Читать книгу Paradies möcht ich nicht - Eric Bergkraut - Страница 8
Das Wiener Telefonbuch
ОглавлениеIch bin an vier Orten soweit zu Hause, dass mein Name an der Tür steht und eine Zahnbürste bereitliegt. Gelegentlich weiß ich nicht sicher, wo ein Buch steht, das ich suche. Ich träume regelmäßig, ich schlösse meine Pariser Wohnung auf und dahinter öffne sich nichts als ein Loch.
Meine Eltern lebten mir und meinen beiden Geschwistern eine extreme Sparsamkeit vor, es war fast schon Geiz. Als Gastgeber waren sie großzügig. Fuhren wir in unserem ewigen dunkelblauen 2CV oder Deux cheveaux mit dem aufrollbaren Faltdach in die Ferien nach Südfrankreich, durften immer entweder Catherine oder Edmond einen Freund oder eine Freundin mitnehmen.
Es bleibt mir ein Rätsel, wie wir alle in den Wagen passten, Gepäck gab es auch noch. Die Stimmung war gut, in den Kurven neigte sich die Ente, wie man auf Hochdeutsch sagte, unter dem Gewicht extrem nach links oder rechts, und die Schwerkraft drückte uns vier hinten Sitzenden auf je einer Seite zusammen. Das störte uns nicht, die grobe Federung war typisch für den Deux cheveaux, den wir doch liebten, schon weil er eine Antwort war auf ein anderes Tierchen, das wir hässlich fanden, den VW Käfer. Außerdem ergab es sich, dass eine Freundin meiner Schwester, Regi, in der ersehnten Kurve fast mit mir verschmolz oder sich, ein andermal, Michèles luftig langes Haar im Fahrtwind des offenen Daches über mein Gesicht legte.
Anders als in der Schweiz kehrten wir in Bistrots ein, der erste Diabolo menthe war die Begrüßung in Frankreich. Louise und Felix sangen gerne, wenn es über die endlosen, baumgesäumten Landstraßen ging, die regelmäßig schroff abfielen, es war vor der Zeit der Autobahnen. Den Schwung galt es zu nutzen, um trotz schwachem Motor den auf dem Fuß folgenden Aufstieg zu schaffen. Autofahren war noch ein kleines Abenteuer, Felix ein Pilot.
Einmal hielten wir am Straßenrand, um zu hören, wie Staatspräsident Charles de Gaulle eine Ansprache hielt. Autoradio hatten wir nicht, einen Transistorempfänger mit Batterien schon. Als der General, der immerhin Frankreich mitbefreit hatte, zum Schluss ausrief: Vive la République, vive la France, brüllten meine Eltern mit und die großen Geschwister auch, und ich träumte davon, wenn schon nicht ein General zu werden, so doch ein ähnlich pathosfähiges Stimmorgan zu entwickeln.
An einem meiner Lebensorte, in Zürich, steht ein sehr altes, rotes Telefonbuch im Regal. Wie war es in meinen Besitz gekommen? Edmond hatte mit der Familie gebrochen, aber Catherine hütete die Relikte der Geschichte fast eifersüchtig. Das Buch machte mit mir viele Umzüge, lange hatte ich es fast vergessen, bis es mir wieder in die Hand fiel, ich begann, darin zu blättern.
In der großen Stadt an der Donau, in die meine Vorfahren einst aus Galizien eingewandert waren, war es vor dem Zweiten Weltkrieg nicht selbstverständlich, in einem solchen Buch zu erscheinen, ein Telefonanschluss war etwas Besonderes. Ich entdeckte einen Adler, Dr. Alfred (Seite 3 ) oder einen Freud, Dr. Sigmund (Seite 155 ).
Wohl gehörte es sich für meinen Großvater Rudolf, in diesem Buch Platz zu finden, ein Telefonanschluss war ja auch praktisch. Er war ein technikinteressierter ehemaliger Erster-Weltkriegs-Hauptmann, bewunderter Besitzer des ersten fahrbaren Staubsaugers weit und breit. So ist heute das abgewetzte rote Wiener Telefonbuch, Ausgabe Mai 1938, in meinem Besitz. Bestimmt hat es Rudolf, ein Mann, der Ordnung geschätzt hat, zusammen mit allerhand Möbeln 1938 zunächst nach Paris geschickt.
Rudolf, aufrechte Gestalt mit glattem Gesicht, einer graden Nase ohne jeden sogenannt jüdischen Anklang, stets im Anzug und korrekt gescheitelt, und seine Frau, meine Großmutter Aranka, energische, klein gewachsene Frau, in Budapest geboren, mit damals schon angegrautem Haar, besaßen offizielle Ausreisedokumente.
Akkurat wie später jene für die Vernichtung waren auch die Formalien für den Transport des Hausrates verfasst. Gegen erhebliche Gebühren war es möglich, Möbel und anderes außer Landes zu schaffen, natürlich auch das rote Buch. Es war in der Emigration ohne praktischen Nutzen, eine schnelle Rückkehr war unvorstellbar, aber Rudolf und Aranka wollten sich nicht trennen vom Buch und den vielen Namen, die darin standen.
Schwieriger war es, selber heil in ein anderes Land zu gelangen. Die Ausreisepapiere konnte man auf dem Amt beantragen, es war ein demütigender Gang und teuer. Die Bescheinigung durch das nunmehr Deutsche Reich garantierte aber in keiner Weise die Aufnahme durch ein anderes Land.
Die beiden hatten einen Plan: Sohn Richard, in Paris lebend, hatte einen Helfer gefunden, der ab Saarbrücken die illegale Einreise nach Frankreich vorbereiten sollte. Treuherzig legte Rudolf dem SS-Mann an der Grenze die gültigen Nachweise vor, das kümmerte diesen nicht, er schickte beide zurück, man wolle den Franzosen auf der anderen Seite keinen Ärger machen, das seien auch nur Menschen. Es nutzte nichts, dass Großvater daran erinnerte, die Familie sei zu Hause keineswegs wohlgelitten.
Ein Bett für die Nacht fand man, als Aranka den Portier des Hotels an einen biblischen Pilger erinnerte, der einst in Not eine Unterkunft gesucht hatte; dann ging es zurück an die Donau, hier waren am ehesten nützliche Informationen zu erhalten, vielleicht gar neue Papiere. Es war Dezember 1938, Wien voller Hakenkreuze, die Auslagen dekoriert für Weihnachten, die Nazis und ihre Mitläufer waren fast unter sich. Aranka und Rudolf versteckten sich bei einer Schwester, die bleiben wollte, aber sie wussten, dass sie wieder wegmussten, schnell sogar.
Ein Passeur für die deutsche Seite wurde über Bekannte gefunden, es gab einen Markt für dergleichen, wie auch für Einreisedokumente, echt oder falsch, die sich bewährten oder in den Tod führten. Treffpunkt Saarbrücken, Wartesaal Bahnhof erster Klasse, Erkennungszeichen: Aktentasche und vier rote Nelken.
Aber niemand, auf den die Beschreibung gepasst hätte, saß zur vereinbarten Zeit am vereinbarten Platz. Der Wartesaal der dritten Klasse blieb die Nacht offen, den Kopf auf den Tisch gestützt, dösten beide vor sich hin, bis die Züge wieder fuhren, es ging nach Frankfurt und abends zurück nach Saarbrücken. Wichtig war, das Grenzgebiet zu verlassen, die Gestapo kontrollierte diese Zone, es herrschte Willkür.
Am Abend, wieder im Saal erster Klasse, sahen die beiden einen Mann mit Aktentasche, aber ohne Nelken. Man näherte sich vorsichtig, ein Lothringer, wie er erklärte, er verlangte als Erstes, noch im Bahnhofsgelände, die ausgemachte Summe, dann drängte er zum Aufbruch.
Der Passeur führte das Paar im Auto vorbei an Kohleminen und dann zu Fuß bis an den Merlebach, es war tiefe Nacht, der 6. Januar 1939, exakt 68 Jahre später sollte meine Tochter Juliette zur Welt kommen, eine Nachzüglerin, geboren in einen Männerhaushalt. Es war Vollmond, und um Mitternacht habe sich dieser gezeigt, genau in dem Augenblick, als die beiden in der Mitte des Flüsschens standen. Ich hätte das nicht zu schreiben gewagt, hätte nicht wiederum Juliette in der Gaststätte eines Tessiner Bergdorfes, keine hundert Meter entfernt vom Felsen, von dem sie Kopf voran und jedes Mal zu meinem Schrecken in das Becken eines Bergflusses zu springen pflegte, per Handy eruieren können, dass tatsächlich Vollmond war, wenn auch schon am 5. Januar um 22.29.42 Uhr, aber wer wollte es schon so genau nehmen.
Der Schlepper hatte sie vorausgeschickt und war am Ufer zurückgeblieben, das Gepäck, einen Rucksack und einen Handkoffer, hatte er ihnen abgenommen, damit sie besser durch das Flüsschen waten könnten. Als aber die Großeltern sich am anderen Ufer nach ihm umdrehten, war der Mann schon unterwegs zurück nach Saarbrücken und mit ihm ihre Habe.
Aranka und Rudolf waren in einem sprichwörtlichen Niemandsland, keinem Land zugehörig, sie gingen weiter, die Richtung ungefähr, da entdeckten sie nach einer Viertelstunde in der Ferne ein kleines, näherkommendes Licht, das stetig größer wurde, ein Glück ohnegleichen, es waren Richard und der elsässische Passeur, seit Stunden im Auto unterwegs, kreuz und quer.
Der Elsässer hatte seine Sache gut gemacht: Noch bevor das französische Zollhäuschen im Blick seiner Passagiere auftauchte, bremste er das Fahrzeug ab, fuhr im Schritt weiter, hupte lang und betont kräftig, die Großeltern lagen jetzt geduckt auf der Rückbank, niemand zeigte sich im Haus, in dem es dunkel blieb, man war in Freiheit.
Später, als der große Krieg ausbrach und die deutschen Truppen sich rasend schnell Paris näherten, wurde mein Großvater, von den Franzosen als feindlicher Ausländer betrachtet, in der Normandie eingesperrt, er konnte ja ein Spion sein, während meine Großmutter die Metro bis zur südlichsten Haltestelle nahm, Porte d’Orléans, und zu Fuß aufbrach durch den nicht besetzten Teil des Landes, vierhundert Kilometer weit.
Mein Vater Felix weilte zu diesem Zeitpunkt wie seine Brüder Richard und Theo in Nordafrika: Sie hatten sich für die Fremdenlegion verpflichtet, sie hofften, in den Krieg ziehen zu dürfen. Rudolf gelang es, mittels einer Leiter über den Zaun des Lagers zu klettern, er schlug sich bis nach Limoges durch, in die unbesetzte Zone, wo er Aranka fand, wenigstens war das Paar jetzt wieder vereint.
Gewiss hat zu diesem Zeitpunkt niemand aus der Familie Gedanken verschwendet an den Verbleib des Wiener Telefonbuches. Ich weiß, dass die Möbel aus Wien irgendwann im Jahr 1941 in Limoges angekommen sind. Sissy muss sich darum gekümmert haben, die Frau meines Onkels Richard, die als französische Jüdin Privilegien genoss.
Sie und Richard verkauften später in Limoges einen Teil dieser Möbel, das wurde ihr Geschäft, die Einnahmen teilte man sich in der Familie redlich. Aber wie kommt es, dass außer dem Telefonbuch heute auch ein aus Wien stammender sogenannter Servierboy aus Mahagoni bei mir steht? Warum wurde dieses Stück damals in Limoges nicht verkauft, wo es für die Familie doch dringend darum ging, zu Geld zu kommen?
Ich nehme an, dass das amtliche Teilnehmerverzeichnis aus Wien 1941/42 in Limoges war und vermutlich bis 1945 auch blieb, aber wo?
Es gab bald keine Wohnung mehr, die von Dauer war, die Brüder waren wieder zu den Eltern gestoßen, sie wechselten den Standort öfter, die französische Regierung verschärfte die Gesetze gegen Juden, es begannen Verhaftungen, Frauen waren noch ausgenommen, Männer kamen manchmal wieder frei, den Brüdern half, dass sie als ehemalige Soldaten Kontakte hatten zu amtlichen Stellen, mehrmals warnten Beamte vor anstehenden Razzien, die Résistance war in Limoges stark und gut organisiert. Die Monate vergingen und die Razzien in Limoges wurden systematisch, für die Kontaktleute wurde es gefährlich, die Flüchtlinge zu warnen. Einmal noch konnten sich die Brüder bei der Mutter eines bekannten Soldaten verstecken, als die französischen Milizen kamen.
Ab und zu nehme ich das rote Telefonbuch aus dem Regal und verliere mich darin. Es war Rudolfs amtliche Versicherung, zur Wiener Gesellschaft zu gehören. Er entstammte dem polnischen Ostjudentum, Assimilation war ihm wichtig gewesen und hatte ihn doch nicht geschützt. Auf dem Deckel oben rechts prangt der deutsche Reichsadler mit dem Hakenkreuz am Fuße, die erste Doppelseite ist unbedruckt, rechts steht groß in Rudolfs nach oben fliehender Handschrift sein Name.
In diesem Punkt hatte der Führer aus Braunau recht gehabt. Was er rausgekrächzt hatte, mit dieser gepresstesten aller Stimmen, war nicht mehr und nicht weniger als eine «Vollzugsmeldung», Österreich war parat gewesen. Zwei Monate nach diesem «Anschluss» war das neue Telefonbuch schon gedruckt gewesen. Nach Hinweisen wie «Nimm Dir ein Telefon, dann bist Du nicht allein», folgen direkt die NSDAP-Nummern: Von der «Arbeitsfront» bis zum «Zentralverlag der NSDAP», sie zeugen von der neuen Ordnung, die über diese Stadt gekommen war, als sei sie für ewig, dann erst begann das reguläre Buch mit dem Eintrag «Aaabas, Sicherheitsschlösser».
Mein Exemplar ist vermutlich 1945 von Limoges nach Paris gegangen, als Großvater Rudolf seinen Kindern aus der Schweiz dorthin folgte. Und 1961 von dort nach Aarau, als die Großeltern wiederum ihrem jüngsten Sohn nachzogen, das Schicksal hatte die Familie unentrinnbar verbunden.
Irgendwann hatte Großvater im ganzen Buch von 734 Seiten die Namen aller ihm persönlich bekannten Menschen rot angestrichen. Er kannte viele Leute, als ehemaliger k.u.k. Offizier, aktiver Sozialdemokrat und Mitglied einer Freimaurerloge. So reicht die Liste der Kolorierten von «Abeles, Ing. Erwin» bis zu «Zwecker, Dir. Wilhelm (Ruth)».
Auf Seite 167 fand ich einen überraschenden Gegenstand, ein getrocknetes, nicht vier-, sondern fünfblättriges Kleeblatt. Auf welchem Boden diese Pflanze einst gewachsen war und wie sie ins Buch gekommen ist?