsamer.

Gause ließ beide Arten zunächst isoliert für sich in Reinkultur wachsen, um ihre jeweilige gesättigte Population zu bestimmen. Dann gab er sie gemeinsam in ein Becherglas mit einem Nährmedium mit fünf Prozent Zucker. Er entwickelte für dieses Experiment insgesamt 111 verschiedene Mikrokosmen und mittelte die Werte der drei Testreihen: Wachstum der Backhefe allein; Wachstum der Kefirhefe allein; Wachstum der beiden Arten zusammen.

Wie erwartet folgte das Wachstum der beiden Arten in Reinkultur der logistischen Kurve: erst schnell, dann langsamer, bis der gesättigte Zustand erreicht war. Die Wachstumsrate schwächte sich bereits ab, bevor der Zucker im Medium aufgebraucht war, da die Anreicherung des Abfallprodukts – Ethanol – zum Absterben der jungen Hefesprossen führte. Das Wachstum der Kefirhefe verlief dabei sehr viel langsamer, ihre gesättigte Population war nicht einmal halb so groß wie die der Backhefe. In der Mischkultur aber fiel die Gesamtmenge beider Hefearten noch geringer aus als die Menge der Backhefe in Reinkultur allein. Was war geschehen?

Beim gemeinsamen Wachstum war die Menge jeder Hefeart geringer als bei der jeweiligen gesättigten Population in Reinkultur. Die entstandene Ethanolmenge jedoch war größer als die Gesamtmenge, die beide Arten in ihrer Reinkultur produziert hatten. Daher, schlussfolgerte Gause, erreichte die Ethanolmenge beim gemeinsamen Wachstum früher ein toxisches Niveau als in den jeweiligen Reinkulturen.

Gause wiederholte das Experiment und fügte der Mischung zusätzlich Sauerstoff hinzu, indem er die Mikrokosmen so ähnlich belüftete, wie man das mit einem Aquarium tun würde. Die Ergebnisse waren die gleichen: Die gesättigte Population war in der Mischkultur für jede Hefeart geringer, auch wenn die Kefirhefe sehr viel schneller wuchs als ohne Sauerstoffzufuhr und ihre gesättigte Population sich mehr als verdoppelte. Was Gause als »die Koeffizienten des Ringens ums Überleben« bezeichnete, war unter klar definierten Umweltbedingungen vorhersehbar, gleichgültig, wie schnell die Arten wuchsen. Das hieß, wie er schrieb, »wenn wir die Eigenschaften zweier separat wachsender Arten kennen … können wir das theoretische Wachstum der Art und ihr maximales Volumen in der Gemischtpopulation berechnen«. Im Fall der Hefe bestimmte die Anreicherung der Abfallprodukte, wie sich die beiden Arten in ihrer Konkurrenz zueinander entwickelten.

Aber diese Erkenntnis reichte dem brillanten sowjetischen Wissenschaftler noch nicht.

Zur methodischen Bekräftigung seiner Analysen wiederholte Gause die Experimente, erneut mit einem Arten-Pärchen, diesmal mit einem alten Bekannten, dem Geschwänzten Pantoffeltierchen, Paramecium caudatum, und dem Ohren-Pantoffeltierchen, Paramecium aurelia. Aber er baute einen Dreh ein: Jetzt würde er den Mikrokosmos täglich mit Wasser und Nahrung versorgen, um die natürlichen Bedingungen nachzustellen, unter denen die Energie der Sonne ja ebenfalls ohne Unterbrechung vorrätig war – im Gegensatz zu seinen früheren Experimenten, bei denen die Nahrung limitiert war und, war sie erst einmal aufgebraucht, nicht mehr nachgeführt wurde. Gauses Schlüsselfrage lautete nun: »Wird unter diesen Bedingungen eine Art die andere vollständig auslöschen, oder wird sich zwischen ihnen ein gewisses Gleichgewicht einstellen?«

Beide Arten wuchsen in Reinkultur wunderbar und erreichten in etwa zehn Tagen ihre gesättigte Population. Gause musste nun aber feststellen, dass P. aurelia in der Mischkultur P. caudatum nach etwa zwei Wochen vollständig ausgelöscht hatte – das heißt, wenn sie um die gleiche Nahrung wetteiferten. Überraschenderweise begann P. caudatum schneller zu wachsen als P. aurelia, allerdings erwies sich P. aurelia als widerstandsfähiger gegenüber Abfallprodukten und war seinem Konkurrenten daher langfristig überlegen.

Diese bahnbrechende Erkenntnis wurde später als »Konkurrenzausschluss-Prinzip« bezeichnet und besagt, dass zwei Arten, die um die gleichen Ressourcen konkurrieren, nicht in gleichbleibender Abundanz koexistieren können. Hat eine Art einen Vorteil gegenüber der anderen, mag er noch so klein sein, wird sie sich langfristig durchsetzen. Überträgt man das auf die Interaktion des Menschen mit allen übrigen Arten auf der Erde, könnte die Schlussfolgerung nicht entmutigender sein.


DER NÄCHSTE SCHRITT IN Gauses Arbeit bestand darin, eine weitere Ebene im Nahrungsnetz einzuziehen: einen Räuber. Mit einiger Vorahnung betitelte er dieses Kapitel »Die Vernichtung einer Art durch eine andere«. Das neue, erweiterte Ökosystem bestand jetzt aus drei Ebenen: Bakterien Paramecium caudatum Didinium nasutum. Didinium nasutum, das Nasentierchen, ein fassförmiger Einzeller, der sich vorwiegend von Pantoffeltierchen ernährt, obwohl er nur halb so groß ist wie diese.

Volterras mathematische Gleichungen (die von seinem Zeitgenossen Alfred Lotka, einem amerikanischen Naturwissenschaftler, unabhängig von ihm ebenfalls entwickelt wurden) gaben vor, dass in der Natur ein Räuber seine Beute niemals ganz auslöschen wird. Das hatten Biologen bis dahin geglaubt: Nimmt die Beute-Abundanz aufgrund der Prädation ab, folgt ein Rückgang der Räuber-Abundanz, weil die Räuber nicht mehr genug Nahrung finden. Nimmt daraufhin die Zahl der Räuber ab, wird die Beute-Abundanz wegen der verringerten Prädation wieder zunehmen – und so fort. Die Lotka-Volterra-Theorie sagte ein periodisches Oszillieren der Abundanz von Räubern und Beute voraus, was von Felddaten bestätigt wurde.

Erneut war Gause für eine Überraschung gut. Er setzte fünf Pantoffeltierchen in seinen Mikrokosmos und zwei Tage später drei räuberische Nasentierchen. Was folgte, beschrieb er so: »Nachdem die Räuber zu den Paramecia gegeben wurden, begann die Zahl der Letzteren zu schwinden, die Räuber vermehrten sich stark und vertilgten alle Paramecia, worauf sie selbst zugrunde gingen.« Mit anderen Worten, die Räuber fraßen ihre Beute vollständig auf und starben danach wegen Nahrungsmangel. Gause wiederholte das Experiment mehrmals, in Gläsern unterschiedlicher Größe, gab die Räuber zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu, das Ergebnis war immer dasselbe: Zum Schluss gab es für die Räuber nichts mehr zu fressen, und sie starben.

Das allerdings können wir in der Natur, in der Räuber und Beute in vielen unterschiedlichen Umgebungen leben, nicht beobachten. Ein wunderbares Beispiel dafür stammt aus den Beobachtungen eines unbeabsichtigten Experiments. Aufzeichnungen der Pelztierjäger der Hudson Bay Company in Kanada ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu Gauses Tagen zeigten ein Oszillieren der Zahlen der Luchspelze (Räuber) und der Hasenfelle (Beute), die die Trapper erbeuteten. Die Zahlen der erlegten Tiere war verglichen mit denen der wild lebenden Population relativ gering, der Eingriff durch die Trapper war daher nicht der Hauptfaktor, der die Veränderungen der Luchs- und Hasenzahl erklären würde. Man konnte also annehmen, dass die Zahl der erlegten Luchse und Hasen deren Abundanz in der freien Wildbahn widerspiegelte. Es gab Zyklen mit zunehmenden Luchs- und abnehmenden Hasenzahlen, worauf eine Abnahme der Luchs- und eine Zunahme der Hasenzahlen folgte – und so fort. Aber die Luchse rotteten die Hasen nie aus. Ebenso vernichten Löwen in den afrikanischen Savannen, Wölfe in den gemäßigten Wäldern oder Haie in Korallenriffen ihre Beute nie ganz. Was also war in Gauses experimentellem Mikrokosmos anders?

Gause führte seine Forschungen fort, hielt an manchen natürlichen Umweltbedingungen in seinem Mikrokosmos fest und variierte andere. Seine Bechergläser stellten ein homogenes Ökosystem dar, wie es in der realen Welt nicht vorkommt. Also gab er ein Sediment in die Bechergläser, in dem sich Paramecium verstecken konnte. Wie erwartet, fraß Didinium alle Paramecia außerhalb des Sediments, manche Paramecia aber fanden Zuflucht in der Sedimentschicht. Didinium jagt nicht aktiv nach seiner Beute – es nimmt durch Ingestion nur auf, was in seine Nähe kommt –, die Beute im Sediment war daher in Sicherheit. Das aber bedeutete, dass für Didinium bald keine Nahrung mehr vorhanden war, der Räuber starb aus. Ohne Räuber wuchsen die Pantoffeltierchen wieder, bis sie ihre gesättigte Population erreicht hatten. Erneut fiel es Gause schwer, die natürlichen Bedingungen selbst einer sehr einfachen Nahrungskette nachzustellen. Räumliche Zufluchtsstätten verhinderten die Extinktion der Beute, führten aber zum Aussterben des Räubers, während die Lotka-Volterra-Gleichungen ein Oszillieren der Räuber-Beute-Zahlen vorhergesagt hatten. Was fehlte hier?

Gause fügte einen weiteren Faktor hinzu: Immigration. Alle drei Tage gab er einige Didinia in das Glas und konnte endlich die in Kanada beobachtete und von den mathematischen Modellen vorhergesagte Luchs-Hasen-Oszillation nachstellen. Die Koexistenz von Räuber und Beute war möglich, wenn es Verstecke für die Beute gab und der Räuber nicht auf ein enges Gebiet beschränkt war – eine Situation, die mehr dem entspricht, was wir auch in der Natur beobachten können.

Gause zeigte drei Dinge: Zwei Arten können nebeneinander existieren, selbst wenn sie um dieselben Ressourcen konkurrieren, allerdings mit anderer Abundanz als ohne Konkurrenten. Die Art, die im Umgang mit den Ressourcen der Umwelt einen Vorteil besitzt, wird unweigerlich »dominant« werden – das heißt, zahlenmäßig stärker zunehmen. Und ein Räuber und seine Beute können in der gleichen Umgebung koexistieren, solange der Beute Verstecke zur Verfügung stehen.

Unser Planet ist die Heimat von Millionen Arten. Ökosysteme wie Korallenriffe oder Regenwälder beherbergen Zehntausende Arten, die in einem scheinbar unbegreiflichen Gleichgewicht zusammenleben. Wie erfolgt der Schritt von zwei Arten zu 10.000? Wie arbeiten die unterschiedlichen Arten zusammen, um solche wunderbaren Ökosysteme zu erschaffen? Erst Wissenschaftler, die sich mit der natürlichen Umwelt und den Veränderungen befassten, denen sie im Lauf der Zeit ausgesetzt ist, konnten diese Fragen angehen.

Die Natur der Natur

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