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Der Schandfleck der Familie

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Aber mit dem Gang nach Schöneberg hatte es Onkel Karl nicht so eilig. Als er aus dem Fischerviertel hinaus war, zog er auf weiten Umwegen, immer in Angst und Sorge, daß er einen Gläubiger treffen könnte, nach der Landsberger Straße.

Er hatte sich unterwegs etwas anderes überlegt, um die hundert Taler zu bekommen. Tante Marie hatte ihn schon einmal unterstützt, damals im Frühjahr, als er seine Karriere als Bauunternehmer begonnen hatte. Da war sie es gewesen, die auf das Versprechen hin, in dem neuen, schönen Hause ein sonniges, großes Balkonzimmer zu bekommen, mit ihren Spargroschen herausgerückt war, damit er sich an dem Unternehmen hatte beteiligen können. Nun wollte er den Versuch machen, „den Rest“ von ihr zu bekommen.

Aber er hatte offenbar keinen günstigen Tag heute, der Empfang, der ihm zuteil wurde, gefiel ihm nicht. Tante Marie nahm kaum Notiz von ihm und unterhielt sich gleich wieder mit dem Zigarrenhändler Krause, Herr Lemke hatte mit der Bedienung der Gäste zu tun, und Frau Lemke litt an Zahnschmerzen und war deshalb schlechter Laune.

„Et jibt vaschiedene Mittel jejen“, sagte Onkel Karl, „aba det beste is woll, man hat den hohlen Zahn mit die Wurzel in de linke Westentasche. Wenn’t reimatisch is, lej doch mal die kranke Backe an Nulpen seen Fell, det zieht den Schmerz ’raus!“

„Oda ooch nich“, sagte Frau Lemke, die vor Schmerzen nur ganz wenig den Mund zu bewegen vermochte. „Wennste det arme Luda off die Weise ausnutzen willst, denn halt’s man erst ’n bißken sauberer. In den sein’n Pelz hecken se ja!“

„Ick werd’ mir noch ’n Affen anschaffen, der kann Nulpen denn ja absuchen“, sagte Onkel Karl, dessen hoffnungsfreudige Stimmung nun auch umschlug, „dazu hab’ ick mir det teire Tier doch nicht jekooft, det jeder dran ’rumnörjeln tut!“

Herr Lemke, den der Hund umschwänzelt hatte, ging nach der Küche und kam mit ein paar Knochen zurück, die er Nulpe unter den Tisch warf: „Da, nu vahalt dir aba still da unten“, sagte er. Dann fuhr er sich verlegen mit der Hand über die Bartstoppeln und meinte: „Hör’ mal, Onkel Karrel, hier kommen jeden Taj jetz Leite, sich nach dir akundjen, möchste nich mal ’ne annre Refrenz uffjeben? Ick hätte ja jewiß nischt jejen inzuwenden, aba det sind zumeist sonne Brieda mit blaue Mitzen und Aktenmappen, und det schad’t dem Lokal!“

Onkel Karl war sehr erstaunt. „Nu saj mal, wat wollen die denn eejentlich von mir, zeijen se denn irjend wat vor, äußern se sich denn janich ’n bißken?“

„Det wirste schon merken“, sagte Herr Lemke, „laß dir man mal mit Nulpen sehen, denn pappen se den ’n Siejel uff’n Schwanz, und futsch und wej is eens!“

„Also – hier bin ick nu ooch schon nich mehr sicha – na ja, ick kann ja jetz mal zur Abwechslung Tante Liesen ihre Adresse anjeben lassen, denn ick hab’ det nich jetan, det besorjt der Jeneralbevollmächtijte, unsa lieba Hahn!“

„So?“

„Ja – ibrijens is det nischt besonnres“, sagte Onkel Karl mit Genugtuung und einem zuversichtlichen Lächeln, „det muß man sich eben jefallen lassen, wenn man in’t öffentliche Leben steht.“ Und dann stieß er vertraulich Herrn Lemke an: „Hör’ mal, Willem, der da – bei Tante Marie – der Krause, wat is denn det for’n Mensch?“

„’n sehr netta, freindlicha Mann!“

„Na, hat’r denn wat?“

Trotz ihrer Schmerzen mischte sich nun Frau Lemke in das Gespräch: „Untasteh’ dir janich – den laß jefällijst zufrieden!“

Onkel Karl besah sich seine Weste. „Ja – bin ick denn jemeinjefährlich, warum denn sonne Angst – ick werd’ mir doch noch mit die Leite untahalten derfen!“

Und um ihr zu beweisen, daß er sich als freier Mann keine Vorschriften machen lasse, nahm er sein Weißbierglas und sagte: „Ick werd’ mir mal ’n bißken bei ihnen setzen und zuhören, wat die so woll reden!“

Aber das Gespräch verstummte in dem Augenblick, da er sich an den andern Tisch niedergelassen. Nulpe – widerwillig knurrend – war, einen Knochen in der Schnauze, seinem Herrn gefolgt.

„Karrel, ick wollte dir bloß bitten“, sagte Tante Marie, „wennste jehst, paß’ ’n bißken uff, det deene Töle nich an den Oljanda kommt!“

„Merk’ dir det, Nulpe“, sagte Onkel Karl unter den Tisch hinunter, „du bist ’ne Töle, und det draußen is ’n Oljanda! Vorleifij jeh’ ick aba nich, ick jedenke sojar hier noch Abendbrot zu essen – wat sajste nu?“

Herr Krause, der in seiner langen Weichselrohrpfeife gestochert hatte, erhob sich. „Ja, ich muß nun wieder mal ’rüber in meinen Laden, vielleicht komm ich nachher noch mal – adje solange!“

„Adje, adje“, sagte Onkel Karl, aber als sich nun Tante Marie ebenfalls erheben wollte, wandte er sich hastig zu ihr: „Ick muß dir wat sehr Wichtijes sajen!“

„Wat’n?“ Tante Marie sah ihn böse und mißtrauisch an.

„Mir hat wat Furchtbares jetreimt!“

„Is dir recht“ – und Tante Marie wandte sich ab.

„Und denn hatt’ ick ooch ’ne janz seltsame Ascheinung“, sagte Onkel Karl feierlich.

„Det kann man sich ja denken, bei dein’ ruheloset Leben!“

„Det war sicherlich Lemkes Selje“, sagte Onkel Karl.

„Jott sei Dank, det se nu bei dir anjelangt is, villeicht macht se noch’n ordentlichen Menschen aus dir – Karrel, Karrel, wo bist du hinjeraten!“

Onkel Karls Augen schielten plötzlich, und er mußte ein paarmal krampfhaft schlucken. Tante Marie sah ihn lange prüfend an und sagte seufzend: „Man wird aus dir eben nich kluj – denkste, ick weeß nich, dette det Jesichte ooch uff Kommando machen kannst! Damit haste schon imma als Junge standjehalten, wenn die andern Lausejungens wejjeloofen sind.“

„Na, denn nich“, sagte Onkel Karl und rollte die Augen wieder zurück, „nu ha’ ick’s ibawunden, et war bloß ’n Schwächeanfall, wie er iba die stärksten Rollkutscha kommen kann. Ihr stoßt mir von eich – jut – jut, jetz jeh’ ick unta die Vabrecha, nu sollt ihr aba wat von mir aleben, nu komm’ ick in die Zeitung!“

„Karrel, ick sage dir, denk’ an unse Eltern!“

„Nee – tu’ ick nich!“ – Er schüttelte energisch den Kopf und sagte mit erstickter Stimme: „Die Behandlung heite hier hat mir den Rest jejeben. Ihr könnt eich ja nachher später jejenseitij die Vorwürfe machen, denn det kann ick dir jleich sagen, liebe Marie – eh’r mir eena fängt, schieß’ ick’n ibern Haufen!“

„Wa’m wollen se dir denn fangen?“

„Det möcht’ ick alleene wissen – wat se wirklich nu schon von mir haben, wenn se mir haben! Wascheinlich is keen annrer da, den se steekern können!“

„Det Unjlick is, dette dir kenne ordentliche Frau jenommen hast“, sagte Tante Marie, „die hätte dir zusammenjehalten, hätte dir jekocht und die Kneppe anjenäht, aba du hast von kleenuff schon imma so’n unsoliden Eindruck uff alle Leite jemacht!“

„Und dabei hat mir Vata doch so jedroschen“, sagte Onkel Karl „und mir die untajelejten Pappdeckel imma aus die Hosen jezojen. Und darum jloob’ ick doch, det ick zu wat Besseres jeboren bin – sonst wär’ ick doch schon längst vaheirat’t!“

„Wenn du nu Kinda jekriejt hätt’st – wat wirdest du die for’n schlechtet Beispiel jejeben haben!“

„Och –“, sagte Onkel Karl, „wenn ick Kinda kriejen könnte, denn wird’ ick mir for Jeld sehen lassen, und die jroßen mißten mir anähren, und die kleenen wird’ ick vakoofen!“

„Fui Deibel – mit dir derf man wahaftij keen Mitleid nich haben“, sagte Tante Marie, „du bist da draußen uff die Wiesen janz und jar vakommen. Mir tut bloß der arme Hund leid, wat der bei dir so ausstehen mag!“

„Wi’sten koofen – der is uff alle Sorten Jeister dressiert ...“

„Spotte du man – du wirst schon in die Hölle an mir denken!“

„Wenn ick man erst drinne wäre, alle Deibels wirden sich freien. Denn führ’ ick se an nach’n Himmel, und denn machen wir eenen furchtbaren Krach!“

„Watte man, watte man“, sagte Tante Marie, weeßte denn nich mehr, wie’t in die Bibel steht: ‚Ihr werdet Rechenschaft ablejen missen for jegliches unnütze Wort!‘?“

„Da kämen wa aus det Jerechne ja janich mehr ’raus“, sagte Onkel Karl, „und denn wär’ die Ewijkeit um, und wat wär’ denn dann?“

Tante Marie sah ihn starr an, sagte: „Fuih, du bist een Jotteslästera, fuih und nochmals fuih!“ – und wandte sich entrüstet ab.

„Det tuste bloß, weil du mir keen Jeld jeben willst, aba watte man, et kommt noch janz anners mit mir!“

Sie wandte sich nochmals um und sagte: „Mach’s man wahr, Vata hat et ja noch uff’n Totenbett jesajt, det du Schande uff unsan ehrlichen Namen bringen wi’st!“

„Schande is janischt jejen, und uff’n Totenbett hat Vata ja janich mehr reden können!“

Aber Tante Marie hörte nicht mehr, was er sagte, sie ging zu Frau Lemke und sagte ihr etwas ins Ohr. Frau Lemke schüttelte sich und rief ihren Mann, und als er kam, erzählten sie ihm gleichzeitig Onkel Karls Lästerungen.

Da hielt es Onkel Karl für angebracht, „Nulpe“ am Halsband zu packen, dem widerstrebenden Tier den Maulkorb anzumachen und sich zu entfernen, ohne auch nur Lebewohl zu sagen.

Das Spukhaus in Schöneberg

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