Читать книгу Die Natur der Natur - Enric Sala - Страница 13
4. KAPITEL SUKZESSION
ОглавлениеRICHARD GRIGG UND JAMES Maragos, zwei Meeresbiologen auf Hawaii, wollten 1970 verstehen, wie sich Korallenriffe über einen gewissen Zeitraum entwickelten. Wegen der hohen Lebensdauer mancher Korallenarten – die Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte überdauern können – ließen sich ihre Studien zu Lebzeiten nur schwer umsetzen. Aber Grigg und Maragos hatten eine Idee.
Die Insel Hawaii wird vom Kilauea überragt, einem immer noch aktiven Vulkan, aus dem regelmäßig Lava ausströmt. Man kennt vielleicht die Bilder der wie ein rot glühender Wasserfall sprudelnden oder sich träge in den Pazifik wälzenden, zähflüssigen Lava. Zischend und knackend bringt sie das Meerwasser zum Kochen und lässt weiße Dampfschwaden aufsteigen. Die größten Lavaströme fließen unter Wasser, von der Schwerkraft getrieben, weiter, schmiegen sich an den Meeresboden und werden zu einem Teil von ihm. Lava zerstört alle Ökosysteme. Wenn Lava über Vulkanhänge strömt, lässt sie alles in ihrem Weg verdampfen und begräbt es unter einem Basaltsarkophag, der mit dem Erkalten der Lava aushärtet – sowohl über als auch unter Wasser. Gleichzeitig erneuern Lavaströme aber auch das Leben, da sie durch die Zerstörung eines Ökosystems ein unberührtes Substrat schaffen, das andere Arten besiedeln können.
Grigg und Maragos entdeckten, dass es seit dem Jahr 1801 ausführliche Aufzeichnungen über die Lavaströme auf der Insel gab. Also vermaßen sie Diversität und Abundanz der verschiedenen Korallenarten in jenen Gewässerabschnitten, die in dem Zeitraum von 102 Jahren bis 19 Monaten vor ihrer Studie durch Lavaströme zerstört wurden. Aufgrund des unterschiedlichen Alters der jeweiligen Lavaströme ließ sich in diesem Naturexperiment daher Raum durch Zeit ersetzen. Sie mussten ihr Experiment nicht jahrzehntelang laufen lassen, das hatte der Vulkan bereits für sie getan.
Grigg und Maragos stellten fest, dass sich nicht alle Korallenarten zur selben Zeit festgesetzt hatten. Manche, die »Pioniere«, lassen sich sofort nieder und wachsen schnell, andere brauchen für die Besiedelung länger. In offenen, seichten Gewässern betrug die Erholungszeit 20 Jahre, in geschützten Bereichen konnten mehr als 50 Jahre vergehen, bis sich das Korallenriff wieder komplett erholt hatte.
Ihre Untersuchung führte zu mehreren Erkenntnissen. Erstens: Pionierarten, die als Erstes ankommen und schnell wachsen, sind nicht unbedingt diejenigen, die lange überdauern. Pionierarten sind wie Gräser, die sofort hochschießen, nachdem der Wald niedergebrannt wurde, während Bäume sehr viel länger brauchen, bis sie sich wieder ansiedeln.
Zweitens: Eine ökologische Gemeinschaft in einer grundlegend stabileren Umgebung – zum Beispiel ein Riff in tieferen Gewässern mit wenig Wellengang – wird länger brauchen, bis sie sich von Neuem ausbildet. Der Grund dafür ist, dass Korallen in tieferen Wasserschichten länger für ihr Wachstum brauchen. Nur eine stabile Umgebung ohne gravierende Störungen liefert die Bedingungen, die eine langsam wachsende Korallenkolonie für ihre Entwicklung benötigt. Dafür kann sie sehr alt werden. Laut einer neueren Studie sind manche Korallengemeinschaften in den tieferen Gewässern vor Hawaii bis zu 15.000 Jahre alt. In seichteren Gewässern sind Korallenriffe der zerstörerischen Kraft tropischer Stürme ausgesetzt und werden daher nur von schnell wachsenden Pionierarten besiedelt.
Schließlich: Bei der Bildung eines Ökosystems spielt eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle. Die Lavafluss-Studie zeigt, dass unterschiedliche Arten mit unterschiedlichen Eigenschaften – zum Beispiel einer anderen Wachstumsrate – an unterschiedlichen Standorten und zu unterschiedlichen Zeiten gedeihen. Gause zeigte, wie komplex selbst ein einfaches Ökosystem mit nur drei Arten – Beute, Prädator und Spitzenprädator – sein kann und wie sich die Beziehungen zwischen den Arten abhängig von den Veränderungen ihrer Umgebung ändern können. Wie können dann Tausende von Arten hoch entwickelte, funktionierende Ökosysteme wie Regenwälder oder Korallenriffe bilden? Wie bilden sich Ökosysteme? Gibt es Bauanleitungen für Ökosysteme, ähnlich den Anleitungen für den Zusammenbau der Möbel bestimmter Einrichtungshäuser?
Denken wir an ein Haus. Nichts kann errichtet werden, solange das Fundament nicht gegossen ist. Erst dann können wir Wände hochziehen. Wasserrohre und Stromleitungen können erst eingesetzt werden, wenn die Wände stehen. Das Gleiche gilt für Türen und Dach. Verputzen kann man die Wände erst, nachdem die Leitungen installiert sind. Und mit den Möbeln sollte man erst anrücken, wenn alles andere fertig ist. Kurz gesagt: Der Bau eines Hauses bedarf einer logischen Abfolge von Einzelschritten. Wird ein Wald oder ein Korallenriff auf ähnliche Weise zusammengebaut, folgt er oder es ebenfalls einer bestimmten Art von ökologischer Abfolge?
Obwohl die Arten keinen architektonischen Plan haben, entstehen Ökosysteme in der Tat durch einen Prozess, den die Wissenschaftler »ökologische Sukzession« nennen. Sukzession beruht auf einer kleinen Zahl von Gesetzen, die bestimmen, welche Arten in welcher Reihenfolge einen Standort besiedeln – so wie die diversen Korallenarten Hawaiis Lavaströme besiedeln – und welche Eigenschaften sich anschließend aus diesem Selbst-Zusammenbau ergeben.
WENN ÖKOSYSTEME IN EINER Umwelt, die unablässigen Störungen ausgesetzt ist, nicht über einfache Entwicklungsstadien hinauskommen, was geschieht dann in einer Umgebung, die jahrhunderte- oder gar jahrtausendelang relativ stabil bleibt? Sehen wir uns dazu die Wälder an. Wälder gehören zu den komplexesten Ökosystemen an Land und sind Heimat von mehr als der Hälfte aller Pflanzen- und Tierarten. Wie sieht die ökologische Sukzession aus, die zu einem Wald im Klimax- oder Reifestadium führt? Wie fängt ein Wald von klein auf an?
Stellen Sie sich die alten Wälder der Erde vor, die sogenannten Primärwälder, die unberührt von menschlicher Einflussnahme sind. Einen Wald in den kalifornischen Sierras, mit Mammutbäumen, so hoch wie ein Fußballfeld lang, die bereits standen, als die letzte große Pyramide Ägyptens errichtet wurde. Einen Wald im Osten Polens, mit Eichen, die aus Samen austrieben, als Kolumbus in der Karibik anlandete, und die jetzt zehn Stockwerke hoch sind. Den Regenwald am Amazonas, wo auf einem einzigen Paranussbaum mehr Arten leben, als in Europa in einem ganzen Hektar Erde zu finden sind. Die Wälder sind mindestens so alt wie der älteste Baum in ihnen. Wie sind sie entstanden?
Stellen wir uns jetzt ein Feuer vor, durch das ein Teil des Waldes niedergebrannt wird. Statt des grünen Blätterdachs gibt es nur noch schwarze, verkohlte Erde. Bald aber entsteht neues Leben. Als passionierter europäischer Pilzsammler wissen Sie vermutlich, dass auf verbrannten Böden gern Morcheln wachsen. Als ich klein war, nahm mein Vater mich mit zur Pilzsuche, und ich konnte es kaum erwarten, später die frisch in den Pinien- und Eichenwäldern gesammelten Pilze kurz in der Pfanne anzubraten (was mir Jahre später auf Korsika, wenn wir nicht zum Tauchen konnten, zupasskommen sollte). Aber auch wenn Sie kein Pilzsammler sind, haben Sie vielleicht gesehen, dass nur Wochen später auf den verbrannten Flächen grünes Gras wächst. Wo kommen diese Pilze und Gräser her?
Bei Waldbränden verbrennt im Allgemeinen nur die obere Bodenschicht, die Erde darunter bleibt intakt. Dort finden sich Samen von Pflanzen, die nur auf ihre Chance gewartet haben, auch einmal das Licht der Sonne erblicken zu dürfen – buchstäblich. Unter dem dichten Blätterdach des Waldes gibt es nicht viel Licht, viele Pflanzen können daher dort nicht gedeihen. Aber ihre Samen können jahrzehntelang im Boden überdauern. In manchen Abschnitten der Atacama-Wüste in Chile regnet es zum Beispiel nie – nie, zumindest nach menschlichen Maßstäben.
Das Gebiet ist daher ein arides Terrain ohne offensichtliches Leben. 2018 aber regnete es dort, wo über 100 Jahre lang kein Tropfen gefallen war. Einige Tage später war aus der öden, gelben Landschaft ein farbenprächtiges Blütenmeer geworden. Diese Blumen pflanzten sich fort und erzeugten Samen, die im Wüstenboden zu liegen kamen, wo sie eintrockneten, nachdem der wundersame Regen wieder verschwunden war. Unter Staub und Sand werden diese neuen Samen jetzt auf ihre Chance warten – auf ihre 15 Tage Berühmtheit. Vielleicht wird es wieder ein Jahrhundert dauern. Die Natur hat es nicht eilig, aber sie erledigt ihre Aufgaben. Immer.
Pilze produzieren keine Samen. Meistens verbreiten sie sich über Fäden, die in den Wäldern riesige unterirdische Netze bilden. Was wir gemeinhin als Pilz bezeichnen, die Kappe oder den Hut, ist dabei nur der sichtbare Fruchtkörper, dessen Sporen vom Wind verweht werden, was den Pilz noch weiter verbreitet. Manche Pilze sind Parasiten, andere sind allerdings der Kitt, der das Erdreich und den Wald zusammenhält. Viele Pflanzen, Bäume eingeschlossen, können Nährstoffe nur dank der Symbiose mit Pilzfäden aus dem Boden aufnehmen. Damit ist der Boden so etwas wie das Fundament des Hauses. Ohne Fundament kein Haus. Ohne das lebende Erdreich mit seinen Pilzfäden, Würmern, Insekten und Mikroben kein Wald.
Die Gräser wachsen, indem sie Nährstoffe aus dem Boden und aus der Asche des früheren Waldes ziehen. Durch ihre flachen Wurzeln stabilisieren sie den verbrannten Boden, so können sich die vom Wind herangetragenen Samen anderer Arten festsetzen, austreiben und wachsen. Die Gräser wiederum ziehen Insekten an, die deren Blätter und Halme fressen. Die Insekten wiederum locken kleine Vögel an, die die Insekten fressen. Dann wird ein darüber ziehender Vogel Kot mit den Samen eines Strauches aus einer anderen Gegend fallen lassen, die Samen treiben aus, und der daraus entstehende Strauch bietet Lebensraum für andere Arten. Solche Pionierarten fördern die Ankunft anderer Arten. Sie sorgen für die Bedingungen, die nötig sind, damit sich ein Ökosystem entwickeln kann.
Und irgendwann werden aus den umliegenden, nicht abgebrannten Wäldern Samen der dominanten Baumart ihren Weg in den verbrannten Bereich finden. Nicht alle werden überleben und zu Bäumen werden. Sie werden länger brauchen, letztlich aber das Ökosystem, das jetzt wieder wie ein Wald aussieht, beherrschen. Zu gegebener Zeit wird das dichte Blätterdach wieder den Boden beschatten, sodass kleinere Pflanzen, die mehr Licht benötigen, sich gedulden und auf ihre nächste Gelegenheit warten müssen. Vielleicht wird durch einen Blitzschlag ein Baum gefällt, der eine Schneise in den Wald schlägt. Dann ist wieder die Zeit für die Pionierarten gekommen.
IN DEN 1950ERN UND 1960ern begannen, neben anderen, der amerikanische Ökologe Eugene Odum und der katalanische Ökologe Ramón Margalef, Studien über unterschiedliche Ökosysteme aus unterschiedlichen Teilen der Welt nach gemeinsamen Mustern abzusuchen. Ich muss zugeben, ich stehe Margalef nicht unvoreingenommen gegenüber, da ich seine Schule an der Universität Barcelona durchlaufen und das Privileg genossen habe, einige seiner letzten Vorlesungen besuchen zu dürfen. Diese herausragenden Forscher auf dem Gebiet der Ökologie besaßen die außergewöhnliche Fähigkeit, aus der Masse an Informationen charakteristische Muster zu extrahieren und daraus wunderbare Synthesen abzuleiten.
Odum und Margalef wurde klar, dass die ökologische Sukzession der Ablauf von Prozessen ist, die im Voraus bestimmt werden können. So durchläuft zum Beispiel ein Wald im Lauf seiner Entwicklung Phasen, in denen er erst eine artenreiche Ansammlung von Sträuchern, dann von kleineren und schließlich von größeren Bäumen ist. Deren Abundanz und Verteilung hängt von vielen Faktoren ab, zum Beispiel, ob Vögel oder Säugetiere die Samen verbreitet haben, ob der Standort an einem Hang liegt oder wie hoch der Säuregehalt des Bodens ist. Wir können zwar nicht den genauen Verlauf der Sukzession vorhersagen, aber wir wissen, dass die Besiedlung mit Gräsern beginnt, auf die Sträucher und schließlich Bäume folgen. Manche Arten brauchen das, was andere Arten vor ihnen geschaffen haben, damit sie sich niederlassen können. Bromeliengewächse kommen zum Beispiel in einer erstaunlichen Vielfalt vor, ihre Blätter können nadeldünn bis breit und flach sein, weich oder stachelig, golden oder braun. Manche von ihnen wie das Spanische Moos leben auf anderen Pflanzen, typischerweise Bäumen – man nennt sie Epiphyten, nach der griechische Bezeichnung für »auf« oder »über einer Pflanze«. Tropische Bromelienarten können groß und schwer werden; daher benötigen sie kräftige Zweige, auf denen sie wachsen können, und diese Bäume wiederum benötigten Pilze und ihr unterirdisches Netzwerk, das ihnen hilft, Nährstoffe aus dem Boden aufzunehmen. Die eine Art begünstigt die andere.
Odum und Margalef erkannten unabhängig voneinander, dass entlang der ökologischen Sukzession immer charakteristische Prozesse zu beobachten sind, gleichgültig, um welches Ökosystem es sich handelt. Im zeitlichen Ablauf geschehen Dinge, die vorhersehbar sind; das gilt für Korallenriffe, für Feuchtgebiete, Wälder, Savannen oder für Ihren Garten – falls der Mensch nicht eingreift.
Mithilfe einer Vielzahl von Studien konnten Odum und Margalef zeigen, das im Lauf der Entwicklung eines Ökosystems hin zu seinem Reifestadium die Anzahl der Arten auf einer gegebenen Fläche zunimmt. Das liegt daran, dass die Abundanz der Arten, die die lebendige Architektur des Ökosystems bilden (Pflanzen in einem Wald, Korallen in einem Riff), ebenfalls zunimmt und sich gleichzeitig eine Zunahme der dreidimensionalen Komplexität des Ökosystems beobachten lässt. Nicht nur die Anzahl der Arten nimmt zu, sondern auch ihre totale Biomasse – ihr Gewicht –, bis ein gesättigter Zustand erreicht ist, ähnlich wie bei den Mikroben in Gauses Bechergläsern. Irgendwann lassen die Gesetze der Physik eben keine größeren Bäume oder mehr Blätter pro Quadratmeter zu.
Je mehr Löcher, Ritzen, Nischen und Spalten hohe Bäume und Büsche und abgestorbene Baumstümpfe bieten, desto mehr Mikrohabitate stehen anderen Arten zur Besiedlung zur Verfügung. Manche Pilzarten wachsen zum Beispiel nur auf toten Baumstämmen. Ein Pilz, der in Großbritannien als extrem selten galt, wurde erst wiederentdeckt, als die Besitzer eines großen Anwesens alte, abgestorbene Bäume der natürlichen Sukzession überließen, sodass sie einfach vermodern durften. Im Rest des Landes, wo tote Bäume abtransportiert und zu Holz oder Mulch verarbeitet werden, sind diese Pilze daher nicht mehr zu finden. Auch viele Spechte ziehen tote oder absterbende Bäume vor, da deren Holz weicher ist. In tief gelegenen tropischen Wäldern sind ein Viertel aller Pflanzenarten vermutlich Epiphyten – wie die Orchideen. Orchideen haben nicht nur Vorlieben für bestimmte Baumarten, auf denen sie wachsen, sie ziehen auch das hohe Baumkronendach vor – weit entfernt vom Schatten, den die Baumkronen werfen, wo allerdings schattentolerante Orchideen zu finden sind. Und so fort, ad infinitum.
Pionierarten sind oft Generalisten – Arten, die überall wachsen und sich von allem ernähren können. Mit fortschreitender Sukzession tauchen dann die Spezialisten auf – Arten mit eingeschränkteren Lebensbedingungen wie zum Beispiel die Kolibriart, die sich ausschließlich vom Nektar einer ganz bestimmten tropischen Pflanze ernährt. Ökosysteme entwickeln sich hin zu einer Komplexität, die Margalef als das »Barocke der Natur« bezeichnet hat.
Auch die Arbeit der unterschiedlichen Arten – die natürlichen Prozesse, die sie verrichten – ändert sich im Lauf der Zeit. Mit dem Wachsen des Waldes vermehren sich das Holz und das Laub. Die Produktivität des Waldes steigert sich, bis sie an eine Grenze stößt und gesättigt ist. Ein Wald erreicht diese Grenze, wenn es räumlich keinen Platz mehr für weitere Bäume gibt. Irgendwann haben die Bäume ein Baumkronendach geschaffen, sodass alles Sonnenlicht, das die Pflanzen im Wald nutzen können, auch genutzt wird. Die Bäume haben eine Größe und ein Alter erreicht, bei dem es für sie physikalisch unmöglich geworden ist, noch weiter zu wachsen.
In frühen Sukzessionsstadien wachsen die Gräser schnell. In einer Woche können sie ihre Biomasse verdoppeln – das Maß ihrer Abundanz lässt sich in diesem Fall als Gewicht angeben, als Kilogramm pro Quadratmeter. Aber ein reifer Wald mit alten Bäumen wird dem menschlichen Betrachter in dieser Zeitspanne als unverändert erscheinen. Mit anderen Worten, je reifer ein Ökosystem ist, je mehr Bewohner es hat, je mehr Verbindungen zwischen ihnen bestehen, desto langsamer verändert es sich – desto langsamer ist die Umwandlungsrate.
Das Wachstum eines Waldes ist pure Magie, natürliche Alchimie, die wir für selbstverständlich erachten, die bei näherer Betrachtung aber schlicht unglaublich ist – und einen kontinuierlichen Prozess darstellt, der dazu beitragen kann, die globale Klimakatastrophe abzuwenden. Die Magie liegt im Folgenden: Mithilfe des Sonnenlichts wandeln Pflanzen ein unsichtbares Gas in der Luft in Wachstum um. Das unsichtbare Gas ist Kohlendioxid (CO2), das von Natur aus in der Erdatmosphäre vorkommt. Mittels Sonnenenergie brechen Pflanzen CO2 in seine Bestandteile Kohlenstoff (C) und Sauerstoff (O) auf. Mit Wasser und den darin gelösten Nährstoffen wie Stickstoff und Phosphor, die über die Wurzeln im Boden aufgenommen werden, erzeugen die Pflanzen aus Kohlenstoff Zucker und Wachstum. Dabei geben sie Sauerstoff in die Atmosphäre ab. Diesen Vorgang – bei dem der Luft Kohlenstoff entzogen und in pflanzliche Materie, Blätter, Holz, Wurzeln eingelagert wird – nennt man Kohlenstoffsequestrierung, die Bindung von Kohlenstoff im Boden. Die Pflanzen der Erde (von den mikroskopischen Algen in den Meeren bis zu den gigantischen Mammutbäumen im amerikanischen Westen) verringern auf diese Weise jedes Jahr die globale Kohlenstoffbelastung um etwa die Hälfte. Je höher der Reifegrad des Waldes entlang der ökologischen Sukzession, desto mehr Kohlenstoff speichert er – im Holz, aber auch im Boden. Ein weiteres Zauberkunststück.
Je mehr Blätter produziert werden, desto mehr totes Laub liegt auf dem Waldboden; natürlicher Abfall. Aber wenn der Waldboden die Mülldeponie ist, warum finden wir dann in den Laubwäldern nicht einen meterhohen Teppich aus totem Laub? Weil Laub eben organisch, biologisch abbaubar und voll wiederverwertbar ist. Perfekter Kompost. In einem alten Wald gibt es zahlreiche Insekten, Pilze und Bakterien, die das tote Laub in seine grundlegenden Nährstoffe zersetzen, die über das Nahrungsnetz des Waldes und die Baumwurzeln wieder eingegliedert werden. Ein natürlicher Wald ist eine wahre Kreislaufwirtschaft, in der nichts verschwendet, aber alles wiederverwertet wird, um anderes zu erzeugen. Ironischerweise erzeugen Ökosysteme, je reifer sie werden, desto mehr Detritus (Abfall), umso wichtiger wird aber auch der Detritus für die Regeneration der Nährstoffe, die den Wald am Leben erhalten.
Das ist noch nicht alles. Wir haben alle gehört, dass Wälder die Lungen des Planeten sind, der meiste Sauerstoff in der Atmosphäre wird allerdings von Bakterien und mikroskopischen Algen in den Meeren erzeugt. Tatsächlich wird der Großteil des in den Wäldern generierten Sauerstoffs von den Aktivitäten der Tiere verbraucht (er wird, buchstäblich, verbrannt, um als Energie genutzt werden zu können); Tiere nutzen diesen Sauerstoff, um das vom Wald erzeugte Pflanzenmaterial zu verarbeiten. Wenn, dann könnten Wälder als die Schweißdrüsen des Planeten bezeichnet werden. Bäume ziehen Wasser aus der Erde, schicken es hoch in die Zweige und geben es meist als Wasserdunst über die Blätter wieder ab. Dieser Prozess, der unserem Schwitzen entspricht, nennt sich »Evapotranspiration« – durch Transpiration führen Pflanzen Wasser aus dem Boden in die Blätter, wo es verdunstet und als Wasserdampf an die Umgebungsluft abgegeben wird. Die Verdunstung unseres Schweißes kühlt unsere Körper; Evapotranspiration kühlt ganze Wälder. Endpunkt der Sukzession ist das sogenannte Klimaxstadium – die Kulmination des Wachstums, wo das Ökosystem am »barocksten« und effizientesten ist. Aber wie lange hält das Klimaxstadium eines Ökosystems an?
MEIN FREUND UND KOLLEGE John Pandolfi ist Paläontologe: Er beschäftigt sich mit Fossilien, um die Entwicklung der Erde in ihrer jüngsten geologischen Vergangenheit nachzuvollziehen. John hat karibische Korallenriffe auf alten Meeresterrassen studiert, die nach der letzten, vor etwa 115.000 Jahren einsetzenden Kaltzeit entstanden sind. Er stellte fest, dass zwei Arten von schnell wachsenden Korallen der Gattung Acropora die fossilen Aufzeichnungen der Riffe dominieren: die Hirschgeweihkoralle mit zylindrischen Zweigen, nicht unähnlich dem Geweih eines Hirsches, und die Elchgeweihkoralle mit verdickten, flachen Zweigen, ähnlich den Schaufeln eines Elchs. Es handelt sich dabei um schnell wachsende Pionierarten. Alle karibischen Riffe werden etwa einmal in jedem Jahrzehnt von Hurrikanen verwüstet. Die Korallen in den seichten Gewässern brechen ab, erholen sich aber regelmäßig, weil Acropora schnell wächst und die Riffe zwischen den Hurrikanen besiedeln kann.
Wegen der zerstörerischen Kraft der relativ häufig auftretenden Hurrikane und des damit einhergehenden stürmischen Seegangs hat sich die ökologische Sukzession eines typischen Korallenriffs in seichten Gewässern nie über Gemeinschaften hinaus entwickelt, die fast ausschließlich aus Elchgeweihkorallen (in seichten Gewässern) und Hirschgeweihkorallen (in etwas tieferen Gewässern) bestehen. Der Zyklus bestand immer aus Hurrikan, Korallentrümmer, Acropora-Riff, Hurrikan, Trümmer, Acropora-Riff und so fort – zumindest bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als menschliche Eingriffe die Umgebung so sehr veränderten, dass Acropora-Korallen nur noch mühsam überlebten.
Es dauert sehr lange – Jahrhunderte, Jahrtausende gar –, bis alte Ökosysteme aufgebaut sind. Es dauert sehr lange – und erfordert eine lange Abfolge von Ereignissen –, bis Informationsfülle angehäuft wird. Ihre Vernichtung aber geschieht meist durch katastrophale Ereignisse. Ein Feuer zerstört Jahrtausende Waldwachstum; ein Lavastrom verwüstet ein jahrhundertealtes Korallenriff; der Bau einer Shrimp-Farm kann in wenigen Tagen einen jahrhundertealten Mangrovenwald niederreißen.
Natürliche Störungen wie Waldbrände, Blitzeinschläge oder Lavaströme stellen die sukzessionale Uhr in Teilen der Ökosysteme wieder auf null. Der Blitz fällt einen großen Baum und reißt ein Loch in das Laubdach des tropischen Waldes; große Pflanzenfresser durchstreifen den Waldboden in den gemäßigten Zonen und sorgen dafür, dass die Sukzession von Neuem beginnt. Ein alter Wald weist daher nicht unbedingt ein volles Baumkronendach auf, sondern ist ein Mosaik aus zahllosen Abschnitten in unterschiedlichen sukzessionalen Stadien: hier ein altes Kronendach, der Wald in seinem Klimaxstadium, dort eine frische Lichtung, woanders ein jüngeres Kronendach, wo Jahrzehnte zuvor eine Lichtung geschlagen wurde. Ein gesundes, reifes Ökosystem ist kein Bild mit nur einer Farbe, sondern ein bunter Flickenteppich, der sich ständig verändert und auf Veränderungen der Umgebung und auf Veränderungen in sich selbst reagiert.
Auch die vom Menschen errichteten Umgebungen folgen den Prinzipien der Sukzession. China kann mittlerweile relativ schnell Riesenstädte aus dem Boden stampfen, in der Vergangenheit aber sind Städte organisch gewachsen. Die ersten Bauten der holländischen Siedler auf Manhattan waren einfache Holzhütten, die Bewohner verrichteten grundlegende Arbeiten, und es gab kaum öffentliche Dienstleistungen. Es dauerte mehr als 200 Jahre, bis aus einigen wenigen Hundert Siedlern mehr als acht Millionen Bewohner wurden, die Hunderte von Sprachen sprechen und Tausende unterschiedliche Berufe ausüben (die in der Stadt der Rolle der unterschiedlichen Arten in einem nichtmenschlichen Ökosystem entsprechen), vom Müllwerker und Arzt bis zum Hundecoiffeur. Von den ursprünglichen Gebäuden ist in New York City nichts erhalten, aber es gibt eine Fülle von Backstein-, Stahl- und Glasbauten, von einstöckigen bis zu 541 Meter hohen Gebäuden, von Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert bis zu denen, die gerade errichtet werden, mit oder ohne Pförtner, mit oder ohne Fahrstuhl. Die Wachstumsrate von New York City hat sich im Lauf der Zeit verlangsamt. Die Größe der ursprünglichen Siedlung mag sich einmal innerhalb eines Jahres verdoppelt haben, die gegenwärtigen jährlichen Veränderungen in der Stadt aber sind relativ zu ihrer Größe und Komplexität minimal. Nur an den Stellen, an denen Gebäude niedergerissen werden, kann neues Wachstum stattfinden – wie auf der Lichtung im Wald.
Trotz dieser Ähnlichkeiten besteht eine inhärente Spannung zwischen der Entwicklung von Ökosystemen und dem menschlichen Fortschritt. Menschen wollen Quantität vor Qualität, Wachstum vor Entwicklung, Produktion vor Naturschutz – der meist so wirkungslos wie möglich umgesetzt wird. Natürliche Ökosysteme organisieren sich selbst unter Zunahme von Artenreichtum, Größe und Alter der Organismen, Biomasse, Produktivität, Effizienz beim Recycling organischen Materials und Stabilität, um nur einige Faktoren zu nennen. Die Menschen aber versteifen sich auf ein festgelegtes Ziel und blenden alles andere aus. Wir verwandeln reife Ökosysteme in Monokulturen – Kulturen mit nur einer Art –, die einfachste Form eines Ökosystems. Mit unseren Scheuklappen priorisieren wir eine einzige Art, die auf schnelles Wachstum getrimmt wurde – wie auf den Maisfeldern in Iowa oder in den Lachsfarmen in chilenischen Fjorden –, darauf richten wir unsere Anstrengungen zum Nachteil aller anderer Arten in der Umgebung. Obwohl diese Monokulturen uns ernähren sollen, sind sie, bezogen auf die Reife eines Ökosystems, das, was einer öden Landschaft am nächsten kommt. Die von uns geschaffenen Umgebungen sind der fehlgeleitete Versuch, die Produktivität natürlicher Ökosysteme nachzubilden, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen.
Oft unterbrechen wir die ökologische Sukzession in der Biosphäre oder kehren sie gar um und machen aus komplexen Ökosystemen simple, homogene Systeme mit schnellen Umwandlungsraten. Das heißt: Wir beschleunigen und fragmentieren die Biosphäre. Bedeutet das, dass wir uns von der Natur abschotten? Oder bringen wir uns mehr in die Natur ein, als sie aushalten kann? Diese Fragen sind es durchaus wert, gestellt zu werden, wenn wir von der Natur lernen wollen. Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen, müssen wir uns die Grenzen zwischen den Ökosystem ansehen.