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Jenseits der Weidendammer Brücke. Da liegt das Berlin der Kasernen und Kliniken, die Welt der Tingeltangel und Studentenkneipen, des Chambre garnie, ist das Reich der Kellnerinnen, der gefälligen Mädchen, der Pfandleihen und der Armut.

Ein seltsames Menschengemisch bevölkert die Straßen: Studenten, Gelehrte, Ärzte, Offiziere und Soldaten, Händler, Musikanten, Chansonetten, vergrämte, zerlumpte Frauen, blasse Kinder, Krüppel, Zuhälter und Verbrecher mischen sich unter die Bewohner dieses Stadtteils, der von alters her als »Quartier Latin« seine eigenen Anschauungen und Gesetze hat.

Und in den Abendstunden, wenn die bunten Lichter der Singspielhallen aufflammen, die roten Laternen vor den »Lokalen mit Damenbedienung« und zweitem Eingang vom Hausflur, wenn die Straßenhändler ihre Posten beziehen, aus den Kasernen die Trompetensignale zur Heimkehr rufen, die grellgeschminkten und farbig-schreiend aufgeputzten Mädchen ihren Rundgang um das ihnen zugewiesene Straßenviertel beginnen, dann dringt, vom vornehmen Westen kommend, ein Schwarm junger Männer in diesen Stadtteil, um sich dort in den verrufenen Ballsälen und Kneipen, Singspielhallen und Kellerlokalen zu amüsieren.

In dieser Welt wohnte nun Theo. Er, der in dem neuerstandenen Berlin aufgewachsen, war in einer Gegend der großen Stadt untergetaucht, wo jeder Pflasterstein, jedes Haustor, jeder Raum Geschichten erzählen konnte – Geschichten merkwürdiger Menschenschicksale, die sich hier ereignet und ihr Ende gefunden hatten.

Die Stube, die Theo bewohnte, hatte ihm sein Freund Heupferd verschafft – es war eine alte »Studentenbude« und Frau Siebke, die Vermieterin, eine altgewordene Studentenmutter, die die Wesensart jedes Neuzugezogenen auf den ersten Blick richtig einschätzte und ihn danach gleich behandelte.

Oben an der Decke klebten wie Stuckornamente angetrocknete »Heringsseelen«, die silbrig schimmernden inneren Bestandteile von unzähligen Bücklingen, die die Studenten hatten »hochsteigen« lassen, indem sie sie beim Verzehren von Katerfrühstücken nach oben geschleudert. Der Eingang zu dieser Bude war vom Treppenflur aus, so daß der »Herr Doktor« zu jeder Zeit kommen und gehen konnte, ohne Frau Siebke zu stören. Der ehemals grüne Ripsbezug des Sofas zeigte durch Vertiefungen die Stellen an, wo man am bequemsten sitzen, und Häkeldecken auf der Lehne, wo man den Kopf unterbringen konnte.

Über diesem Möbel hing in etwas abgebröckeltem Goldrahmen eine Lithographie von »Faust und Gretchen«, in den Gardinenfalten lagen ganze Kollektionen toter Fliegen, vom blauglitzernden Brummer bis zur Musca domestica, und das Rouleau zeigte, wenn es morgens draußen hell wurde, eine magisch gefärbte Felsenlandschaft mit einer Wassermühle. Die Tür des Marmorwaschtisches hatte eine Vorliebe, von selbst aufzugehen, den Inhalt von Steingut und den Stiefelknecht zu zeigen, das Bett war jedoch ein Prunkstück. »Unser Ehebett«, hatte Frau Siebke stolz gesagt, »seit mein Oller tot is – und det is nu an die dreißig Jahre –, schlafe ick uff ’n eisernes wie der olle Kaiser Willem!«

Sie glättete liebevoll die rote Steppdecke und prüfte den Eindruck ihrer Worte in Theos Zügen.

»Jakeen Preis nich – fimfunzwanzig Emm – for diese Stube mit erstes Frühstück! Und mein Kaffi haben alle, die hier jewohnt, immer jelobt. Na – und wenn Ihre Kusine mal uff Besuch kommt, jeb’ ick ooch jerne mein jutes Zervis mit Verjißmeinnicht!«

Auf Besuch kam zuerst Onkel Anton, der jetzt mit seinem glänzend-kahlen Kopf und dem bartlosen Gesicht einem alten Clown glich. Er zwinkerte nicht mehr mit dem Auge, sondern kniff es fest zusammen und bekam dadurch etwas seltsam Spitzbübisches für Fremde. Eines Morgens war er da, gerade als Theo nach einer durchkneipten Nacht später als sonst aufgestanden und noch beim Kaffeefrühstück war. »Mach dir keene Umstände nich«, sagte er, »ick mußte wejen ’ne Holzladung aus Pommern uff ’n Stettiner Bahnhof, und da ick doch nu mal in die Jejend war, wollte ick mal sehen, wie’s dir jeht!‹ «

»Jut!«

»Ja, det sehe ick zu meine jroße Freude! Ville zu tun – wat?«

»Mächtig!«

»Schade, det is hier sonne schöne Amisierjejend, een Jammer, dette nich zukommst!«

»Nee!«

»Und die Juchhei-Meechens, die hier schon an ’n frühen Morjen ’rumrennen!«

»Hm!«

»Na – bei die nächste Antwort wirste woll bloß noch durch die Neese pusten, damit se noch kürzer is!«

»Onkel Anton, ich will dir mal was sagen: Wenn du mich aushorchen willst, mußt du das ein bißchen schlauer anfangen!«

»Dieses war meine Absicht nich, aber det Wort soll keene Brücke nich sind! Vater hat mir wat for dir mitjejeben – da!« Er zog einen Brief aus der Brusttasche und reichte ihn Theo hin.

»Danke!«

»Mach uff und quittiere!«

Theo zerriß den Umschlag, betrachtete lange die Geldscheine und sagte dann: »Quittieren – Unsinn, dafür quittiere ich nicht! Das Doppelte wäre gerade das Notwendigste!«

»Ick werd’s Vatern sagen! Für die Jegend reicht’s nich – hier is det Leben teurer wie in die Potsdamer Vorstadt!«

»Is’s auch!«

»Det läßt sich ja denken! Schade, det jetz um die Zeit nischt los is.«

»Nee!«

»Na, weeßte Theo, ick komm mal abends her, denn zeigste mir ’n bißken wat von den Klimbim! Ick schmeiße natürlich!«

Theo sah ihn düster an. »Weißte, Onkel Anton, ich glaube nicht, daß ich die Zeit dafür finde – du ahnst nicht, was ich tagtäglich für ein Arbeitspensum zu bewältigen habe. Ich sitze manchmal bis zum andern Morgen, um das nachzuholen, was ich an kostbarer Zeit, zum Beispiel durch einen Besuch am Tage, verloren habe. Aber ich meine dich nicht!«

»Ick fühle mir ooch nich jetroffen, nee – ick versteh’ schon, watte for ’n Besuch meinst!«

»Ach Jott, Onkel – aus Weibern mach’ ich mir jarnischt mehr! Ich lebe wie ’n Mönch in meiner Zelle, kannst ja Frau Siebke fragen, wenn du es nicht glaubst!«

»Ick jloob’ dir allens uff’s Wort, ick bin ja eener aus Dummsdorf! Schade, schade, dette dir nich länger jung jehalten hast! Seh mal mir an mit meinen kahlen Kopp – ick steh’ noch immer meinen Mann. Bloß jut, det ick nich jeheirat’t, ick hätte die Frau totunjlicklich jemacht, denn – det hab’ ick erst heite uff den Weg hierher jemorken – ick bin pollijamistisch veranlagt!«

»Das hast du dir durch uns angeheiratet! Aber ich hatte die Anlage geerbt – kannst du dir vorstellen, welche Willenskraft es mich gekostet hat, das Übel loszuwerden?«

»Und in so kurze Zeit – in die drei Wochen, wo du von uns weg bist, denn als du auszogst, hattste’s noch! Es war ja woll der Jrund, warum du wegmachtest? Wostet nu los je worden bist wie ’n Bandwurm mit Kopp, kannste doch nu wieder bei uns ziehen – soll ick’s Vatern sagen? Ja – nu sehste mir zuwider an, Theo! Ick weeß nich, warumste mir so anlackieren willst! Ick hätte mir wirklich janz jerne mit eich Studenten mal ’n bißken amisiert – mal schad’ts ja nich – aber ick will mir ooch nich uffdrängeln. Bei all deine Schlauheit biste nich schlau jewesen, Theo, sonst härteste mir dir zu ’n Freunde jemacht und hättst den Vorteil von jehabt!«

Anton stand auf. »Also – mach’s jut, arbeete nich zu ville, du siehst von die Überanstrengung schon janz käsig ins Jesichte aus! Und die Lockennadel da uff’s Tintenfaß jib man Frau Siebke zurück, det se sich ihre Funzeln feststecken kann. Adje, mein Sohn Absalon!«

An jenem Abend hielt Theo seinen Freund Heupferd frei. Er hatte gleich nach Antons Fortgang das Geld klein gemacht, besaß nun unerwartete Reichtümer und beglückte damit zuerst Frau Siebke, der er die Miete für den nächsten Monat im voraus bezahlte. Dann kaufte er sich einen neuen Spazierstock, einen japanischen Dolch und ein silbernes Reifenarmband und ging zu Habel essen. Als die Zeit gekommen war, daß er Heupferd abholen konnte, stieg er in das graue, alte Gebäude am Bahnhof Friedrichstraße, begrüßte Seifert und berichtete ihm im Café Bauer von dem glänzenden Umschwung in seinen Verhältnissen.

Sie kamen überein, den angebrochenen Abend im »Boulevard« und im »Eldorado«, zwei der größten Singspielhallen, zuzubringen. Und da saßen sie dann auch, starrten die geputzten, kurzröckigen Mädchen an, die – auf vergoldeten Stühlen sitzend – den Hintergrund des Podiums im Halbkreis einnahmen, und hörten mit Andacht dem Singsang zu:

»Ja – ich bin emanzipiert,

Es gibt nichts, was mich scheniert –

Hoppla, hoppla – hopplalla!«

Hatte eine kaum ausgesungen, so begann sofort die nächste:

»Sind es die Füßchen, die netten, netten,

Oder die kleinen Stiefeletten – letten,

Ist es dies oder das –

Oder ist es sonst noch was?«

Sie saßen, bis als letzte Nummer die »Csárdástänzerin« aufgetreten war, dann zogen sie nach dem »Strammen Hund«, einem Kellerlokal, dessen Publikum aus Droschkenkutschern und Studenten bestand, und aßen dort Erbssuppe und Königsberger Fleck.

Nun sehnte sich Heupferd heim. Theo gab ihm das Geleit bis zur Pepinière, dann schlenderte auch er heim. Doch in der Chausseestraße lockte ihn noch ein Café an – er verschwand dort, bestellte sich »einen Schwarzen«, und als ihn der starke Kaffee nach dem vielen Bier etwas ermuntert, forderte er zur Abwechslung einen Absinth.

In einem gewissen seligen Gefühl blieb er solange auf der roten, mottenzerfressenen Plüschbank sitzen, ein Plakat mit der Aufschrift »Kalte Ente« vor Augen, bis er einschlief.

Als er erwachte, stand ein Kellner in Hemdsärmeln vor ihm und bedeutete ihm, daß er jetzt hinausgeworfen werde, wenn er nicht freiwillig gehe. Theo sah verständnislos den Kellner und zwei brave, alte Frauen an, die den Fußboden aufwischten – stand auf und ging. Draußen war es schon ganz hell, die Spatzen schilpten, und die Arbeiter marschierten in ganzen Bataillonen in die Werkstätten und Fabriken.

In der Waschtoilette des Bahnhofes Friedrichstraße vollzog Theo eine Säuberung seines äußeren Menschen, freute sich über sein Armband und den Spazierstock, hatte aber noch immer keine Lust, heimzugehen. Er zog sein Portemonnaie heraus – es war noch immer genug darin, unter anderem auch ein ganz neuer, blanker Pfennig, den er fortwährend als Goldstück mitzählte. Dies ärgerte ihn so, daß er nach der Weidendammbrücke ging und den Pfennig in die Spree warf.

Bei diesem Beginnen wurde er von einem jungen, hübschen, ärmlichen Mädchen beobachtet. Er nickte ihm freundlich zu und fragte, was das junge, ärmliche und – wie es ihm schien – sehr hübsche Mädchen in dem kleinen Paket aus Zeitungspapier habe. Das junge Mädchen lächelte, öffnete das Paket an einer Seite und zeigte zwei trockene Schrippen.

Theo fragte, ob das junge Mädchen nicht lieber ein Beefsteak à la tatare mit ihm in den Zelten essen wolle, dann, wie es heiße, es käme ihm nur auf den Vornamen an.

Sie heiße Lore – sagte die Kleine, und ein Tatarbeefsteak würde sie sehr gern in den Zelten essen, aber jetzt müsse sie erst in die Fabrik, wo sie zwölf Mark wöchentlich verdiene.

Theo griff in die linke Westentasche, gab Lore zwölf Mark und sagte ihr, sie brauche also nicht in die Fabrik zu gehen, sondern könne mit ihm zusammen ein Beefsteak à la tatare in den Zelten essen.

Lore fragte, ob er das Geld auch redlich verdient habe, und er erwiderte, daß er kein Geld redlich zu verdienen brauche, denn er sei reich, sei ein Universalerbe.

Sie gab daraufhin ihrer Freude Ausdruck, endlich einen Universalerben in Wirklichkeit kennenzulernen, denn bisher sei ihr diese Sorte von Menschen nur in Zeitungsromanen vorgekommen. Sie war nun auch gern bereit, das Tatarbeefsteak mit ihm zusammen in den Zelten zu essen.

So gingen sie, nachdem Lore die eine Schrippe rasch verzehrt und die andere, um sich den Appetit nicht zu verderben, in die Spree geworfen hatte, durch den taufrischen Tiergarten nach den Zelten, und sie erzählte ihm unterwegs, daß sie ganz allein in der Welt dastehe.

Er fand das sehr nett, weil nun niemand da war, der ihm dreinreden konnte. Es wurde ihm auch nicht schwer, nachdem sie sich an zwei Beefsteaks à la Meier gestärkt hatten – denn Tatarbeefsteak gab es zufälligerweise leider nicht –, Lore für eine optimistische Weltanschauung zu gewinnen.

Die Arbeit in der Fabrik – erwiderte sie – habe ihr schon seit langem nicht mehr behagt, aber helf’ er sich, wenn eine so arm sei wie sie!

Worauf ihr Theo erzählte, daß er als Universalerbe die sonderbare Marotte habe, wie ein armer Student möbliert zu wohnen und nur dann, wenn es ihm gerade passe, sich nobel anzuziehen und das Leben in vollen Zügen zu genießen. Beweis: der neue Spazierstock, das silberne Armband, die große Zeche von sechs Mark fünfzig inklusive Trinkgeld.

Lore fand das sehr romantisch, aber an das »möblierte Zimmer« wollte sie nicht glauben. Er werde – sagte sie – in einem vornehmen Hause mit Treppenläufern, Blattpflanzen und Gipsfiguren wohnen.

»Nein, wenn ich Mensch und nichts als Mensch sein will«, sagte er, »dann wohne ich möbliert und gelte als unbemittelter Student!«

Zum Beweise schlug er vor, ihr seine Studentenbude zu zeigen. Ehe sie ja sagte, genoß sie erst noch die Stimmung in dem Garten: Da fuhren jetzt ununterbrochen Droschken vor, farbenprächtig gekleidete Damen in Ballkostümen stiegen mit etwas schwankend gehenden Herren aus, die sich dann erst an den Tischen ein wenig in Fasson brachten – die Haare kämmten, in kleinen Handspiegeln der Damen ihre grauen, übernächtigen Gesichter beäugten, die weinfleckigen Westen stramm zogen.

»Demimonde mit ihren Verehrern«, erklärte Theo der verwunderten Lore diese Gäste, »kommen aus dem Café Nazi, müssen sich stärken!«

Ja, alle verlangten Kraftnahrung: Bouillon mit Ei oder Mark, Paprikaschnitzel, Beefsteaks. Und mit all diesen Nachtschwärmern waren, aus einem der Cafés wohl, zwei Geiger und ein Flötist erschienen, ebenso aschfahl wie die übrigen, ebenso verstaubt auf Frackkragen und Weste, die Stärkwäsche ebenso zerknittert und beschmutzt. Und nachdem die Kapelle sich an schwarzem Kaffee mit Kognak gelabt, stimmte sie das gefühlvolle Lied an:

»Was kann denn schöner sein,

Als so recht tief hinein

Den holden Frau’n

Ins Auge schau’n –«

Die Spatzen piepten dazwischen und hüpften von Tisch zu Tisch, um die hingestreuten Semmelbrocken aufzupicken, von überall her klang jetzt das Tuten der Fabrikpfeifen, das den Arbeitsbeginn des fleißigen, werktätigen Berlins verkündete, aber die Kapelle spielte unbekümmert um diese Mahnung:

»Sehen Sie – das ist ein Geschäft,

Das bringt noch was ein –

Ein jedes Mädchen kann das nicht,

Es will verstanden sein – –«

Die Sonne kam höher, es wurde ein herrlicher, warmer Frühlingstag. Aus dem Tiergarten erklang frisch das Schmettern vorüberziehender Militärmusik, Frühaufsteher – alte Herren, die eine Brunnenkur durchmachten, tauchten jetzt zwischen der übernächtigen, bunten Gesellschaft auf.

Da fuhren die Droschken vor, der Spuk verschwand, eine Viertelstunde später hatten die Gartenlokale ihr solides, bürgerliches Aussehen zurückerhalten.

Auch Theo und Lore waren gegangen. In der Chausseestraße kaufte er ihr eine rotseidene Bluse und – da in dem Geschäft gerade »Großer Ausverkauf« war – auch noch eine Untertaille, ein Paar Strumpfbänder, blau, mit Schleifen, und einen Taftunterrock von einem Taft, der niemals brechen sollte.

Dann bogen sie in die Novalisstraße ein, um Theos »Möbliertes« zu besichtigen, nahmen sich jedoch für den Fall, daß die Besichtigung länger dauern und daß sie Hunger bekommen sollten, einen Pumpernickel, ein Pfund Butter, ein halbes Pfund Schweizerkäse und ein Pfund ff Aufschnitt sowie eine Flasche süßen Ungarwein mit.

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