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Die Clivia

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Felix wusste genau, was sich in seinem Heimatland im Jahr 1938 vorbereitete, obwohl manche Nachrichten, die vom großen Nachbarn über die letzten paar Jahre gekommen waren, zunächst zu schlimm geklungen hatten, als dass er sie für ganz wahr hätte halten können. Zug um Zug hatte er und hatten seine Nächsten etwas bemerkt, was ich viel später an ganz anderen Orten und in ganz anderen Zusammenhängen auch feststellen sollte: Menschen konnten sich in einer Weise verhalten, die viel schlimmer war als alles, was man sich nur vorstellte.

Vater hatte sofort zu trainieren begonnen, als er das Studium der Jurisprudenz abbrechen musste. Den Körper und den Geist. Es war Training fürs Überleben. Auf einem toten Arm des Donaukanals ruderte er seine Kilometer, das war gut für Muskeln und Ausdauer. Und hatte den Vorzug, dass man weder zu Hause noch auf der Straße aufgegriffen werden konnte. Dabei konnte er die Browning aus Vaters Schublade in der Donau versenken, Waffen sollte man zu Hause niemals finden. Er besuchte einen Kurs in Automechanik und stellte sich geschickt an, das war wertvoll. Und er übte Französisch und Englisch, das waren die Sprachen, die man würde brauchen können.

Der «Anschluss» Österreichs an das Deutsche Reich mit des Diktators hunderttausendfach fanatisch be­jubeltem Auftritt auf dem Heldenplatz war ein Schock, trotz aller Erfahrung der letzten Monate. Schlimm war nicht Hitler, waren nicht die Nazis, schlimm waren die ehemaligen Mitschüler und Nachbarn, die jetzt alle auftraten, als seien sie Nazis. Oder waren sie es geworden?

Felix streifte durch die Stadt, alleine, die Beine lenkten ihn zum Tempel, wie man die Synagoge nannte, ei­nem Ort, wo er sonst selten war. Nur wenige Juden hatten sich versammelt, die Stimmung war gedrückt, sie beteten, geredet wurde kaum. Vater reihte sich ein, blieb eine Weile, ging dann weiter.

Später war er in der Praterstraße bei Annie, seiner Freundin, sie lernte Schneiderin, unten hatten die El­tern einen Schreibwarenladen, der war mit Brettern ge­schützt, aus dem ersten Stock beobachteten die beiden mit Abstand zum Fenster das Treiben der entfesselten Männer in weißen Kniesocken und braunen Hemden.

Dann ging Felix nach Hause. Im Haus Schüttelstraße 27, direkt am Donaukanal, brannte hinter allen Fenstern außer in jenen der beiden jüdischen Familien eine Kerze, so hatten es die Nazis gewünscht, platziert zwischen Vor- und Hauptfenster. Wer mit ihnen einverstan­den war, sollte das deutlich für alle zeigen. Und wer es nicht war: Das wusste man jetzt.

Als Felix die Wohnung im zweiten Stock betrat, vor zwei Monaten erst war der Esstisch aus Kirsche geliefert worden, Maßarbeit, der Sitz der sechs entsprechenden Stühle war geflochten, an den Lehnen versehen mit Kupferverschlägen, die zwei Früchte am Stiel darstellten, saß sein Vater im Lehnstuhl neben seiner geliebten Clivia, einer Zimmerpflanze, die ursprünglich aus Südamerika stammt und damals sehr in Mode war, die schmalen langen Blätter wuchsen symmetrisch nach zwei Seiten aus dem Topf in die Höhe, um dann abzufallen und spitz zu enden.

Mutter sei schon im Bett und lasse grüßen, meldete er knapp. Dann schwieg er, fassungslos, erschlagen. Va­ter und Sohn saßen eine Weile da, zu reden gab es nichts. Außer vielleicht noch: Wo ist Theo, wann kommt er nach Hause, weißt du es?

Ein paar Tage später versuchte Felix, auf der englischen Botschaft eine Einreiseerlaubnis zu erhalten. Er ging auf der Kärntnerstraße Richtung Stephansdom, als er fünfzig Meter weiter eine Sperre aus Polizei und SA bemerkte. Es war zu spät, unbemerkt abzudrehen, hinten stand ein Lastwagen mit offenen Bänken und grünem Verdeck bereit, um die Verhafteten wegzubringen. Wo­hin, wusste man.

Felix tat instinktiv das Richtige, trat scheinbar seelenruhig ein paar Meter vor der Sperre vom Gehsteig auf die Straße, ging ohne jede Hast an dieser vorbei, um nach ein paar Metern ebenso seelenruhig, aber mit ra­sendem Herzschlag, wieder auf das Trottoir zu treten, bloß nicht schneller werden oder sich gar umdrehen. Niemand hatte ihn bemerkt.

«Ich wusste mir zu helfen, aber ich war dafür nicht geschaffen», sagte mir Felix Jahrzehnte später, da saß er in einer Schweizer Kleinstadt auf einem ausgebeulten braunen Stoffsofa in einem düsteren Raum. Auch hier stand, auf einem Schemel vor dem Fenster, eine Clivia, sie war groß gewachsen, fleischig die Triebe. Hatte meine Mutter mit der Pflanze ihrer Schwiegermutter Reverenz erweisen wollen, obwohl sie es ihr nie hatte recht machen können, sosehr sie sich auch bemüht hatte?

Felix gehörte nicht zu jenen, welche später nie zu­rückkehrten in die Stadt der Jugend. Aber es brauchte seine Zeit, bis er reiste, und er blieb vorsichtig dabei, auf der Hut, als könnte da plötzlich wieder eine Sperre ­stehen. Er fuhr später auf Klassentreffen, und glücklich stimmte ihn, dass da eine Frau war, Botschafterin mittlerweile, die von sich aus die alten Zeiten ansprach und nicht wie andere tat, als sei damals nichts Besonderes vorgefallen.

Paradies möcht ich nicht

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