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Dritte Rede
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Die Lehre ist zwar älter als die Lehrer und die Lernenden, sie ist jedoch die Gespielin der Jugend, um bei allen alles zu sein: Lehrerin bei den Meistern und Lernende bei den Schülern. Sie lehrt und lernt also, da sie auf beiden Seiten tätig ist. Mit den Beredten erwirbt sie Ruhm, bei den Klugen zeigt sie ihre Weisheit. Sie weilt bei den Einfältigen und bei den Scharfsinnigen, in jedem Maße [je nach der Fähigkeit des Einzelnen] teilt sie sich allen Seelen mit. Jedem Dinge gibt sie sich als die Herrin aller Dinge hin. Sie paßt sich [verschiedenen] Maßen an, obschon sie über jene erhaben ist, die sie messen wollen. Die Lehrlinge können sie nicht ausmessen, da ihre Kräfte dazu nicht ausreichen; es gibt keine Meister, welche ihr Maß finden könnten, da sie ihre Quellen nicht zu erschöpfen vermögen.
2.
Während aber die Lehre größer ist als die Lehrer und die Lernenden, so ist sie doch viel kleiner als ihr Schöpfer, weil sie unfähig ist, ihn zu erforschen. Kein Lernender vermag zu begreifen, wie groß die Macht des Schöpfers ist. Er kann nicht ermessen, was er erschuf, noch was er zu erschaffen imstande ist; denn diese Geschöpfe, die er schuf, und diese Werke, die er wirkte, machen nicht die ganze Macht des Schöpfers aus. Nicht deshalb, weil er es nicht könnte, will er nicht mehr erschaffen. Sein Wille ist unbeschränkt; wenn er wollte, könnte er tagtäglich erschaffen; allein dann entstünde ein Wirrwarr. Wenn die Geschöpfe immer mehr würden, dann würden sie wegen ihrer Unzahl einander gar nicht mehr kennen lernen können. Obwohl er ihnen allen gewachsen bliebe, so würden sie doch sich nicht gewachsen sein. Zu welchem Nutzen würde er sie dann erschaffen haben, wenn sie doch einander fremd bleiben müßten? Was auch immer der Schöpfer erschuf, es geschah nicht, um sich selbst größer zu machen; denn er war nicht kleiner, bevor er schuf, noch wurde er größer, nachdem er geschaffen hatte. Seine Werke wollte er groß machen; darum schuf er mit Maß. Wohl hätte er diese Schöpfung unendlich groß machen können; allein dann wären ihre Bewohner in Verwirrung geraten, und mit der Verwirrung wäre Schaden verbunden gewesen; denn man hätte weder auf die Gerechten gemerkt, noch auf die Propheten geachtet. Wäre die Schöpfung hundertmal größer, als sie wirklich ist, so wären die Prediger außerstande, der ganzen Schöpfung zu genügen 53. Gott stellte Jerusalem in die Mitte [der Welt], damit die ganze Schöpfung auf dasselbe merke. Als er daher die Israeliten aus Ägypten herausführte und als er sie später aus Babel heimführte, bemerkte ihren Wegzug und ihre Heimkehr die ganze Schöpfung. Wäre aber die Welt größer, als sie es in der Tat ist, so hätte sie es nicht in dieser Weise bemerken können. Nur der könnte sie dann erfassen, der nach allen Seiten hin größer ist als sie. Die Schöpfung hätte davon nicht den gleichen Nutzen wie jetzt. Denn wenn sie schon jetzt, wo sie doch [verhältnismäßig] klein ist, von irrigen Reden erschüttert wird, um wieviel mehr würde sie erschüttert werden, wenn sie noch größer wäre? Auch könnte die Sonne nicht von einem Ende zum andern eilen, da der Zwischenraum zu groß wäre, der Tag würde zum Jahre werden. Es würde ein großer Nachteil sein, wenn die Ordnung zerstört würde. Winter und Sommer würden zu lange dauern, Tag und Nacht endlos sein. Wann würde die Saat keimen und wann die Frucht reifen? Er könnte es allerdings so einrichten, aber für uns wäre es zu drückend. Also nicht gemäß seiner Macht schafft der Schöpfer alles und jedes, sondern nach der Maßgabe unseres Vorteils schafft und wirkt er alles.
3.
Aus diesem unendlichen Schoße ging der unerforschliche Sohn hervor. Willst du ihn dennoch erforschen, so will ich dir Berater sein. Gehe hin und erforsche zuerst seinen Vater, erprobe deine Kraft an seinem Erzeuger, mit seiner Ergründung beginne und ende! Miß ihn nach Länge und Breite! Wenn du den Ewigen 54 gemessen haben wirst, dann hast du auch den Sohn aus seinem Schoße gemessen. Bist du imstande, den Vater zu messen, so bist du es auch beim Eingeborenen. Aber du vermagst dies weder beim Ewigen noch bei seinem Sohne. Steige also, Schwächling, wieder aus dem Meere [der Forschung] empor! Komm, wir wollen uns dem verlassenen Gegenstande wieder zuwenden! Lassen wir doch nicht das Bekannte fahren, um uns mit dem abzumühen, was wir doch nicht erkennen [können]!
4.
Der Schöpfer erschafft also nicht, soviel er kann. Er schafft nicht soviel, als er kann, sondern soviel, als es sich geziemt. Würde er nämlich in einem fort erschaffen und sein Wirken nicht beschränken, so wäre dies ein maßloses Gebaren, das der Klugheit entbehren würde. Er würde einem Brunnen gleichen, der immerfort ohne Beschränkung fließt. Der Schöpfer wäre eine Quelle, die durch ihre Natur gebunden ist und daher ihren Lauf nicht hemmen kann; denn er hätte keine Gewalt über seinen Willen. Wie er uns nur dadurch, daß er [seiner Schöpfermacht] freien Lauf läßt, seinen Willen offenbart, so kann er uns nur dadurch seine Macht zeigen, daß er sie zurückhält. Er beginnt [zu erschaffen], um Geschöpfe aufzustellen; er hört auf, um Ordnung herzustellen. Wenn er täglich Himmel und Erde und Geschöpfe erschaffen würde, so wäre sein Wirken eine Verwirrung ohne Ordnung, und er wäre im Wirken nicht groß, weil er an Weisheit klein wäre. Es muß ja auch der redende Mund nach einer gewissen Ordnung reden. Muß er denn nicht, obwohl er reden kann, auch wieder zu reden aufhören? Das Reden fällt aber dem Munde nicht so leicht wie das Schaffen dem Schöpfer. Die Schöpfungen sind für den Schöpfer viel leichter als die Worte für die Redenden; aber deshalb, weil er schaffen könnte, erschafft er doch nicht immerfort Neues. Er gibt den Menschen beim Reden Ordnung; um so mehr wird er Maß halten, obwohl er stündlich erschaffen könnte. Er hörte also zu schaffen auf, um zu ordnen, was er geschaffen.
5.
Wer wäre wohl imstande, anzugeben, wieviel er hätte schaffen können? Viel ist, was er schuf; viel auch, was er zu schaffen unterließ. Was er erschaffen hat, ist unermeßlich, und was er ungeschaffen ließ, ist unerforschlich. Alles, was er durch seinen Wink hervorbringt, ist aus nichts. Es ist den Forschern gänzlich verborgen, mag es sichtbar oder unsichtbar sein. Du erkennst nicht, wieviel er gemacht hat, noch wieviel er machen kann. Nur der Eingeborene, der in seinem Schoße verborgen ist, kennt das Wie und das Wieviel. Denn der Sohn, der verborgen und offenbar ist, kennt das Verborgene und das Offenbare. Wie könnte aber ein Lehrling zu den Quellen gelangen, die für ihn unzugänglich sind? Den Schwachen und Ohnmächtigen [im Begreifen] könnte [vielleicht] die [Rechnungs-] Lehre hierzu 55 behilflich sein, sie lehrt ja beim Multiplizieren 56 schnelle Sprünge machen. Sie vermehrt 10 mit 10 und springt so auf die Zahl 100; sie vermehrt 100 mit 10 und gelangt zur Zahl 1000; sie springt von einem Tausend zum andern und von einer Myriade zur andern. Daraus kannst du schließen, daß sie auch im übrigen ebenso flink ist 57.
6.
Die Wissenschaft ist die verborgene Brücke der Seele, auf der sie zu den verborgenen Dingen hinübergeht. Sie ist der Schlüssel der Armut, womit diese sich Schatzkammern aufschließt. Sie ist die Ehre des Alters, welches durch sie der Jugend Einsicht mitteilt. Sie ist die Schutzmauer der Jungfräulichkeit, von der sie die Räuber abhält. Sie unterwarf das Meer den Seefahrern und das Land den Bauern; sie legte den Schiffen Zügel an und machte sie über das Meer eilen. Wagen auf dem Meere entstanden ihr, und Schiffe bereitete sie sich auf dem Lande. Sie nimmt sich der Schwachheit an und macht sie kräftig; sie naht sich der Ausgelassenheit und macht sie besonnen. Sie naht sich der Unwissenheit und lehrt sie eine Menge von Kenntnissen; sie naht sich der Stummheit und bringt sie zur Beredtheit. Streng tritt sie mit dem Richter auf, demütig mit dem Schuldigen. Jenen lehrt sie, wie er zu strafen; diesen, wie er zu flehen hat. Sie forscht mit den Forschenden und untersucht mit den Unterrichteten; sie sucht auf der einen Seite und findet auf der andern Seite. Beides ist in ihr verbunden, weil sie zu beidem Dienste leistet. Ohne mit Gewalt zu zwingen, herrscht sie doch über alles. Sie lehrt den Künstler, aus etwas etwas zu machen, damit er Gott kennen lerne, der alles aus nichts macht. So belehrt sie den Geschaffenen, daß sein Schöpfer größer ist als er; denn der Geschaffene schafft aus etwas, der Schöpfer aus nichts.
7.
Meine Brüder! Erwecken wir doch unsere Schläfrigkeit, damit die Wächter [Engel] sich über unser Erwachen freuen! Wappnen wir uns mit dem Glauben und töten wir das Böse, das uns den Tod gebracht hat! Der Gestank unserer Verwesung schlägt uns ins Gesicht, weil unser Geruch nicht in Christus gut ist 58. Der wache Krieg unserer Streitigkeiten schläfert die Wächter durch seine Kämpfe ein. Weil die Priester sich auf die Disputation werfen, stürzen sich die Könige in den Kampf. Der äußere Krieg läßt nicht nach, solange der innere Krieg wütet. Der Hirte 59) kämpft mit seinem Genossen, der Priester mit seinem Amtsbruder. Bei dem Streite der Hirten gehen Herde und Weide zugrunde. Während die Hirten uns ganz besonders fein weiden wollten, haben sie unsere gute Weide zertreten, die uns in schlichter Weise erhalten hatte. Während wir nach unserer Bereicherung strebten, raubte man uns all unser Gut. Man hat die Lampe der Wahrheit verborgen, um diese in der Finsternis zu suchen. Die Wahrheit erschallt laut in der Welt, aber man sucht sie in Schluchten. Die Kinder des Lichts stören die im Finstern lagernde Grübelei auf und suchen die offen zutage liegende Wahrheit, als wäre sie verloren gegangen. Sie suchen einen hohen Berg in engen Schluchten; er überragt die ganze Schöpfung, und sie suchen ihn wie schwachen Schimmer. Sie mühen sich ab, die Wahrheit zu erforschen, die doch ausgedehnter als alles ist. Sie wollen sie nicht sehen; statt dieser suchen sie etwas anderes. Sie mühen sich ab, die Wahrheit zu vernichten, welche doch sie gefunden hat, Der Forscher kann allerdings zugrunde gehen, nicht aber die Wahrheit Der Blinde sieht vom Lichte nichts, obwohl es sich bei ihm befindet. Der Taube vernimmt von der Stimme nichts, wenn sie auch neben ihm ertönt. Der Tor ist ferne von der Wissenschaft, wenn auch vor ihm die Bücher aufgeschlagen sind. Mögen gleich alle Kenntnisse naheliegen, die Toren sind doch davon entfernt. Götzenpriester erkannten die Wahrheit, aber christliche Priester suchen sie immer noch. Sogar Magier erkannten, daß ihre Kräfte durch die Kraft der Wahrheit gebrochen wurden. Selbst Sterndeuter erkannten, daß ihre Bücher durch das Buch der Wahrheit abgetan sind. Ebenso erkannten Wahrsager, daß die Wahrheit ihre Schwindeleien zunichte gemacht hat. Teufel erkannten, daß durch die Gesänge der Wahrheit unreine Geister ausgetrieben wurden. Heiden erkannten, daß durch den wahren Gott die Götzen vernichtet wurden.
8.
Die Wahrheit ruft laut in der ganzen Welt, die Grübler aber suchen sie, wo sie sich etwa befinde. Sogar Feinde des Sohnes erkannten sie, aber Verkünder von ihr suchen sie noch. Das jüdische Volk verleugnete ihn [den Sohn = Christus] zwar, wußte aber doch, wer es ausrottete. Wenn sie es auch nicht eingestanden, so erkannten sie doch, woher dies über sie kam. Die Kirche, Christi Braut, belehrt sie, daß ihretwegen 60 Jerusalem verlassen wurde. Das Priestertum, das er gab, zeigt ihnen, daß ihr Priestertum durch ihn aufgelöst ist. Die Propheten, die er uns gab, verkünden laut, daß durch ihn alles in Erfüllung gegangen sei.
9.
Der Satan legte in seinem Neide den Grüblern Streitfragen vor, damit durch die von ihm eingeführten Kontroversen verkehrte Lehren ausgesprochen würden. Nach außen erschienen sie als tugendhaft, während ihr Inneres ganz verdorben ist. Die Einfältigen finden den Sohn, die Gelehrten suchen ihn. Ferne kamen und wurden Jünger; Fremde kamen und wurden Hausgenossen; Auswärtige staunten, daß die Einheimischen noch suchen. Was jetzt am Ende [nach der Einführung des Christentums] vorgeht, gleicht dem, was am Anfang geschah. Die Magier gewahrten in der Ferne den König der in Bethlehem geboren war. Die harmlosen Magier dachten, die Schriftgelehrten und die Hebräer würden den dort geborenen Königssohn auf ihren Händen im Triumphe umhertragen; die Fernen kamen und fanden, daß die Nahen ihn nicht kannten. Der König befand sich unter ihnen, und sie plagten sich mit Nachfragen. Der König war schon tatsächlich geboren, sie aber grübelten noch darüber nach, ob er geboren sei. Die Fremden wunderten sich, daß sie noch in der Schrift über seine Geburt nachforschten. Das Unterpfand [seiner Geburt] war bei den Auswärtigen, die Nachforschung aber bei den Einheimischen. Sein Bote [der Stern] war vor den Fremden, die Unsicherheit über ihn bei den Hausgenossen. Die Magier ließen sich jedoch nicht irre machen durch die, welche ihn suchten; sondern verließen sie und gingen mit ihren Geschenken geraden Weges zu dem Erstgeborenen. Die offenbare Wahrheit war bei den Magiern, das Fragen bei den Pharisäern.
10.
Auch ihr, Lehrlinge, laßt euch nicht dadurch verwirren, daß eure Lehrer die Wahrheit erst suchen! Wie die Magier jenen, über den sie nachfragten, in Bethlehem fanden, so wird er auch von dem, der ihn redlich sucht, in der hl. Kirche gefunden. Ahme den Magiern nach und bringe reinen Lebenswandel als Geschenk dar! Bete den Sohn mit gesundem Glauben an, so wie du ihn gefunden hast und wie er sich dir geoffenbart hat! Gleichwie nämlich die Magier beim Aufleuchten des von ihm gesandten Sternes sich zu ihm aufmachten, so findet ihn der Suchende auch in der Offenbarung, welche Simon ausgesprochen hat 61. Es möge dich doch die gegenwärtige Zeit, die der früheren gleicht, nicht ängstigen! Die Ankunft des Sohnes, als er zum erstenmale erschien, ist jener ähnlich, wo er wieder erscheinen wird. Denn wie bei der damaligen Ankunft die Fragen der Gelehrten verwirrt waren, ebenso sind sie es jetzt vor seiner Wiederkunft. Auf einem Füllen reitend zog er ein; vor ihm her riefen Heiden. Die einheimischen Beschnittenen hörten den Ruf und begannen, von den Völkern zu lernen; denn sie fingen an zu fragen, wer denn derjenige sei, der da komme. Da es den Hausgenossen entgangen war, lernten sie es von den Auswärtigen. Sie erkundigten sich bei diesen, um von den Außenstehenden ihre eigenen Angelegenheiten zu erfahren. Die heidnischen Völker, die zu den Festen der Blinden 62 gekommen waren, unterrichteten die Hebräer und erzählten ihnen von ihren eigenen Dingen. Die Unbeschnittenen riefen den Beschnittenen zu: Dieser ist Jesus von Nazareth! Die Hebräer fingen an, von den Heiden die Erklärung dieses Namens, der in den Schriften der Blinden aufgezeichnet war, zu lernen. Sie lernten von Fremden das Studium ihrer eigenen Bücher, und Weitentfernte belehrten sie über die Auslegung ihrer eigenen Schriften. Laß dich also nicht verwirren, Zuhörer, wenn ein Gelehrter verkehrte Lehren vorträgt! Erliege nicht, Lehrling, wenn ein Forscher sich verirrt! Wenn dein Lehrer abirrt, so gehe hin und lerne aus den hl. Schriften, daß Kluge nicht strauchelten, wo Forscher abirrten, und daß Hörer nicht sich beirren ließen, wo Lehrer fehlgingen! Nicht Menschenwort trägt die Predigt des Evangeliums - das Menschenwort ist vergänglich, und alles fällt, was daran hängt -, sondern vom Worte Gottes hängt die Predigt der Wahrheit ab. Von diesem Worte, das alles trägt, hängt deine Belehrung, o Lehrling, ab. Wer den Weg verwirrt, gerät selbst dadurch in Verwirrung. Denn er weiß nicht, wie er gehen soll; der Weg ist vor ihm verloren gegangen. Für Kluge aber ist der Weg mit Meilensteinen und Herbergen besät.
11.
Wenn das ganze Volk sich bekehrt und in Sack und Asche gefleht hätte, dann hätte der Allerhöchste die Verkehrtheit der Oberhäupter nicht hingehen lassen. Allein der Priester war wie das Volk, und das Volk machte es den Priestern nach 63. Beide Parteien verdienen es, voneinander gequält zu werden. Der nachlässige Lehrer hat unruhige Schüler; sie werden von ihm verdorben, und er wird dafür von ihnen belästigt. Ein ausgezeichnetes Oberhaupt hat dagegen Untergebene, die ihm erquickende Ruhe gewähren. Sie werden von ihm behütet, und er wird hinwiederum von ihnen erfreut. Unsere Vorsteher haben uns vernachlässigt und wir sie. Unsere Leiden kümmern sie nicht, und wir sind gegen die ihrigen gleichgültig. An demselben Körper sind Spaltungen, weil Haupt und Glieder uneins sind. Die Tiere auf den Bergen sind einig, in der Kirche aber sind die Seelen uneinig. Wer fühlt wohl über dieses gemeinsame Leiden Schmerz? Nachdem wir den Weg vollendet haben, kehren wir um, seinen Anfang zu suchen. Wir sind am Ende des Weges angelangt und haben noch nicht begriffen, welches sein Anfang ist. Unsere Reise ist am Ende, und wir suchen noch ihren Anfang. Nachdem wir unter Meistern alt geworden, kommen wir dahin, wieder Schüler zu werden. Nachdem wir das Buch zu Ende gelesen haben, fangen wir an, lesen zu lernen.
12.
Knaben, die gestern noch in die Schule gingen, blühen plötzlich auf wie die Staude des Jonas 64. Siehe, schon bilden sie eine neue Glaubensnorm an Stelle jener, welche die Heiligen gebildet haben; sie ist aber voll des Stoffes zu Streitigkeiten, eine Quelle von Zwisten und Kriegen, selbst Bescheidene berauschend und in Raserei versetzend, so daß sie mit jedem Worte Unsinn reden. Sie macht den Mund zum Strome und das Gehör zur Furt. Stille und Schweigsame sehen sie und werden zänkisch und streitsüchtig. Freunde und Kameraden sehen sie und zücken die Zungen gegeneinander. Die sich sonst zärtlich liebten, sehen sie und hassen sich. Einträchtige und Gleichgesinnte sehen sie und verursachen Schismen und Spaltungen. Seit langer Zeit Vertraute sehen sie und zerreißen das Band langjähriger Liebe. Ehrwürdigkeit sieht sie und wird dadurch zur Ausgelassenheit. Verständigkeit sieht sie, und das Salz der Wahrheit wird schal. Die Demut sieht sie und bekommt Hörner zum Stoßen. Der Knabe, der am Anfang des Lebens steht, sieht sie und schmäht den sechzigjährigen Greis; der siebzigjährige Greis sieht sie und lästert siebenmal siebzigmal ärger. Hirten sehen sie und werden dadurch zu Tyrannen. Schweigsame Lämmer sehen sie und werden durch Grübeln zu Panthern. Tauben sehen sie und werden zu giftigen Nattern.
13.
Der Eingeborene hat zwei Seiten, eine verborgene und eine sichtbare. Die sichtbare läßt sich nichtverbergen und die unsichtbare läßt sich nicht erforschen. Der allerschlaueste Satan zieht uns von der sichtbaren Seite ab und umstrickt uns mit der verborgenen, damit wir ja nicht das Leben durch die sichtbare erlangen. Schauet den Vater, seinen Erzeuger, an! Auch er hat zwei Seiten. Daß er ist, begreift jedermann; aber sein verborgenes Wesen ist unerforschlich. Seine sichtbare Seite ist so offenbar, daß auch Toren erkennen, daß er ist; aber seine verborgene Seite ist so verborgen, dass selbst die Engel nicht begreifen, wie sie ist. Ja, nicht bloß diese Majestät [Gottes] ist unbegreiflich, sondern auch alle Geschöpfe haben zwei Seiten, eine sichtbare und eine verborgene. Man kann zwar die einzelnen Wesen erkennen, aber ganz erfaßt man sie nicht. Wenn also selbst die Geschöpfe dieses Zweifache an sich haben, daß sie verborgen und doch wieder sichtbar, erkennbar und doch wieder nicht erkennbar sind, um wieviel mehr muß dies dann beim Schöpfer und beim Sohne des Erschaffers der Fall sein, daß sich beides vorfindet: eine sichtbare 65 und eine verborgene Seite? Es gibt daher ein Wissen von seiner Sichtbarkeit und ein Nichtwissen von seiner Verborgenheit. So sicher man weiß, daß er ist, so wenig weiß man, wie er ist. Zur Erkenntnis seiner Sichtbarkeit gibt es einen Weg; Verwirrung aber ist es, seine Verborgenheit ergründen zu wollen.
14.
Frägst du, ob der Sohn existiert, so erfährst du dies im Augenblicke; frägst du aber, wie er ist, so bleibt die Frage offen, bis er kommt. Auch wenn du ihn sehen würdest, könntest du doch nicht wissen, wie er ist. Wenn du dann darüber forschen würdest, so würdest du gar nicht mehr sehen, was du früher gesehen hast. Und wenn du die geschaute Herrlichkeit untersuchen würdest, so würdest du nicht mehr wissen, daß du sie geschaut hast. Und wenn du dieses im Himmelreiche untersuchen wolltest, so bestünde dort deine Qual darin, daß du dich mit dem Forschen über Christus quälst, während die andern alle sich an Christus erfreuen. Eher wäre Hoffnung, aus der Hölle herauszukommen, als daß dort deine Pein aufhören würde, wenn du das Forschen nicht aufgeben würdest. Übrigens, wenn du in dieser Weise grübelst, so nimmt dich das Reich dort gar nicht auf, damit du nicht durch deinen Eintritt Zwietracht in den Ort der Eintracht hineinbringst. Das Himmelreich verschafft der hl. Kirche Sühne; denn die Aufwiegler, welche sie hier beunruhigen, kommen nicht in jenes Reich hinein. Die da Streitigkeiten verursachen, finden nicht Eingang in den Garten des Friedens. Die wahre Kirche diesseits ist ein Abbild des Reiches jenseits. Gleichwie nämlich im Himmelreiche Eintracht herrscht, so muß auch in der hl. Kirche Einigkeit sein. Wenn es dort keine Grübler gibt, warum sollen dann hier Forscher sein? Wenn dort Ruhe und Friede walten, warum soll dann hier Streit sein? Den Einen Sohn sieht man dort und durch ihn seinen Einen Erzeuger. Niemand forscht und grübelt dort, jeder betet an und lobpreist. Wenn dieses den Engeln genügt, warum sollte es nicht auch den Gefallenen genügen? Wenn Geist und Feuer schweigen, soll sich dann Staub und Asche lächerlich machen? Der Himmel und seine Bewohner benehmen sich ehrfurchtsvoll, die Erde und ihre Bewohner dagegen wahnwitzig.
15.
66 Gebenedeit sei derjenige, der wegen dieser Verkommenheit Drangsale herbeiführte. Er hat offenkundige Räuber herbeigeführt, weil uns Nachbarn im tiefsten Frieden beraubt haben. Er hat den Weg der Irrgläubigen begünstigt, weil die Gelehrten ihn verkehrt haben. Die Irrgläubigen verwüsteten das Heiligtum, weil wir die Lüge mit der Wahrheit verbanden. Weil die Priester einander stießen, darum erhoben die Irrgläubigen das Horn. Welche Rolle wäre für uns groß genug, um darauf die Streitigkeiten zu schreiben? Weil die Brüder sich gegenseitig verfolgten, darum verfolgt nun einer viele 67 Weil wir uns von unserem Helfer abgewendet haben, machte er uns zum Gegenstande des Schimpfes für unsere Nachbarn. Da seine Worte uns gleichsam zum Gespötte geworden sind, so sind auch wir zum Gespötte und zum Gerede geworden. Betrachten wir die Künste und nehmen wir von ihnen ein Beispiel! Wer ausgezeichnet arbeitet, dessen Kunst wird gerühmt; wer aber seine Kunst stümperhaft und schmählich betreibt, der wird auch von allen geschmäht. Der Schöpfer hat also den Künsten die Gerechtigkeit beigesellt, damit auf die Künstler die Unbilden zurückfallen, die sie den Künsten antun. Um so mehr wird bei dem, der der Gerechte ist, das Gebührende besorgt werden. Weil wir unseren Weg verachtet und großer Beschimpfung preisgegeben haben, so hat uns der Herr unsern Nachbarn zum Schimpfe gemacht, so daß wir von ihnen Verhöhnung davontragen. Seht, die Irrgläubigen fragen uns: „Wo ist denn da die Kraft der Wahrheit?“ Also an uns wird jetzt die Kraft geschmäht, die alle Kräfte überwindet! Weil unser freier Wille seine Kraft verbarg und die Wahrheit nicht siegreich verteidigte, so verbarg auch die Wahrheit ihre Kraft, damit die Irrgläubigen uns verhöhnen.
16.
Grausame Rächer haben sich erhoben, freche Räuber sind eingedrungen. Weil wir durch Grübelei entzweit sind, haben sie sich zum Kriege vereinigt. Weil wir durch Forschen entzweit sind, verbinden sie sich zur Plünderung. Weil wir dem Sohne nicht gehorchen, gehorchen sie ihrem Oberhaupte, Weil wir das Gebot verachten, ist dort das Gebot stramm. Weil hier die Anordnungen [mit Füßen] getreten werden, werden sie dort genau beobachtet. Dort erwachen die Gesetze, die bei uns gestorben sind, zu neuem Leben. Weil wir unter uns uneins sind, folgen dort alle Einem. Niemand forscht über den König nach und fragt, wie und wo er sei; wir aber grübeln zum Zeitvertreib über den Sohn des Herrn des Alls nach. Schon durch den Wink jenes Sterblichen werden seine Heerscharen erschreckt; in der Kirche werden die hl. Schriften mit Füßen getreten, und man erzählt sich dafür seine eigenen Phantasien 68. Was wir hier ausgeliehen haben, das wird uns von dort heimgezahlt 69 Die Habgier 70 ist anderswo erloschen, hier dagegen ist ihre Glut entbrannt. Die Diebereien, die dort nachgelassen haben, stehen hier in [voller] Kraft. Während man dort der Blutsaugerei zu Leibe geht, findet sie bei uns freudiges Entgegenkommen. Während dort die Betrügerei abflaute, haben wir hier ihre Stärke verdoppelt. Und wenn wir auf die Wahrheit zu sprechen kommen, wer steht bei uns in der Wahrheit fest?
17.
Siehe, auch sie [die Wahrheit] ist gegen uns: denn gerade durch die Irrgläubigen richtet Er uns. Dort wird die Sonne verehrt, aber niemand grübelt über sie, die doch nur ein Geschöpf ist; hier aber verachten wir den Schöpfer, indem jedermann den Anzubetenden untersucht. Statt des Feuers, das man dort anbetet, erforscht man hier dessen Herrn. Dort wird das Wasser verehrt, wir aber schätzen unsere Taufe gering. Jene verehren in ihrem Irrtum Geschöpfe statt des Schöpfers; wir aber, die wir doch die Wahrheit kennen, ziehen ihm den Mammon vor. Wir sind noch darauf sehr stolz und irren gegen besseres Wissen. Weil wir unserem Denken keine Schranke ziehen, stürzen die Feinde die Mauern unserer Stadt 71 um, und weil wir unserem Sinnen keine Ruhe gönnen, verwüsten Auswärtige unsere Fluren. Weil unser Herz ganz an der Erde hängt, begraben sie uns unter Erdhaufen 72. Weil wir nicht nach der Liebe dürsten, werden wir durch Durst gestraft. Weil wir des Erwerbs wegen umherschweifen, irren unsere Gefangenen 73 im Gebirge umher. Weil wir Spreu statt Weizen geworden sind, worfelt uns der Ostwind 74. Weil wir nach allen Seiten hin ausschwärmen, werden wir nach allen Seiten hin zerstreut. Weil wir nicht zu dem einen Zufluchtsorte eilen, werden wir von einem Orte zum andern gejagt. Weil wir mitten im Frieden tot waren, darum entschlafen wir auf den Straßen. Weil wir die Armen nicht speisen, sättigen sich die Vögel an unseren Leichnamen. Unsere Hirten, die sich so sehr brüsteten, werden nach dem Lande der Magier geschleppt. Unreine stecken unsere Kirchen in Brand, weil wir darin nicht richtig beten; den Altar zertrümmern sie, weil wir ihm nicht gewissenhaft dienen. Die hl. Schriften zerreißen sie, weil wir deren Vorschritten nicht beobachten.
18.
Doch er, den wir verließen, verläßt uns nicht; er will uns nur züchtigen und dadurch wieder gewinnen. Es erhob sich eine einige Macht und drang auf unsere entzweite Einigung ein. Scharfe Gewalthaber standen auf, räuberische Richter drangen ein. Von der Ferne rückte ein Krieg an, weil mitten unter uns ein großer Krieg war. Bevor die Bogenschützen kamen, waren versteckte Bogenschützen bei uns. Bevor die gezückten Schwerter kamen, waren gezückte Zungen unter uns. Durch den Haß, den in unserer Mitte gespannten Bogen, schleudern wir gespitzte Pfeile. Niemand ist da, der nicht auf den andern schießt; wir schießen alle aufeinander. Der Gerechte 75 führt Übel herbei, um dadurch unseren Übeln ein Ende zu machen. Er führt Bogen herbei, um dadurch den Bogen des Neides zur Ruhe zu bringen. Er schleudert auf uns sichtbare Pfeile, um den verborgenen Pfeilen ein Ende zu machen. Er führt geharnischte Feinde herbei, damit wir unsere Schlechtigkeiten ablegen und infolge des Panzers der Auswärtigen den Panzer der Wahrheit anlegen. Wenn er gezückte Schwerter über uns kommen läßt, so sollen die gezückten Zungen zur Ruhe kommen. Wenn er den Bogen des Assyrers herbeiführt, so soll die Begierde nicht mehr ihre Pfeile abschießen. Durch das Schwirren der Bogensehne draußen soll der Spott drinnen zur Ruhe kommen. Infolge der Furchtbarkeit und Wucht der Elefanten sollen wir uns nicht mehr über Niedrige stolz erheben. Bemühen wir uns doch, Buße und Selbstverleugnung unter uns zu säen, denn von allen Seiten sind innen und außen Kämpfe über uns hereingebrochen.