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Kapitel 2: Fast ein Idyll

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The Sun and Times, London, 9. Sept. 2100: Der Premierminister wird heute im Parlament eine Gesetzesvorlage einbringen, mit der die Bürger besser gegen Entführungen und Menschenraub geschützt werden sollen. Das Gesetz sieht vor, dass jeder Bürger mit einem Chip ausgestattet wird, der die Position seines Trägers beständig an den neuen britischen Positionssatelliten MS19 meldet. Die konservative Opposition hat heftige Proteste gegen dieses Überwachungsgesetz angekündigt.

Wenn Philip McShane sein unscheinbares Reihenhaus im Nachtigallenweg verließ, benötigte er nur wenige Schritte, bis er an jener Stelle auf dem Hügel von Richmond stand, von wo aus Constable und Turner ihre bekannten Landschaftsbilder der Themse in Richtung Hampton Court gemalt hatten. Durch glückliche Umstände oder den Zufall hatte sich die Landschaft seit der Zeit Constables nur wenig verändert und war nicht durch moderne Bauten entstellt worden. Der Hauptunterschied bestand darin, dass sich im Verlauf der letzten fünfzig Jahre zwischen die einheimischen Laubbäume südländische Feigenbüsche, Olivenbäume und Palmen gemischt hatten. McShane unternahm jeden Morgen nach dem Frühstück einen etwa zweistündigen Spaziergang, wobei er seine Wegstrecke oft wechselte. Sein erster Gang galt jedoch immer dem Ausblick auf dem Hügel. Dort verglich er die Farben des Himmels und des Flusstales mit seiner Erinnerung an das Bild Constables und trug in einem kleinen Notizbuch in Form einer Benotung ein, ob die Wirklichkeit des Tages, das Licht und die Stimmung viel schlechter, schlechter, etwas schlechter oder fast so schön wie auf dem Gemälde waren. Danach stieg er meistens zum Fluss hinab und spazierte stromabwärts am alten Hirschpark vorbei, bis auf dem anderen Flussufer Syon House und die große Palmenallee entlang der Überschwemmungsaue ins Blickfeld kamen. Dann ging er entweder zurück oder sprang an einer bestimmten Stelle über den Wassergraben, der den Weg vom Gelände von Kew Gardens trennte, um im Park seinen Spaziergang fortzusetzen. Den Golfplatz, der sich an den Hirschpark anschloss, hatte er früher oft mit seiner Frau zusammen besucht und dort eine Runde Golf gespielt. Jetzt mied er diesen Platz.

Manchmal begnügte er sich auch mit einem kürzeren Spaziergang im Hirschpark, nachdem er zuvor auf dem Gelände des alten Palastes herumgegangen war und wie schon so oft in der Vergangenheit überlegt hatte, wo wohl das Sterbezimmer von Elisabeth I. gewesen sein mochte. Während er an Trumpeters’ House meist schnell vorbeiging, weil ihm das Gebäude nicht sehr zusagte – es gäbe zahlreiche zweistöckige Herrenhäuser mit einem Portikus, die viel schöner seien, und die beiden Trompeterfiguren aus dem alten Torhaus, denen das Herrenhaus seinen Namen verdankte, passten überhaupt nicht zu dem Gebäude, begründete er in Gesprächen seine Abneigung –, verweilte er oft länger am Asgill House, das einen ungewöhnlichen achteckigen Grundriss besaß und möglicherweise auf den Fundamenten eines der Türme des alten, im siebzehnten Jahrhundert weitgehend abgerissenen Palastes Heinrich VIII. errichtet worden war. Begegnete er Bewohnern, grüßte er höflich oder hielt sogar ein kleines Schwätzchen. Sein Interesse an dem Asgill House war noch gewachsen, nachdem er durch Zufall entdeckt hatte, dass Richard Hawkstone, der Erbauer des Hauses, zu den Vorfahren seiner Mutter Henrietta Hill zählte.

An anderen Tagen drehte er eine große Runde im südöstlich gelegenen Richmond Park, den er wegen des alten Baumbestandes mit vielen Eichen sehr liebte. Manchmal verweilte er dort, um Rotwild und Damhirsche zu beobachten, manchmal stieg er auf den nach König Heinrich VIII. benannten Hügel, von dem man trotz der Hochhäuser von Fulham einen fast ungetrübten Blick auf die achtzehn Kilometer entfernte Saint Paul’s Kathedrale hatte. Dann überlegte er, welcher Anblick sich wohl vor dem großen Brand dargeboten hatte, als sich der hohe Vierungsturm des gotischen Vorgängerbaus in den Himmel reckte und alle Häuser weit überragte. Schenkte man alten Unterlagen Glauben, war der Turm, als er noch seine Spitze besaß, eine Zeitlang das höchste Gebäude auf der Erde gewesen, aber die Spitze war schon hundert Jahre vor dem großen Brand eingestürzt. Manchmal überlegte McShane, ob er gerne in der Zeit Elisabeths gelebt hätte, aber die Vorstellung der hygienischen Verhältnisse und der Unwissenheit der Ärzte hielt ihn davon ab. Bei der Beobachtung der Hirsche und Wasservögel dachte er oft daran, dass der Park schon ein halbes Jahrtausend überdauert hatte, und das gab ihm Trost, wenn er an die Veränderungen in seinem Leben dachte und an die Gesetzesvorhaben der Regierung, die die alten Freiheiten immer stärker einschränkten.

Nach seiner Rückkehr stand die Teezubereitung an. Heute überlegte er, ob er grünen Mango mit Blüten von Sonnenblumen oder einen weißen Tee aus den Bergregionen von Linyun und Li ye in der Kwangsi-Provinz nehmen sollte, von dem er nur noch eine kleine Menge hatte. Seine Teesorten bewahrte er in gestreiften Blechbüchsen auf, die alle von seinem Lieblingshändler in Covent Garden stammten. Genauso schwierig wie die Auswahl der Teesorte war die Auswahl der Teetasse. Er besaß eine ganze Reihe mit Dekors nach Entwürfen von William Morris, die seine Frau als junges Mädchen von ihrer Großmutter geerbt und mit in die Ehe gebracht hatte. Manchmal ergriff ihn eine Trauer, dass er ihre Lieblingstassen nicht anfassen konnte, manchmal zwang ihn die Erinnerung dazu, gerade sie zu benutzen. Heute schwankte er zwischen Erdbeeren auf schwarzem Grund, dem Rosenmuster und der hellen Pimpernelle. Während das Wasser kochte, warf McShane einen Blick in den Wintergarten und suchte nach seiner Katze. Doch Marmalade war nicht anwesend und trieb sich wahrscheinlich mit Tobermory oder einem anderen Kater aus der Nachbarschaft herum. Der Garten hinter dem Wintergarten war klein, er bestand aus einem Stück Rasen, das links von einem schmalen Kräuterbeet und rechts von einem etwas breiteren Gemüsebeet begrenzt wurde. In seinem Gemüsebeet hatte McShane Auberginen, Zucchini und Paprika angepflanzt. Abgeschlossen wurde der Garten von einer roten Backsteinmauer, vor der ein Rosenstrauch rankte, der von einem Feigenbusch und einem Zitronenbäumchen eingerahmt wurde. Die Auberginen, der Feigenbusch und das Zitronenbäumchen waren nicht die einzigen Zeugen des Klimawandels. In der Mitte des Rasens stand eine Palme, die die letzten zwanzig Winter im Freien verbracht hatte, ohne Schaden zu nehmen. Philip McShane hing sehr an der Palme, weil seine Frau sie gepflanzt hatte. Das war auch der Grund, warum die Bank im Wintergarten sein Lieblingsplatz war. Dort hörte er Musik, dort las er Bücher, dort hatte Marmalade ihr Körbchen.

Das Haus war ein typisches schmales Reihenhaus aus der Frühzeit des zwanzigsten Jahrhunderts. Neben dem engen Eingangsflur, der eine Diele ersetzen musste und keine Visitenkarte war, lag das Esszimmer, dahinter die Küche, an die sich der Wintergarten anschloss, der erst nachträglich angebaut worden war. Sonst gab es im Erdgeschoss nur noch eine steile Treppe ins Obergeschoss, in dem Philip McShane das Zimmer zur Straße als Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Vor dem dreiteiligen Erkerfenster stand ein Schreibtisch in Kirschholz. Etwa bis zur Höhe der Schreibtischplatte standen offene Bücherregale vor den Wänden, deren obere, sichtbare Teile mit einer grünen Streifentapete beklebt waren. Die Tapete war mit einer Unzahl kleiner gerahmter Bilder bedeckt; teilweise waren es Stiche, teilweise kolorierte Landschaften, teilweise Fotos oder Urkunden, dazwischen hingen zwei größere Ölbilder, gemalte Porträts, eine Frau mittleren Alters mit wehmütigem Blick und ein älterer Mann, dem man eine entfernte Ähnlichkeit mit Philip McShane nicht absprechen konnte. An der Wand zum Flur hing ein großer Plan des Parlamentsgebäudes in London – nach der Beschriftung zu urteilen ein alter Plan, ein Plan vielleicht aus dem neunzehnten oder frühen zwanzigsten Jahrhundert. Was man nicht sehen konnte, war, dass die Rückseite einen zweiten Plan verbarg, einen in jüngerer Zeit erstellten Plan, der die Kellergeschosse in allen Einzelheiten zeigte. Vor dem Plan stand ein großer mit Leder bezogener Sessel, der abgesehen von dem Schreibtischstuhl die einzige Sitzgelegenheit des Arbeitszimmers darstellte. Daran war zu erkennen, dass das Arbeitszimmer nicht für Besucher eingerichtet war.

In dieses Zimmer, dessen Holzfußboden ein dicker dunkelroter Teppichboden bedeckte, trug McShane seine Teetasse mit dem Pimpernellemuster und setzte sie auf dem Schreibtisch ab. Der Schreibtischstuhl stand mit dem Rücken zum Fenster. Wenn McShane an seinem Schreibtisch Platz nahm und aufblickte, fiel sein Blick stets auf den Plan des Parlamentsgebäudes an der gegenüberliegenden Wand; wenn er nachdenken wollte, stand er auf und blickte aus dem Fenster auf die Straße und die gegenüberliegenden Häuser. Auf der Schreibtischplatte stand eine Lampe mit breitem sandsteinfarbenen Schirm. Da er, wenn er am Schreibtisch Platz nahm, mit dem Rücken zum Fenster saß, musste er auch tagsüber, wenn er lesen oder etwas schreiben wollte, die Lampe einschalten. Was zeitgemäße Kommunikationsmittel betraf, waren nur ein flacher Monitor und eine Sensorplatte mit Mikrofon vorhanden. Auch in anderen Räumen, im Esszimmer und im Schlafzimmer, das über der Küche lag, war von moderner Technologie wenig zu sehen. Der einzige Fernseher hing an einer grün tapezierten Schlafzimmerwand, und im Esszimmer war eine Musikanlage unauffällig untergebracht.

Zum Esszimmer im Erdgeschoss ist noch zu bemerken, dass die Wände gelb tapeziert waren und ein ovaler Esstisch mit vier grün bezogenen Stühlen in der Mitte des Raumes stand. In einem Regal unter dem Erkerfenster fanden sich Werkausgaben von Shakespeare, Marlowe, John Ford und Thomas Middleton sowie Robert Burtons Anatomie der Melancholie. Zwischen diesen Bänden standen zwei Bücher, deren Rücken unbeschriftet waren. Hätte ein Gast sie herausgezogen, wäre er vermutlich verwundert gewesen: Ein Buch war eine medizinische Abhandlung in französischer Sprache über Viren, das andere Buch war auf Russisch verfasst und enthielt Beschreibungen von Sprengstoffen.

Die Rückwand des Esszimmers nahm ein falscher Kamin ein, an der Wand zum Nachbarhaus stand ein verglaster Geschirrschrank, und ihm gegenüber hingen zwei Landschaftsbilder im Stil von Claude Lorrain. Das Esszimmer benutzte McShane nur zum Musikhören, die Mahlzeiten nahm er meistens im Wintergarten oder flüchtig in der Küche ein. Die letzte mit Gästen im Esszimmer eingenommene Mahlzeit lag Jahre zurück.

Zwischen dem Arbeitszimmer und dem Schlafzimmer befand sich ein kleines fensterloses Bad, dessen Einrichtung mit getrennten Wasserhähnen sich seit über hundert Jahren nicht zu verändert haben schien. Die Badewanne stand frei vor einer blau tapezierten Wand auf einem Teppichboden, der Spülkasten für das Klosett hing unter der Decke und wurde mit einer Kette mit Porzellangriff betätigt. Über der Badewanne war ein Stück der blauen Tapete illusionistisch bemalt und zeigte eine arkadische Landschaft, durch die aber merkwürdigerweise eine Eisenbahn mit dampfender Lokomotive fuhr. An der gegenüberliegenden Wand hingen zahlreiche kleine Bilderrahmen; manche enthielten Fotos, andere nur Spiegel. Auf einem der Fotos war eine Gruppe junger Männer zu sehen; einer davon war McShane, ein anderer der spätere Premierminister Teimur Huxley. Das Schlafzimmer war nicht sehr groß, die Wand neben der Tür nahm ein Kleiderschrank ein, von dem McShane nur die Hälfte benutzte, in der anderen Hälfte hingen noch Kleider seiner Frau, und in Fächern lagen Unterwäsche, Strümpfe, Schuhe, Schmuck, andere Erinnerungsstücke, von denen er sich nicht hatte trennen können, sowie ein Datenspeicher. Die Wäsche seiner Frau rührte er fast nie an; nur manchmal, wenn er seinem Bedürfnis nicht länger standhalten konnte, nahm er abends ein Stück heraus und trug es in das Badezimmer, um sich Erleichterung zu verschaffen. Danach schloss er oft den Datenspeicher an den Fernseher an und betrachte Fotos oder Videosequenzen.

Im Flur gab es neben der Badezimmertür noch eine Tapetentür, sie war sehr schmal und ließ sich nur nach außen öffnen. Dahinter verbarg sich eine sehr steile Treppe, die ins Dachgeschoss führte. Hätte der Hausherr einem Gast die Tapetentür gezeigt und wäre er mit ihm ins Dachgeschoss gestiegen – was noch nie vorgekommen war –, hätte der mit großer Verwunderung eine Ansammlung unterschiedlichster Geräte zur Informations- und Nachrichtenübermittlung entdeckt, unter anderem zwei Satellitenschüsseln zur Abfrage von GPS-Daten, ein altes Funkgerät und eine kleine Offsetdruckmaschine. Ein Fachmann hätte darüber hinaus bemerkt, dass dieses altmodische Haus mit einer elektronischen Tür- und Fenstersicherung ausgerüstet war. Die Haustür zum Beispiel ließ sich nur aufschließen, nachdem McShane mit Daumendruck das Schloss freigegeben hatte. Das Durcheinander im Dachgeschoss war nur ein scheinbarer Wirrwarr, tatsächlich jedoch sorgfältig arrangiert, denn es verbarg eine Wandöffnung, die ins Dachgeschoss des Nachbarhauses führte. Im Nachbarhaus lebten die älteren Schwestern Abigail und Pamela Lockey. Ihnen gehörte der Kater Tobermory, von dem Durchgang unter dem Dach wussten die Schwestern nichts. Sie waren schwerhörig und hatten seit Jahren das Dachgeschoss nicht mehr betreten. Eine andere Wandöffnung war im Erdgeschoss verborgen. Der Raum unter den Treppenstufen diente als Garderobe für Mäntel, Jacken und Mützen. Die hölzerne Rückseite war eine Tür, durch die man in den Schacht des stillgelegten Kamins gelangen konnte.

Philip McShane hatte seine Teetasse auf dem Schreibtisch abgestellt und danach den Monitor angeschaltet. Auf dem Schirm erschienen die Nachrichten des Morgens. Als er die Meldung von der Gesetzesvorlage zum verstärkten Schutz der Bürger gelesen hatte, probierte er den Tee und sagte dann: „Teimur Huxley, ich werde verhindern, dass du dich zu einem Tyrannen wie Cromwell erhebst – auch wenn ich dafür das Parlament in die Luft sprengen muss, auch wenn es mich das Leben kostet. Das bin ich Rachel schuldig.“

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101 nebst seiner Geschichte

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