Читать книгу Die Natur der Natur - Enric Sala - Страница 8
1. KAPITEL DIE NEUSCHAFFUNG DER NATUR
ОглавлениеAM 26. SEPTEMBER 1991 WURDEN acht Personen (vier Männer, vier Frauen) in Oracle, Arizona, in einem abgeschotteten Gebäudekomplex von der Größe zweier Fußballfelder eingeschlossen. Das Projekt nannte sich Biosphäre 2, sein Ziel war es herauszufinden, ob wir eine sich selbst erhaltende menschliche Kolonie errichten können. Die eigentliche Biosphäre – man könnte sie Biosphäre 1 nennen – ist das sich selbst erhaltende Netz des Lebens, das die dünne lebendige Haut unseres Planeten bildet und unser Leben erst ermöglicht. Wäre Biosphäre 2 geglückt, würde es den Weg frei machen für die Kolonisierung anderer Planeten.
Der Plan sah vor, ein vereinfachtes Modell unserer Biosphäre zu erschaffen, das insgesamt acht Menschen am Leben erhalten kann. Innerhalb einer futuristischen Glas-Stahl-Konstruktion richteten die Entwickler einen Regenwald, eine Nebelwüste, eine Trockensavanne, Marschland, einen Mangrovensumpf und ein Korallenriff ein – dazu einen landwirtschaftlichen Bereich, wo die Bewohner ihre Lebensmittel anbauen konnten. Diese Habitate waren von der Außenwelt hermetisch isoliert und nach bestem ökologischem Wissen entworfen. Aber es lief dann sehr schnell vieles schief.
Nach 16 Monaten war die Sauerstoffkonzentration in Biosphäre 2 von gesunden 21 Prozent, wie sie in unserer Atmosphäre vorherrschen, auf niedrige 14 Prozent gefallen – so niedrig, dass einige »Biosphärianer« Symptome der Höhenkrankheit zeigten. Die eingebrachte Erde war reich an organischem Material gewesen und sollte genügend Nährstoffe für den Aufbau einer Vegetation liefern. Es stellte sich allerdings heraus, dass die Mikroben in der Erde das organische Material abbauten, dabei Sauerstoff aufnahmen und Kohlendioxid (CO2) abgaben. Die Pflanzen, die wuchsen, waren gleichzeitig nicht groß genug, um den Sauerstoffverlust auszugleichen und das überschüssige CO2 zu absorbieren. Dazu reagierte das CO2 mit dem verbauten Beton und bildete Calciumcarbonat, was den Lebewesen in der Station weiteren Kohlenstoff und Sauerstoff entzog. Langfristig musste daher Sauerstoff in das System gepumpt werden, um die Bewohner am Leben zu erhalten.
Zu den größten Problemen im Gebäude gehörte der CO2-Anstieg – ein prophetischer Vorgriff auf die steigende CO2-Konzentration, die heutzutage eine der größten Bedrohungen für die menschliche Zivilisation auf der Erde ist. Aber nicht nur die Atmosphäre sorgte in Biosphäre 2 für Probleme, auch die Tierwelt. Einzelne Arten starben schneller aus als erwartet, nur wenige der eingeführten Tiere überlebten das Experiment. Die Wissenschaftler hatten Bienen, Motten, Schmetterlinge und Kolibris zum Bestäuben ausgewählt. Sie hatten aber auch, neben anderen Wirbeltieren, Schlangen, Skinke, Echsen, Schildkröten und Fledermäuse eingesetzt. Die Bienen und Kolibris starben jedoch aus, sodass sich die Pflanzen nicht mehr vermehren konnten. Andere Arten nahmen hingegen überhand, darunter Gelbe Spinnerameisen, Kakerlaken und Prunkwinden, die alle anderen Pflanzen überwucherten. Daher mussten sich die Biosphärianer über die Hälfte ihrer Zeit um ihre Nutzpflanzen kümmern. Nur sechs von den ursprünglich 25 kleinen Wirbeltierarten waren am Ende des Experiments noch am Leben. Die erste Biosphäre-2-Mission endete nach zwei Jahren. Ein zweiter Versuch, 1994 begonnen, hielt lediglich sechs Monate durch, was aber vor allem an zwischenmenschlichen Konflikten lag. Einige Teilnehmer bestanden auf der Öffnung der Luftschleuse, was heftige Diskussionen zwischen dem Hauptfinanzier des Projekts und dem Management vor Ort nach sich zog. Der Streit endete schließlich damit, dass Bundespolizisten das Management per einstweiliger Verfügung zum Abzug zwangen.
Was können wir aus Biosphäre 2 lernen? Einigen Biosphärianern zufolge kann das Experiment als Erfolg bezeichnet werden, weil die Bewohner zur Autarkie und zur Lösung unerwarteter Probleme gezwungen wurden. Da mag Wahres dran sein. Wäre mehr Zeit geblieben, hätte in dem abgeschotteten Habitat vielleicht wirklich ein sich selbst erhaltendes System entstehen können – vermutlich anders, als die Konstrukteure von Biosphäre 2 es vorgesehen hatten, aber ein funktionierendes Ökosystem. Immerhin versank Biosphäre 2 nicht in metertiefem Schleim.
Außerdem zeigt sich darin sehr schön der Lauf der Naturwissenschaften. Wir experimentieren, scheitern, lernen daraus und probieren auf Grundlage der neu erworbenen Kenntnisse Neues. Meist lernen wir aus Fehlschlägen mehr als aus Erfolgen. Biosphäre 2 war ein kühnes, innovatives Experiment, das schonungslos vor Augen führte, wie schwierig es ist, ein relativ einfaches Ökosystem und eine lebenserhaltende Atmosphäre aufrechtzuerhalten. Es gelang ihm nicht, die Lebensgrundlagen auf der Erde zu replizieren. Das Experiment zeugte damit von unserer Unwissenheit, wie das Leben auf der Erde funktioniert – und von unserer Unfähigkeit, es neu zu erschaffen.
Was es allerdings zeigte, war im Wesentlichen, dass unser Planet nichts anderes ist als ein Wunder. Dabei spielt es keine Rolle, ob man glaubt, dass die Erde von einem allwissenden Gott erschaffen oder von physikalischen Kräften aus kosmischem Staub geformt wurde, der einen im Entstehen begriffenen Stern umkreiste, oder nichts anderes ist als eine Computersimulation (ja, es gibt theoretische Physiker, die genau das behaupten). Wir reisen auf einem Raumschiff mit 107.800 Stundenkilometern um einen Stern, der seinerseits mit 69.200 Stundenkilometern im Außenbereich unserer Galaxis unterwegs ist. Allein in unserer Galaxis gibt es 400 Milliarden Planeten, die mindestens 100 Milliarden Sterne umkreisen. Was die Erde wirklich einzigartig macht, ist das Leben. Das Leben auf der Erde und ihre überwältigende, ineinandergreifende Komplexität sind das größte Wunder, das die Menschheit kennt.
Würden wir unser gesamtes Wissen über die Lebewesen auf der Erde katalogisieren, würden 99 Prozent der Seiten in diesem Werk leer bleiben. Bislang haben Wissenschaftler weniger als zwei Millionen Arten mehrzelliger Organismen – die Pflanzen und Tiere, die wir sehen können – beschrieben. Wir kennen sehr gut die Vögel. Auch die Säugetiere, Fische, Korallen und Blütenpflanzen, jedes Jahr fügen wir an die 6000 Arten unserem Katalog hinzu. Wissenschaftler aber schätzen die Gesamtzahl der Arten auf etwa neun Millionen. Nicht enthalten sind darin einzellige Organismen, Mikroben wie Bakterien und Archaeen, die sich überall finden, in unseren Eingeweiden, in den Wolken über uns und im Erdreich, in vier Kilometern Tiefe unter uns. Damit wäre der Zensus bei einer Billion angelangt – von dem wir nur einen Bruchteil kennen.
Mit absoluter Sicherheit wissen wir nur, dass alles, was wir zum Überleben brauchen – jeder Bissen, den wir in den Mund stecken, der Sauerstoff, den wir atmen, das Wasser, das wir trinken –, das Produkt des Zusammenwirkens anderer Arten ist. Sie geben uns so viel, und wie zahlen wir es ihnen zurück? Wir beachten sie nicht, löschen sie aus, zerstören sie.
Wir rotten Tiere und Pflanzen tausendmal schneller aus, als das durch die natürliche Aussterberate geschieht. 2019 warnte ein UN-Bericht, dass in den nächsten Jahrzehnten durch den Menschen eine Million Pflanzen- und Tierarten für immer vernichtet werden könnte. Die von uns geschaffene Ödnis, die verloren gegangene Biodiversität, füllen wir durch unsere Nahrungsquellen. 96 Prozent der Gesamtmasse aller Säugetiere auf der Erde bestehen aus dem Menschen und seinem domestizierten Nutzvieh. Lediglich vier Prozent machen andere Tiere aus, von den Elefanten bis zu Bisons und Pandabären. Seit 1970 sind 60 Prozent der landlebenden wilden Tierwelt verloren gegangen, im letzten Jahrhundert 90 Prozent der großen Fische in den Weltmeeren (Haie, Thunfische, Kabeljau). 70 Prozent der Vögel auf der Erde sind domestiziertes Geflügel – meistens Hühner –, nur 30 Prozent leben in freier Wildbahn.
Nicht nur ersetzen wir Tausende wildlebende Arten durch einige wenige landwirtschaftlich genutzte Spezies, wir verändern auch das Land in einem Ausmaß, wie es nur von den Kräften der Plattentektonik übertroffen wird. Mehr als die Hälfte der bewohnbaren Landoberfläche besteht aus Acker- oder Weideland – verschwunden sind Wälder und Grasländer, die zur Anreicherung der Böden beitragen –, und fast 80 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche werden für die Viehzucht verwendet.
Wenn wir so weitermachen, werden die einzigen Großsäugetiere auf dem Planeten wir, unser domestizierter Viehbestand und unsere Haustiere sein. Die größten Pflanzengemeinschaften sind dann nicht mehr die prachtvollen tropischen Regen- und borealen Nadelwälder, sondern Monokulturen wie die industriellen Getreideanbaugebiete, aus denen der Mittlere Westen der USA besteht. Sieht so eine tragfähige Zukunft für die Menschheit aus? Können wir ohne die Wildnis überleben? Werden wir, falls alle Stricke reißen, in der Lage sein, Kolonien auf anderen Planeten zu errichten, die eine sich selbst erhaltende Menschengemeinschaft versorgen können?
Biosphäre 2 wurde vor 25 Jahren durchgeführt. Die Naturwissenschaften und die Technik haben seitdem phänomenale Fortschritte erzielt. Seit November 2000 sind Menschen Langzeitbewohner einer Raumkolonie: der Internationalen Raumstation (ISS). Die ISS, ein Wunder der Technik, umkreist die Erde auf einer Umlaufbahn in durchschnittlich 409 Kilometern Höhe. Sie ist die einzige menschliche Kolonie im All – durch die Schwerkraft aber weiter mit der Erde verbunden, wie ein Kind, das sich nicht traut, sich allzu weit von seiner Mutter zu entfernen. Nur durch internationale Kooperation mit Kontrollzentren in den USA, in Kanada, Frankreich, Deutschland, Russland und Japan ist es möglich, zwischen zwei und acht Astronauten in der Station am Leben zu erhalten. Zusätzlich zu den Anfangskosten von 100 Milliarden US-Dollar zahlt allein die NASA für ihren Anteil am Unterhalt der ISS drei Milliarden US-Dollar jährlich. Damit ist sichergestellt, dass die wenigen Besatzungsmitglieder über einen sicheren Sauerstoffvorrat verfügen, zu trinken und zu essen haben – und einen Schutzschild gegen die kosmische Strahlung und das tödliche Vakuum des Alls. Wenn wir aus Biosphäre 2 oder der ISS eines lernen können, dann: dass wir unsere eigentliche Biosphäre, die uns am Leben erhält, schätzen und würdigen sollten.
Hier auf der Erde müssen wir uns keine Sorgen wegen der kosmischen Strahlung machen. (Kennen Sie jemanden, der es tut?) Wir müssen uns keine Sorgen machen wegen des Sauerstoffs, den wir atmen, oder gar für ihn zahlen. Bis vor Kurzem mussten viele von uns nicht einmal für das Wasser zahlen, das sie trinken – es fällt vom Himmel oder sprudelt aus ewig fließenden Quellen. Daneben erwerben wir unsere Lebensmittel zu billig, da wir nichts für das Sonnenlicht zahlen, das die Pflanzen am Leben erhält, oder für die Bienen, die unsere Obstgärten bestäuben – und bis vor Kurzem auch nichts für die Umweltkosten, die durch die industrielle Nahrungsmittelproduktion entstehen.
Wenn es so schwierig ist, selbst kleine Ökosysteme am Laufen zu halten, damit sie eine Handvoll Menschen versorgen können, wie können dann neun Millionen Pflanzen- und Tierarten und eine Billion Mikrobenarten koexistieren und unser Überleben ermöglichen? Wie schafft es die Biosphäre 1, alles am Leben und im Gleichgewicht zu halten? In welcher Weise sind wir für unser eigenes Überleben von diesen anderen Arten abhängig?
Dieses Buch möchte Antworten auf diese Fragen geben.
IN DEN VERGANGENEN 30 JAHREN habe ich mich vorwiegend mit marinen Ökosystemen befasst. Die wissenschaftliche Beschäftigung damit begleitet mich seit dem Beginn meines Biologiestudiums 1986.
Erste Ausflüge in die Meeresbiologie unternahm ich als Student noch im Grundstudium, als ich Meeresalgen an den katalanischen Felsküsten Spaniens untersuchte. Als Erstes musste ich sie bestimmen – das heißt, ich musste die einzelnen Arten zu unterscheiden lernen, so wie Botaniker eine Eiche von einer Fichte unterscheiden können. Allein an der katalanischen Küste gibt es mehr als 500 verschiedene Algenarten, das war also keine leichte Aufgabe. Vor dem Internet waren die einzigen Quellen zur Bestimmung die in Fachzeitschriften veröffentlichten Monografien. Sie lagen in Universitätsbibliotheken aus oder waren, häufiger noch, nur in den Privatbibliotheken einer Handvoll Professoren verfügbar, die sich dem Algenstudium verschrieben hatten. Zu meinem Glück wurde in meinem zweiten Studienjahr an der Universität Girona, meiner Heimatstadt, einer von ihnen, Lluís Polo, mein Botanikprofessor.
In den Sommermonaten arbeitete ich abends im Strandrestaurant meines Onkels. Waren die letzten Gäste gegangen (was im mediterranen Sommer erst nach Mitternacht geschah), hatte ich die Speisekarten einzusammeln und die Kühlschränke in der Bar aufzufüllen. Während meine Kollegen nach Hause oder zum Feiern in eine der lokalen Diskotheken gingen, schleppte ich Soda-, Bier und Mineralwasserkästen aus dem Lagerraum hinter dem Restaurant in die Bar. Es wurde meistens nach ein Uhr, bis ich erschöpft das Restaurant zusperrte. Mein Schlaf allerdings war immer etwas unruhig. Denn ich wusste, ich musste früh wieder raus, um noch vor den Touristenhorden in eine der nahe gelegenen Buchten zu kommen.
Kurz nach acht Uhr ging ich an geschlossenen Restaurants, noch nicht geöffneten Geschäften für Strandutensilien und Parfüms und bereits geöffneten, aber noch verschlafenen Zeitungskiosken vorbei. Bei mir hatte ich eine Netztasche mit Tauchermaske, Schnorchel, Flossen, einem stumpfen Küchenmesser, einer alten Strumpfhose und einem Badetuch. Ich stieg über die in den Stein gehauenen Stufen und schlängelte mich durch orange- und pinkfarbene Felsen. Gekrönt wurde diese Landschaft von grünen Pinien, die sich zum Mittelmeer hin duckten, als wollten sie sich vor dem Meer verbeugen. Am Fuß der Stufen lagen, geschmiegt in Felsvorsprünge, kleine Sandbuchten. Die sanften Wellen des vormittäglichen Meeres küssten den Strand mit säuselnder Regelmäßigkeit, sodass ich, hätte ich mich nur für eine Minute im Sand ausgestreckt, unweigerlich eingeschlafen wäre. Aber ich sprang, bewaffnet mit dem Messer und der Strumpfhose, in das klare türkise Wasser und machte mich auf die Suche nach Algen, nach so vielen unterschiedlichen Arten wie möglich, immer Ausschau haltend nach denen, die ich noch nicht gesehen hatte. Das war mein kleines Paradies.
Zwei Tage in der Woche nahm ich den 8-Uhr-Bus ins 36 Kilometer entfernte Girona und besuchte Polo in seinem Labor. Er war es, der mich in die wunderbare Welt der Algen einführte. Als Erstes lernte ich sie in die drei augenscheinlichen Gruppen einzuordnen: Braun-, Rot- und Grünalgen. Allerdings sahen manche Algen zwar braun aus, gehörten aber zu den Rotalgen. Mir wurde klar, dass manche Dinge in der Natur nicht so offensichtlich waren, wie sie schienen. Die Artenvielfalt war erstaunlich: Es gibt Braunalgen, die wie 30 Zentimeter lange Weihnachtsbäume aussehen; Grünalgen, die kleinen Salatblättern gleichen und nur zwei Zellen dick sind; und winzige Rotalgen, nicht dicker als ein menschliches Haar, die, wie erst unter dem Mikroskop zu erkennen ist, sich verzweigen und vollkommen symmetrische, aus abwechselnd roten und transparenten Zellbändern bestehende Muster ausbilden.
In seinem Algenreichtum war das Mittelmeer so vielfältig wie jedes exotische Korallenriff, nur in einem sehr viel kleineren Maßstab. Ein anderer Experte, der später zu meinem Mentor und einer meiner engsten Freunde werden sollte, Enric (Kike) Ballesteros, entnahm aus 40 Metern Tiefe eine Wasserprobe und fand darin 149 unterschiedliche Algenarten, das alles auf einer Fläche, die nicht größer war als ein Kaffeetablett. Sehr schnell stellte ich fest, dass die Algen nicht überall zu finden waren. Jede Art hatte ihren bevorzugten Standort. Manche Algen wuchsen nur auf anderen Arten, manchmal fanden sich Algen, die auf Algen wuchsen, die wiederum auf Algen wuchsen. Und die Algen ganz unten wuchsen vielleicht auf einem Fels oder einem Krebs oder einer Muschel. Eine Gesetzmäßigkeit aber gab es: Unterschiedliche Arten – und die von ihnen gebildeten charakteristischen »Gemeinschaften« – fanden sich in unterschiedlichen Tiefen und waren damit unterschiedlichem Wellengang und unterschiedlicher Sonneneinstrahlung ausgesetzt (oben auf einem Unterwasserfelsen zum Beispiel oder an der Kante eines Felsüberhangs). Polo und Ballesteros lehrten mich, dass Algengemeinschaften prägnante Gürtel bilden, die sich in vorhersagbaren Tiefen befinden. Manche Algen – jene »Weihnachtsbäume« – leben nur an der Schnittstelle zwischen Fels und Meer, an rauen, der Brandung ausgesetzten Standorten, weil sie nur dort vor Goldstriemenschwärmen geschützt sind, einer Seebrassenart mit länglichem silbernem Körper und goldenen Streifen (deren Verzehr beim Menschen Halluzinationen auslösen kann). Andere Algen wachsen in Hülle und Fülle auf Unterwasserfelsen. Sie können auf den Schutz der Brandung oder felsiger Überhänge verzichten, da sie chemische Verbindungen produzieren, die sie für Fische ungenießbar machen.
Beim Sortieren der Algen im Labor entdeckte ich Tausende kleiner Lebewesen, die zwischen ihren Zweigen leben – Krebse, garnelenartige Amphipoden, Asseln, Würmer, Schnecken, Fadenschnecken und viele andere. Manche von ihnen ernähren sich von den Algen, andere ernähren sich von anderen Mitbewohnern, und alle verstecken sich unter dem Algendach vor größeren Fischen. Je mehr ich entdeckte, desto mehr Welten tauchten vor meinem Auge auf. Mein Wissensdurst war nie gestillt, und ich verschrieb mich der Meeresbiologie mit Leib und Seele.
ZEHN JAHRE SPÄTER. NACH meiner Promotion erhielt ich eine Stelle an der renommierten Scripps Institution of Oceanography in La Jolla, Kalifornien. Als Universitätsprofessor gehörte es zu meinen Aufgaben, die zukünftigen Wissenschaftler auf dem Gebiet der Meeresökologie und des Umweltschutzes auszubilden, wissenschaftliche Forschung zu betreiben und Fachbeiträge zu publizieren. Aber die Orte, mit denen ich mich beschäftigte, Orte, die ich von Herzen liebte, fielen dem unerbittlichen Vorschlaghammer des Menschen zum Opfer. Überall starben Korallen und Seegräser, Fische wurden schneller aus dem Wasser geholt, als sie sich vermehren konnten. Einst üppige Unterwassergärten, in denen es vor großen Tieren nur so gewimmelt hatte, wurden zu toten, von Braunalgen überwucherten Riffen und trüben Quallendystopien.
Eines Tages wurde mir klar, dass ich mit meinen wissenschaftlichen Artikeln im Grunde nichts anderes verfasste als Todesanzeigen für das Meeresleben. Tatsächlich entwarfen ich und meine Kollegen diese Todesanzeigen jedes Mal aufs Neue, nur immer ausführlicher und detaillierter. Ich kam mir vor wie ein Arzt, der dem Patienten in aller Ausführlichkeit mitteilte, dass er sterben würde, ohne ihm ein Heilmittel zu verschreiben.
Das war der Auslöser, warum ich dem akademischen Lehrbetrieb den Rücken kehrte und beschloss, mich dafür einzusetzen, den Abbau der Meere rückgängig zu machen. So trug ich in den vergangenen zwölf Jahren als National Geographic Explorer-in-residence bei der Arbeit für das Pristine Seas Project dazu bei, einige der letzten ursprünglichen Meeresabschnitte zu bewahren. Unser Team erhielt Einblick in vollkommen intakte, funktionsfähige Ökosysteme. Ich unternahm weltweit Tauchgänge, von den Polarregionen über die gemäßigten Zonen bis zu den Tropen, ich konnte forschen und wissenschaftlich arbeiten. Ich bekam zerstörte und unberührte Zonen und die gesamte Bandbreite dazwischen zu sehen. Ich erlebte, dass sich überfischte Populationen wieder erholten, nachdem die Fischerei eingestellt wurde. Ich wurde Zeuge, wie die Natur manchmal wieder aufblühte und manchmal erlosch. Ich durfte miterleben, was nur wenigen Menschen gegeben war, und ich begriff, auf rationaler und spiritueller Ebene, warum wir alle Arten um uns herum brauchen.
Das alles fing damit an, dass ich die diversen Arten zu unterscheiden lernte, weil ich wissen wollte, wer meine neuen Freunde waren. Dazu kam die Beobachtung, wer neben wem und wo lebt. Dann, wer wen frisst. Und dann, später, die Erkenntnis, welche Auswirkungen das menschliche Handeln auf die Natur hat.
Die Natur der Natur beschreibt, wie Natur funktioniert, skizziert die Folgen, die eintreten, wenn sie durch menschliches Tun zerstört wird, und liefert praktische Lösungen – samt einer Beschreibung der gesellschaftlichen und ökonomischen Nutzen. Die nächsten zehn Kapitel sind ein Crashkurs in Ökologie – man könnte sie »Ökologie für Eilige« nennen: Was tun Arten? Wie leben sie zusammen? Wie funktioniert und »selbst-organisiert« sich die Natur im Vergleich zu der vom Menschen geschaffenen Umwelt? Das wiederum hat Auswirkungen darauf, wie unsere Gesellschaft und Wirtschaft effizienter gestaltet werden könnten. Ich biete darin einen Mix aus ganz persönlichen Erfahrungen und Geschichten von großen Wissenschaftlern, von denen ich mit einigen zusammenarbeiten durfte. Im 12. Kapitel beschäftige ich mich mit dem moralischen Aspekt, der es gebietet, das Leben auf der Erde zu erhalten. Denn Nützlichkeitserwägungen können nicht die einzige Perspektive sein, unter der wir die Welt sehen. Mit anderen Worten: Haben andere Lebewesen ein Recht auf Leben und warum? Im 13. Kapitel erkläre ich, warum es ökonomisch sinnvoll ist, die Natur zu schützen, statt sie auszubeuten.
Das 14. Kapitel fasst die Lektionen des Buches zusammen und schlägt praktische Lösungen zum Schutz der Biosphäre und der menschlichen Gesellschaft vor. Ursprünglich war es als letztes Kapitel gedacht. Vor Drucklegung aber kam es zur COVID-19-Pandemie. Die Herausgeber und ich beschlossen, alles zu stoppen, damit ich einen letzten Abschnitt darüber verfassen konnte. Das neuartige Coronavirus stellte sich als der mächtigste Weckruf für die Welt heraus und macht deutlich, welche enormen gesundheitlichen Gefahren sich für die Menschheit ergeben, wenn die Beziehung zur Natur gestört ist.
Indem ich den Verstand und das Herz anspreche und gleichzeitig einen Blick ins Portemonnaie werfe, hoffe ich, eine innere Wertschätzung für alles Leben auf der Erde zu wecken. Denn unser Ziel sollte es sein, ihr mit größerer Demut gegenüberzutreten und zu verstehen, warum wir eine Welt brauchen, in der auch die Wildnis ihren Platz hat.