Читать книгу Das Spukhaus in Schöneberg - Erdmann Graeser - Страница 9

Ein bißchen Bildung

Оглавление

In den nächsten Tagen ereignete sich etwas, das Tante Marie mit Grauen und Mitleid erfüllte. Es geschah – bald mittags, bald abends oder morgens –, daß ein bis aufs Skelett abgemagerter großer, zottiger Hund keuchend und abgehetzt durch die Landsberger Straße jagte, in Lemkes Restaurant und Bierlokal stürzte, dort mit aufgeregtem Winseln jeden Winkel abschnüffelte und dann wieder davonraste, ohne sich von jemand halten zu lassen.

„Nulpe – Nulpe –“ schrien die Straßenjungen hinterher und warfen ihm Steine nach. Und kaum eine halbe Stunde später wurde das abgehetzte Tier draußen in Schöneberg bei den alten Lemkes und dann – später wieder – im Fischerviertel bei Onkel August gesehen. Und überall sagten die Leute: „Et is angebunden jewesen, det arme Tier, und hat sich losjerissen, det sieht man ja noch an det Seil, dettet mitschleeft. Wascheinlich sucht et sein Herrchen, wenn’t man nich der Schinder kriejt!“

„Paßt ma’ uff, mit Onkel Karrel is wat“, sagte Tante Marie, der es über den Rücken lief, „den werden se wo finden, starr und steif, oda von’n Ast abschneiden!“

Die junge Frau Lemke meinte jedesmal: „Na, da missen wir uns ’n bißken kimmern, wa können ihn doch nich janz und jar in Stich lassen, zu det Bejräbnis muß doch eener mitjehen. Willem, zieh’ dir ma’ die Stiebeln an und jeh’ los und kimmere dir ’n bißken!“

Wenn Herr Lemke dann nach ein paar Stunden zurückkam, konnte er nur immer sagen: „Keene Spur – et jloobt ooch keener an den sein’n Tod, in’t Jejenteil, se sajen, er hat sich bloß dinne jemacht. Und wat man da allet zu hören kriejt: Vatan in Schöneberj hat er anpumpen wollen, Tante Liese hat er det Klavier fänden wollen! Ach – und nu erst in seene Wohnung oder uff’n Bau und in ‚Nei-Kalifornien‘, da stehen die Leite Taj und Nacht und warten. Der hat sich ’rinlejen lassen, dunnawetta – und dabei, wenn man jenau hinhört, merkt man, det er eijentlij ganz unschuldij ist, und det die Leite ihm man bloß so nachloofen, weil man sie uff ihn jehetzt hat.“

„Wo wird sich denn der ooch uffbammeln“, hatte Frau Lemke gesagt, „da kennt ihr Onkel Karreln schlecht! Der hat längst ’n jroßet, neiet Untanehmen vor – eenes Tajes wird er schon wieda ufftauchen und so tun, a’s wenn er ibahaupt nich wejjewesen is!“

Diese Ansicht hatte viel Wahrscheinlichkeit und wurde durch das Gerücht unterstützt, daß dieser oder jener der Gäste Onkel Karl irgendwo gesehen haben wollte. Und schließlich beruhigte sich auch Tante Marie: „Er is ja schon eenmal wejjewesen und seenen Meester aus die Lehre jeloofen, hat sich in die Welt ’rumjetrieben und sich denn doch wieda anjefunden. Ick jloob’ et ja nu ooch schon halb und halb, det er wieda uff die Wandaschaft jejangen is.“

Im Grunde genommen hatte auch jeder so mit seinen eigenen Angelegenheiten zu tun, daß er sich nicht um andere kümmern konnte. Frau Lemke kam schon nicht mehr aus den Sorgen heraus: die Kinder – erst Edwin und dann die kleine Liese – hatten die Masern bekommen, und es war Herbst geworden, bis die Kleinen soweit waren, daß man wieder aufatmen konnte. Und dann legte sich wieder Tante Marie, die sich bei den Nachtwachen überanstrengt hatte, und alle Gäste fanden es rührend, wie nun Herr Krause Tag für Tag kam, sich eingehend erkundigte und jedesmal eine kleine Aufmerksamkeit mitbrachte: eine seltene Messinaapfelsine, die die Kranke mit Zucker essen sollte, oder zur Zerstreuung einen der bunten Neu-Ruppiner Bilderbogen, manchmal auch Blumen oder die neuesten spaßhaften Couplets.

Und dann saß Herr Krause, nachdem er erfahren, daß sein Präsent gut aufgenommen worden war, in der Nähe des Eingangs und paßte getreulich auf, daß die Hunde dem Oleander nicht zu nahe kamen. Wenn sich dann Frau Lemke zu ihm setzte, erfuhr sie so mancherlei, das ihr bisher bei ihrer Geschäftigkeit entgangen war. Herr Krause wußte über die Leute im Hause und in der Nachbarschaft gut Bescheid.

„Wat wohnt da nich allens in sonne jroße Mietskaserne“, pflegte er zu sagen, „wat steckt nich alleene bei Sie hier in’t Hintahaus! Lauta kleene Leite, die sich durchs Leben schlajen, so jut oder so schlecht et eben jeht. Ick habe wenij Schlaf und bin ’n Frühuffsteher – da seh’ ick, wie eena nach’n andern morjens uff de Arbeet jeht, wie se abends za Hause kommen und wat sich hier in de Nacht tut, wenn man denkt, det alle schlafen und det Haus zu is.“

Und mit einer Kopfbewegung wies Herr Krause dann manchmal auf die Vorübergehenden: „Sehen Se den da? Det is’n Steinmetz, der hat die Schwindsucht und hust’t sich tot! Und die da – det junge blasse Meechen – die hat sich mit eenen injelassen. Nu sitzt se da und lauert, bis allet vorüba is. Wenn se sich mal uff die Straße sehen läßt, looft se Spießruten, alle kieken se nach. Und det da –“ er zeigte mit der Pfeifenspitze nach ein paar kleinen Kindern, deren Köpfe viel zu groß für die mageren Körperchen waren –, „det sind die Kellawürma. Mutta wascht sich die Finga wund, und Vata sauft. Ja, sehen Se, Frau Lemke, det lebt allet und kraucht ’rum, und man denkt, det beste wär’, wenn se der Totenjräber injebuddelt hätte, aba fragen Se, wen Se wollen, sterben will doch keener nich!“

„Da kann man ja noch ordentlich froh sind“, sagte Frau Lemke. Und während Herr Krause weiter philosophierte, wanderten ihre Gedanken umher, wogen die Ereignisse der letzten Jahre ab, schweiften in die Zukunft, und das Ergebnis konnte sie nur befriedigen. Sie hatten Glück gehabt, aber freilich scharf genug waren sie auch hinterher gewesen, um es zu etwas zu bringen. „Na, nu –“ und sie suchte sich selbst abzulenken –, „nich beschreien, wer weeß, wat eenen noch allet bevorsteht. Uff eenmal is denn det Unjlick da, und denn wird man’s nich wieda los!“

„So is’s“, sagte Herr Krause. „Unjlick is wie Jrienspan oder Rost, man kann putzen, so ville wie man will, man sieht doch immer noch, wo et sich injefressen hat.“

„Man derf sich eben janich mit inlassen – mit det Unjlick“, sagte Frau Lemke. „Et jibt Leite, die haben ihr janzet langet Leben nur imma die Jedanken uff Tod und Bejräbnis und annere sonne traurijen Sachen. Nee, dafor bin ick nich. In’t Jejenteil – ick will jetz erst anfangen und wat von’t Leben haben, ick will mir amisieren! Unse Vawandte, die Tante Liese, die den reichen Fischameesta hat, die möcht’ ick ’n bißken ibatrumpfen – wissen Se – die hält uns nehmlich for ’n bißken pover. Der mißte man ’mal zeijen, det man ooch annern Umjang hat. Sie sind doch so’n jebildeter Mann, Herr Krause! Wodruff et ankommt, wissen Se doch – Sie müßten een’n doch ’n bißken in die Mache nehmen können – wat?“

„Jewiß – jewiß –“, und Herr Krause kratzte sich etwas bedenklich die Perücke, „det könnt’ ick sehr scheen. Sehen Se, Frau Lemke, Se mißten jute Bücher lesen!“

„Nee – det is nischt for mich, det ha’ ick schon frieha ’mal vasucht. Aba da steht man imma von Jräfinnen und Barons drinne, und so wat kann ick ja doch nich mehr werden. Nee, man mißte wo hinjehen und wat sehen, und Sie mißten eenen det ordentlich aklären, wat man nich vasteht!“

„Ach so – so meenen Sie det“, sagte Herr Krause geschmeichelt, „det soll mich schon recht sind!“

„Wenn man erst Tante Marie wieda jesund wär“, denn die mißte natierlich mitkommen, sonst jibt et wieda Jerede, wie dunnemals mit den Herrn Hahn. Von den Mann hätte ick ooch wat lernen können, aba da hab’n mir die Leite vaklascht, und da mußten wir’n ’rausschmeißen.“

„Ja, Tante Marie mißte mitkommen“, sagte Herr Krause begeistert, „da wirden wir ’mal in die ‚Walhalla‘ jehen!“

„Oda in die Opa –“, meinte Frau Lemke.

„Oper – et heeßt nehmlich nich Opa, sonnern Operr – det wird’ ick nich raten. Aba am Weinbergsweg, da jibt’s ’n beriehmtes Volkstheata, wo sehr riehrende Sticke uffjeführt werden, da mißte man ’mal hinjehen. Wenn man da so’n Stick jesehen hat, kann man die janze Woche drieba sprechen!“

„So? – Na ja! Und wat könnte man denn noch for seene Bildung tun?“ fragte Frau Lemke.

„Na – det wär’ doch schon ’n janze Masse“, sagte Herr Krause ermunternd, „aba wenn Sie noch wat Besonderes tun wollen – Se dirfen mir det aba nich ibelnehmen –, denn wird’ ick mir an Ihre Stelle ’n bißken Mihe jeben und richtjer sprechen!“

„Ja, man kann sich ’bei blamier’n mit det Berlinsche, aba man hat et sich ja so anjewöhnt. In die Schule durften wir so nich sprechen, und meene Mutta hat ooch imma jeschumpfen.“

„Jeschimpft“, verbesserte Herr Krause.

„Jeschumpfen“, sagte Frau Lemke, die da glaubte, er habe sie nicht verstanden.

„Ick meene, jeschimpft heeßt et!“

„Ach so – Sie fangen schon an“, sagte Frau Lemke, „na ja, achten Se man uff mir, ick werde Sie schon dankbar sind!“

„Sein!“ sagte Herr Krause.

„... dankbar sind sein“, wiederholte Frau Lemke gefügig.

„Nee, nu is’s janz falsch“, meinte der Zigarrenhändler, „sind sein kann man nie nich sajen.“

„Na – uff een’ Schlaj is det ooch nich zu machen, det muß so langsam mit die Zeit kommen. So peuhapeu – wat heeßt’n det eejentlich uff deitsch?“

„Det is’n Fremdwort“, sagte Herr Krause, „und mit die wird’ ick mir ibahaupt nich inlassen. Wir haben Anno Siebzig-Eenundsiebzig die Franzosen geschlajen, nu haben die ihre Rolle ausjespielt, nu kommen wir dran mit’s Deitsche, det wird jetz Weltsprache!“

„So –“, meinte Frau Lemke, „denn is man bloß jut, det ick erst jar keen Franzesisch jelernt, also – Herr Krause, nu haben wir uns besprochen, nu wollen wir aba ooch Wort halten. Ick wer’t meen’ Mann bejreiflich machen, und er wird et schon insehen. Et is ja ooch schon wejen die Kinda, man muß sich ja schon späta vor sie schämen. Den Edwin wollen wir uff die hohe Schule schicken, und wie sieht denn det dann aus, wenn seene Eltern so jewöhnlich sprechen. Nechstes Jahr zu Ostern kommt der Junge uffs Jimnasium, Jroßvata in Schöneberj hat’s ooch jasajt, bloß meen Mann is noch jejen, aba ick werd’s ihm schon bejreiflich machen!“

Und Frau Lemke nickte Herrn Krause freundlich zu und erhob sich. „Denn meen Mann winkt mir schon immazu“, sagte sie zur Entschuldigung.

Das Spukhaus in Schöneberg

Подняться наверх