Читать книгу Paradies möcht ich nicht - Eric Bergkraut - Страница 6
Zwei Schlangen
ОглавлениеEr holte mich im weißen MG am Bahnhof ab. Ich war im Zug unter dem großen Berg durchgerutscht, mit dem neuen Tunnel ging es schnell, es war kein Reisen mehr, bloß ein Abfahren, um möglichst bald anzukommen.
Jahrgang 1973 sei der Wagen, sagte mir Edmond, als wir eine der Kurven nahmen, die aus der Stadt in die Höhe führten; immer ähnlicher sah er unserem Vater im Profil, nur etwas voller im Gesicht war er; kein Staub lag auf dem Armaturenbrett, keine unnütz herumliegenden Gegenstände auf den Sitzen, bloß eine Schottenmütze auf der kleinen Rückbank, daneben mein schwarzer Rucksack. Ich musste an unseren Volvo denken und die leeren Joghurtdrinkflaschen, die Salzbretzel- und Cashewnutpackungen, die hinten auf dem Boden landeten wie in einer Müllzone.
Wir redeten nicht viel. Edmond war auf die Straße konzentriert. Ich mochte die Leere nicht ausfüllen, wir waren keine Geschwister, die in eine gemeinsame Melodie fallen konnten. Ich wusste nicht, weshalb er mich eingeladen hatte, vielleicht wollte er über den Tod unserer Schwester Catherine sprechen.
Sein Haus war klein, Sechzigerjahre, die Fassade efeubewachsen, hinten lag ein steil abfallender Garten mit zwei kleinen Terrassen, auf der ersten sah ich, geschützt, ein Teleskop stehen. Dem Schild hatte ich entnommen, dass er sich weiter nur «Ed» nannte und auch den zweiten Teil unseres Familiennamens abgeschnitten hatte, es wirkte als Lautfolge annähernd skandinavisch, vielleicht war es im englischen Sprachraum einfacher so.
Er fragte mich, ob ich die Schuhe ausziehen und die bereitstehenden Pantoffeln benutzen oder die Treter aus Filz überstreifen wolle, die gleichfalls parat standen. Ich entschied mich für die zweite Option und glitt über das Parkett aus Kirschholz, das offenbar neu eingesetzt war, der offene Kamin war verdeckt durch einen blau-roten Sessel, der mit seiner übergroßen Nackenstütze und den breiten Beinteilen bestimmt einmal futuristisch gewesen war.
Auf der kleinen Terrasse bot er mir Grüntee an, er streckte mir eine Holzbox entgegen mit gewiss zwei Dutzend Sorten, ich kannte nicht einmal den Unterschied zwischen japanisch, oben gestapelt, chinesisch, unten, und indisch in der Mitte. Ich griff aufs Geratewohl einen Beutel, japanisch, er schien zufrieden, ich auch, gegen alle Erwartung löste der Tee in meinem Hirn etwas aus, eine lichte Welle zog kurz durch meinen Kopf.
Er erkundigte sich nach der Karriere meiner Söhne, Juliette schien ihn weniger zu interessieren. Er erzählte, das Haus habe er noch von Australien aus gekauft und umbauen lassen, ein Architekt aus Mailand, das Gespräch verlief schleppend. Konnte ich ihn nach einem Weißwein fragen, der womöglich unsere Zungen etwas gelockert hätte? Ich war sicher: Das gab es in seinem Haus nicht, schon gar nicht stand in seinem Wohnzimmer eine Flasche jenes Pastis, den unsere Mutter oft etwas aufdringlich angeboten hatte.
Edmond schien zufrieden. Ich spürte, dass er den Abend genau geplant hatte. Gesprächspausen störten ihn nicht, das entlastete mich. So schwiegen wir eben, den Blick aufs Tal gerichtet und den kleinen Fluss, den man durch die Bäume mehr hörte als sah, in der Luft lag kaum Spannung, es war gut so.
Ich möchte dir etwas zeigen, sagte er nach einer Weile, und ich dachte zu erfahren, weshalb ich hier war. Er stand auf, wir traten ins Haus und er öffnete die Tür, die zum bergseitigen Zimmer abging. Er ging vor, flüsterte: Komm rein. Neben einer Art Gang stand hoch bis zur Decke eine Glaswand, dahinter lag eine Landschaft aus Steinen, zwei kahlen kleinen Bäumen und einem Tümpel.
Siehst du sie?, fragte er und zeigte zur rechten hinteren Wand. Tatsächlich entdeckte ich dort, eingerollt die eine, lang gezogen die andere, zwei glänzende Schlangen. Mein großer Bruder schien andächtig. Ich dachte an die Glaswand, hinter der seine Zwillingsschwester als Kind eine Zeit lang gelebt hatte. Aber ich sagte nichts. Ich spürte, ich sollte stehen und staunen, also tat ich so. Jede kriegt pro Tag zwei Mäuse, sagte er nach langer Pause und ohne den Blick von den Tieren zu wenden.
Später wurde japanisches Essen geliefert, es war auserlesen, in der Menge klug dosiert: Der Chauffeur blieb und trug als Kellner geduldig auf, eine solche Homedelivery war neu für mich. Ich genoss die Sushis und ihre Verwandten, deren Namen ich mir nie merken konnte, ans Schweigen hatte ich mich gewöhnt, es war wohltuend.
Nach dem Essen getraute ich mich, nach einem Kaffee zu fragen. Mein Bruder entschuldigte sich, ja natürlich, den bekäme ich, er brachte mir einen Espresso erster Güte.
Dann zog er einen Bildband hervor, der Abbildungen eines weiten Sternenhimmels zeigte, die ein japanischer Fotograf in einer australischen Sternwarte gemacht hatte, vielleicht holte er das Buch, weil der Tessiner Himmel dicht bedeckt war. Der Fotograf hatte die Fotos körnig aufgezogen und signiert, offenbar gab es von dem Buch nur wenige Exemplare, die Sterne schienen wie Gufechnöpf in ein dunkles Kissen gesteckt.
Ich wusste, auch dafür hatte er mich nicht eingeladen.
Die Sterne erinnerten mich daran, wie er uns allen, Vater lebte noch, vor Jahren feierlich erklärt hatte, biologische Verbindungen seien unwichtig. Hinderlich gar. Er wolle familiären Kontakt auf das Minimum reduzieren, das der Respekt gebiete, so hatte er es gehalten über all die Jahre hinweg.
Dann saßen wir im MG talwärts, Edmond hatte mir in der «Villa» ein Zimmer reserviert. Zum Abschied, er hatte mich an die Rezeption begleitet und wir standen in der Lobby vor der massiven Drehtür aus Stahl und Holz, setzte ich an zu fragen, weshalb ich hier sei, aber Edmond unterbrach mich: Ich komme morgen zum Frühstück.
Mein Bruder war ein fremder Mensch. Er hatte zugleich eine unbestimmte Macht, der ich mich fraglos überließ.
Im Zimmer, geschmackvoll renoviert, etwas schwer vielleicht die Materialien, wie meine Architektenfreunde sagen würden, stellte ich den Fernseher an und mixte mir aus der Minibar einen Gin Tonic und dann noch einen, Unruhe war über mich gekommen. Dann gab es keinen Gin mehr, in die Bar mochte ich nicht gehen.
Ich schlief in den Kleidern, ohne auch nur die Zähne geputzt zu haben. Um 03.12 Uhr wachte ich auf; war es nicht seltsam, dass sich in Zeiten digitaler Anzeige manche Werte nachhaltiger einprägten, als man es wollte und es Sinn ergab, und man die Zahlen kaum mehr aus dem Kopf bekam, bis die nächsten, ebenso zufällig, auftauchten und unser Hirn die alten überschrieb? Jedenfalls erinnerte ich morgens die Zahl 03.12 Uhr vom Handydisplay wie eine Überschrift zum Traum, der folgte, als ich wieder einschlief:
Ich stand als Schauspieler auf der Bühne, ohne zu wissen, welche Rolle in welchem Stück ich spielte. Vergeblich sah ich mich um nach jemandem, den ich hätte fragen können. Da fiel mir ein, dass ich genau diese Situation schon einmal erlebt hatte, als Traum, und es erschütterte mich, dass dieser Traum sich als Vorwegnahme einer realen Situation entpuppte, in der ich nun war, allein auf der Bühne und ohne zu wissen, welche Rolle ich spielte und in welchem Stück.
Edmond war frisch rasiert, gut gelaunt, ja aufgeräumt, er umarmte mich zur Begrüßung, als er ins Hotelcafé trat, anders als am Vortag. Mir schien, er roch nach dem italienischen Rasierwasser, das ich manchmal selber benutze.
Das Buffet war reichhaltig mit lauter gesunden Kiwis, Müeslis und Broten aller Art, der Käse kam aus den Tälern. Ich trank zwei starke Kaffees, Edmond hatte seinen Grüntee mitgebracht und bat den Kellner, ihm diesen zu bereiten, was dieser anstandslos tat.
Edmond hatte schon den Garten gegossen, das mache er immer selber. Er berichtete von Kim und Cresto, den Schlangen, sie waren gefüttert, es seien Geschwister; und im nächsten Sommer wolle er ihnen eine gesicherte Anlage bauen, draußen im Garten.
Dann wurde es Zeit für mich, ich hatte mich damit abgefunden, dass er mir nur sein neues Leben zeigen wollte. Ich stand schon im Wagen, als er vom Perron aus plötzlich fragte: Ich war seit zwanzig Jahren nicht mehr dort, fährst du auf dem Rückweg noch in unser altes Familienhaus?
Ich sagte ihm, ich müsse nach Zürich, da schloss sich die Tür des ICs. Ich fragte mich, ob Edmond mich eingeladen hatte, um mir diese eine Frage zu stellen. Erst jetzt fiel mir auf, dass sein tadelloses Haus nur achtzig Kilometer Luftlinie von unserem etwas gebastelten entfernt lag, das Vater gebaut hatte.
Der Zug stand noch eine Weile, wir schauten aneinander vorbei. Als er anfuhr, hob Edmond die rechte Hand, um zu winken. Seine Augen erschienen durch die Scheibe gerötet, mir schien plötzlich, er weine.