Читать книгу Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101 nebst seiner Geschichte - Eric Gutzler - Страница 7

Kapitel 5: Spurlos verschwunden

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World Weather News, 15. Sept. 2100: Heute erwartete Tagestemperaturen: Upernarvik (Grönland) 5°C, Frobisher Bay (Kanada) 4°C, Cuzco (Peru) 19°C, Oslo (Norwegen) 25°C, Berlin (Europäische Gemeinschaft) 29°C, Madrid (Europäische Gemeinschaft) 37°C, Rom (Europäische Gemeinschaft) 35°C, Jakutsk (Russland) 13°C, Wuhan (China) 27°C, Kanpur (Indien) 38°C, Daly Waters (Australien) 30°C.

„Seht euch die Fotos an“, sagte der Mann, der am Kopfende des Tisches saß, „die Weiber sind abgebrüht, echt eiskalte Fotzen!“

Der Mann war wütend, weil er keine Erklärung für die Ereignisse hatte und befürchtete, man würde ihm den Fehlschlag der Aktion in die Schuhe schieben.

Der in gedämpftes Licht getauchte Besprechungsraum besaß keine Fenster. Eine Wand nahm ein etwa sechs Meter langer und drei Meter hoher Bildschirm mit einer Weltkarte ein, die alle gegenwärtigen Konfliktbrennpunkte und Kriege zeigte; die Darstellung der Weltkarte ließ sich vielfach verändern, die Erde konnte physisch, klimatisch und geologisch abgebildet werden. In der gegenüberliegenden Wand waren etwa einhundert Monitore eingelassen, die Fernsehnachrichten aus allen Teilen der Welt brachten oder Webcam-Bilder aus wichtigen Städten übertrugen. Der Ton war jedoch ausgeschaltet.

An einem Konferenztisch saßen neun Männer und vier Frauen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe. Sie waren unauffällig gekleidet und hatten unauffällige Gesichter. In einer größeren Menge würde keiner von ihnen besonders auffallen. Sie blickten zum Kopfende des Tisches und hörten einem dunkelhaarigen Redner zu, der eine Folge von Fotos erläuterte, die er auf einem weiteren Großbildschirm an der Rückseite des Raumes zeigte.

Begonnen hatte der Redner, der Levon Radjabow hieß, seinen Vortrag mit Erwähnung eines ungelösten Falles: „Sie erinnern sich sicherlich an den Vorfall am Kap Lopatka.“

„Ist da nicht dieser Doppelagent spurlos verschwunden? Hieß er nicht Kaimoa Shahade?“ bemerkte einer der Teilnehmer.

„Genau. Diesen Vorfall aus dem Frühjahr des vergangenen Jahres meine ich. Shahade war auf der Flucht aus Russland. Vom Putoranagebirge hatte er, um seine Verfolger zu täuschen, Spuren gelegt, als wolle er sich zur Kara-See wenden. Tatsächlich aber wählte er verwegen den Weg nach Osten und hat sich bis auf die Kamtschatka-Halbinsel durchgeschlagen. Sein Fluchtweg betrug sechstausend Kilometer – eine grandiose Leistung, aber auch eine Leistung, die bei einigen Leuten Misstrauen hervorrief. Am Kap Lopatka sollten wir ihn übernehmen. Doch am vereinbarten Treffpunkt tauchte er nicht auf.“

„Haben ihn die Russen am Ende noch geschnappt?“ fragte eine Frau, die erst seit einigen Monaten zu der Gruppe gehörte und mit dem Fall Shahade nicht vertraut war.

„Nein. Das hätten wir erfahren.“

„Ist er umgekommen?“

„Nein, wir haben sein implantiertes Ortungssignal während der Flucht aufgefangen und wussten immer, wo er sich befand. Trotzdem ist er entkommen.“

„Warum“, setzte die Fragerin nach, „sagen Sie entkommen? War er nicht unser Mann?“

„Das ist es ja. Wir waren uns nach amerikanischen Hinweisen nicht mehr sicher, für wen Shahade wirklich arbeitete, und wollten ihn unserer Zentrale überstellen.“ Nach diesen Worten drückte er auf das vor ihm in der Tischplatte eingelassene Sensorfeld, und auf dem Großbildschirm erschien eine Satelliten-Aufnahme des Kaps Lopatka und der benachbarten Insel.

„Zum Verständnis der Entfernungen sei gesagt, dass der Abstand der Südspitze der Halbinsel zu der vorgelagerten Insel zehn Kilometer beträgt. Der See, den Sie auf dem Foto erkennen können, liegt etwa siebzig Kilometer nördlich der Spitze, und die Entfernung vom östlichen Ufer des Sees zum Meer beträgt fünfzehn Kilometer. In den Wäldern an dem See hat sich Shahade zwei Tage aufgehalten und auf die Ankunft unseres Schiffes gewartet. Vereinbart war, dass er um Mitternacht am östlichen Meeresufer von unserem Schiff aufgenommen werden sollte – aber er ist nie erschienen, und sein Ortungssignal erlosch etwa eine Stunde vor dem geplanten Treffen.“

Radjabow machte eine kurze Pause und blickte seine Zuhörer an: „Wir haben alle Möglichkeiten durchgespielt. Wäre er von einem Bären angefallen und getötet worden – der See ist fischreich und ein Bärentreffpunkt –, hätte das Ortungssignal nicht erlöschen dürfen. Auch eine Gefangennahme durch russische Agenten schließen wir aus. Shahade war zu vorsichtig, um sich überraschen zu lassen. Außerdem wäre später irgendwann irgendetwas über einen eingekerkerten oder hingerichteten Spion durchgesickert. Wir vermuten daher, dass er sich den Sender mit einem Messer aus der Haut geschnitten und anschließend zerstört hat. Also: Wo ist er geblieben? Wohin ist er gegangen? Der gesunde Menschenverstand lässt nur den Schluss zu, dass er mit einem Schiff entkommen ist, einem anderen Schiff. Wir haben daher die Satellitenfotos überprüft und ausgewertet. Sehen Sie …“

Auf dem Bildschirm erschien eine Aufnahme in einem anderen, verkleinerten Maßstab.

„Dieses Foto wurde am Spätnachmittag vor Einbruch der Dämmerung gemacht. Unser Schiff können Sie am rechten Rand erkennen, es befand sich zu dem Zeitpunkt einhundertfünfzig Kilometer östlich der Küste in einer Warteposition, die es um 19.00 Ortszeit verließ. Außerdem sieht man in dem erfassten Ausschnitt noch drei weitere Schiffe, die den in Frage kommenden Küstenstreifen vor Mitternacht hätten erreichen können. Wenigstens“, er machte eine kurze Pause, „glaubten wir das lange. So lange, bis wir diese Schiffe identifiziert und ihre weitere Reise überprüft hatten. Es stellte sich heraus, dass sie mit der Flucht Shahades nichts zu tun haben konnten. Wir haben die Schiffseigner, die Kapitäne und die Mannschaften unauffällig, aber sorgfältig überprüft. Eine Dokumentation dazu ist im Archiv vorhanden. Als wir an dem toten Punkt angelangt waren, sind wir zu diesem Foto zurückgekehrt und haben es vergrößert.“

Auf dem Bildschirm erschien ein Ausschnitt, der zeigte, dass sich der vorgelagerten kleinen Insel eine größere anschloss: „Sehen Sie diesen hellen Punkt an der Nordostküste der großen Insel? Er fällt zunächst kaum auf, deswegen haben wir ihn zunächst auch übersehen. Leider hatten wir nur Satellitenaufnahmen mit einer Standardauflösung von einem Meter abgerufen und gespeichert. Daher mussten wir diese Aufnahme bei der Vergrößerung elektronisch bearbeiten.“

Ein neuer Ausschnitt erschien auf dem Bildschirm. „Was sehen Sie? Der Punkt ist jetzt länglich, hat Schiffsform, stellt sich bei weiterer Vergrößerung als eine Segeljacht heraus, die offensichtlich vor der Küste ankert. Die Entfernung zu dem Treffpunkt betrug einhundertzwanzig Kilometer. Der Segler hätte – wir haben Strömung, Windrichtung und Windstärke überprüft – den Küstenstreifen durchaus zwei Stunden vor Mitternacht erreichen können.“

Radjabow drückte auf das Sensorfeld. Das nächste Bild zeigte einen Ausschnitt des pazifischen Ozeans und des ochotskischen Meeres, in dem das Kap Lopatka nur noch ein kleiner Punkt war. „Sie werden jetzt fragen, wo sich diese Jacht am nächsten Tag befand, welche Richtung sie eingeschlagen hat, wohin sie gesegelt ist. Das haben wir uns auch gefragt und diese Aufnahme, die vom nächsten Morgen stammt und einen Ausschnitt von zweitausend mal zweitausend Kilometern umfasst, durchsucht.“

„Sie machen mich neugierig“, warf einer der Zuhörer ein, der Tojo Higuchi hieß und aus Osaka stammte, „wie weit ist die Jacht gekommen? Vierhundert Kilometer? Wo haben Sie sie gefunden?“

„Wir haben sie nicht gefunden. Sie war verschwunden. Sie hat sich wie Kaimoa Shahade der Überwachung entzogen, in Luft aufgelöst.“

Nachdem die Zuhörer ihre Ungläubigkeit, Verwunderung und Einwendungen vorgebracht hatten, fuhr Radjabow fort: „Wir waren genauso ungläubig und perplex, haben die Maße des Schiffes ausgemessen, die Daten in ein Suchprogramm eingegeben und trotzdem nichts gefunden. Daraufhin haben wir alle verfügbaren Satellitenaufnahmen der vorausgegangen Tage durchkämmt, um wenigstens die Route und den Ausgangshafen der Jacht zu finden. Mit der Methode sind wir glücklicherweise fündig geworden, die Jacht ist die Kurilen entlanggesegelt und kam aus dem Hafen von Hakodate, wo sie mehrere Tage gelegen hatte. Die Daten der Hafenaufsicht haben uns schließlich weitergebracht. Die Jacht heißt Amiramis, fährt unter der Flagge Singapurs und gehört einer Frau. Bevor ich mich jetzt weiter mit dieser Frau beschäftige, möchte ich Ihnen einige Satellitenaufnahmen zeigen, die vor fünf Tagen gemacht worden sind.“

Er drückte auf die Sensorplatte, zeigte nacheinander sechs Aufnahmen und kehrte dann zur ersten zurück: „Auf dem Foto sieht man zwei Schiffe, die Jacht ist die Amiramis, das andere Schiff, das neben der Segeljacht liegt, ein bewaffnetes Tragflächenboot der ISF. Deutlich ist zu erkennen, dass sich Polizei- oder Zollbeamte an Deck der Jacht befinden.“

Er klickte weiter: „Auf dem zweiten Foto sieht man, dass die Jacht abgeschleppt wird. Warum das Polizeischiff die Jacht in Schlepp genommen hat, braucht uns zunächst nicht zu interessieren. Achten Sie vielmehr auf die eingeblendete Zeit: Dieses Foto wurde um 12.14 Ortszeit gespeichert. Das dritte Foto wurde zehn Minuten später aufgenommen. Sie können erkennen, dass sich der Abstand zwischen dem Polizeischiff und der Amiramis verändert hat, er ist größer geworden. Wie war das möglich? Jemand muss in der Zwischenzeit die Leine gekappt haben. Auf dem vierten Bild, das um 12.26 gespeichert wurde, sieht man eine Explosion auf dem Polizeischiff. Auf dem fünften Bild ist der „Stolz des Islam“ am Sinken, das Segelschiff hat die Richtung geändert und bereits das Vorsegel gehisst. Auf Deck sind zwei Personen auszumachen. Das sechste Bild schließlich zeigt nur noch ein Schiff: die Jacht Amiramis unter vollen Segeln. Die Fragen, die sich mir stellen, sind offensichtlich: Wie ist es der Besatzung des Segelschiffs gelungen, das Schlepptau zu kappen, und wie ist es zu der Explosion auf dem Tragflächenboot gekommen? Hat jemand von Ihnen dazu eine Idee oder eine Meinung?“

„Was wissen wir über das Schiff? Haben wir andere Fotos von der Amiramis? Fotos, die sie in einem Hafenbecken zeigen; Fotos, auf denen man die Aufbauten sehen?“ fragte einer.

„Hat irgend jemand das Schiff in Wirklichkeit gesehen?“ warf ein anderer Mann ein.

„Was wissen wir über die Mannschaft? Wo ist das Schiff jetzt?“ fragte eine Frau.

„Was sieht man auf dem ersten Foto neben dem Schiff im Wasser?“ fragte Miliano Alvares, ein Mann mit mexikanischen Gesichtszügen.

„Die beiden Punkte? Sind Fische, Tümmler wahrscheinlich.“

„So kommen wir nicht weiter“, fuhr eine Frau gebieterisch dazwischen, „ihr gackert wie Hühner auf einem Hühnerhof oder wie Anfänger auf der Polizeischule. Ich verstehe auch Levon nicht, dass er diese wirre Diskussion nicht besser steuert.“

Betroffen hielten die anderen inne und wandten ihren Blick der Frau zu, die sie zurechtgestaucht hatte. Sie trug kurzgeschnittene dunkelblonde Haare, war Mitte Dreißig, sprach mit amerikanischem Akzent und hieß Kelly Killoren.

„Die Explosion kann zufällig ausgelöst worden sein. Aber so wie ich Levon seit langem kenne, vermutet er wahrscheinlich, dass die Besatzung der Jacht dafür verantwortlich war. Nicht wahr?“

Radjabow nickte.

„So wie ich Levon kenne“, fuhr sie fort, „hat er uns aber auch nicht alle Informationen gegeben, über die er verfügt. Er spielt gerne Gottvater, der die Fäden in der Hand hält und die Lösung kennt. Bevor wir weiter spekulieren, sollte er uns sagen, was er weiß.“

Der Redner ließ sich zu einem kurzen giftigen Blick verleiten, den Kelly mit einem Kussmund erwiderte: „Nun sag schon, was du noch hast.“

„Wir haben den Funkverkehr abgehört. Nach einer Meldung des Anführers an die Küstenstation wurden sechs Frauen festgenommen und gefesselt, fünf von ihnen unter Deck gebracht und eingeschlossen. Die sechste wurde in die Steuerkabine geführt, um dem als Steuermann abgestellten Zollbeamten Informationen über das Schiffssystem zu geben. Während der Fahrt war der Steuermann in ständigem Kontakt mit dem Polizeischiff und hat nichts Auffälliges berichtet. Es ist daher völlig rätselhaft, wie und von wem das Tau gekappt wurde und wie es zur Explosion des Tragflächenboots kam.“

„Gibt ein Foto von … 12.25?“ fragte Alvares, „ich habe da eine Idee.“

„Ja, ich glaube … einen Augenblick … da ist es.“

„Bitte vergrößern … sehen Sie die Verfärbung des Wassers vor der Jacht? – Das ist die Spur eines Torpedos!“

„Welche Segeljacht verfügt über Torpedos?“ warf eine Frau ein.

„Offensichtlich die Amiramis.“

„Hat jemand die Explosion des Polizeischiffs überlebt? Hat er eine Aussage gemacht?“ setzte der Japaner nach.

„Kein Besatzungsmitglied wurde aus dem Wasser gefischt. Das Meer wimmelt von Haien.“

„Was geschah mit dem Mann, der das Steuer der Jacht bediente?“

„Wissen wir auch nicht.“

„Hat man nach dem Wrack getaucht, um die Art der Zerstörung festzustellen?“

„Dafür fehlt der Marine der ISF die Ausrüstung.“

„Wir scheinen ja wirklich verdammt wenig über den Vorgang zu wissen“, bemerkte Killoren und fuhr dann fort, „welche Schlussfolgerungen ziehen wir aus dem Bild, auf dem das Torpedo zu sehen ist?“

„Es gibt für mich nur eine: Das Schiff wurde nicht gründlich durchsucht. Im Vorschiff muss es eine Kammer geben, in der sich eine weitere Person versteckt hatte und die den Abschuss durchführte.“

„Die Frauen könnten sich aber auch selbst befreit haben.“

„Benutzt die Polizei der ISF keine elektronischen Handschellen mit Sprengkapseln?“ fragte Higuchi.

„Die Ausrüstung der Zoll- und Küstenschutzschiffe ist nicht auf dem neuesten Stand. Der Zoll verfügt unseres Wissens nur über altertümliche Handschellen mit mechanischen Schlössern.“

„Wo ist das Schiff jetzt?“ wiederholte eine Frau ihre schon einmal gestellte Frage.

„Das wissen wir nicht. Seit dem Überfall hat es keine GPS-Anfrage der Jacht mehr gegeben.“

„Ich glaube, es wird Zeit“, mischte sich Kelly wieder ein und wandte sich an Radjabow, „dass du uns etwas über die Schiffseignerin und die Mannschaft erzählst.“

Radjabow nickte: „Seit dem Vorfall am Kap Lopatka sammle ich Material über das Schiff, die Eignerin und die Mannschaft. Dabei bin ich auf zahlreiche Merkwürdigkeiten gestoßen. In den Unterlagen aus Hakodate war eine Frau als Schiffseignerin angegeben, die sich bei den Hafen- und Zollbehörden als Bodishia Prasutag ausgewiesen hatte. Leider wissen wir fast nichts von ihr – was auch meine Schuld ist. Da ihr Familienname indischen Ursprungs zu sein schien, konzentrierten wir uns auf den asiatischen Raum. Nachdem die erste Recherche aber nichts ans Tageslicht förderte, habe ich die Angelegenheit nicht weiterverfolgt. Andere Projekte hatten Priorität, bis sich ein aufmerksamer Datenauswerter bei mir meldete und berichtete, bei einer Routinesichtung von Schiffsdaten in einem asiatischen Hafen sei ihm ein Schiff aufgefallen, nach dem ich einmal gesucht hätte. So fanden wir die Amiramis acht oder neun Monate nach dem Vorfall am Kap Lopatka wieder, und ich beauftragte sogleich einen freien Mitarbeiter, Fotos von der Besatzung zu schießen. Dabei stellten wir fest, dass die Besatzung ausschließlich aus Frauen bestand. Mit Hilfe der Fotos bekamen wir heraus, dass der Pass von Prasutag auf Malta ausgestellt worden ist. Außerdem deuten die Fotos, die von ihr vorliegen, darauf hin, dass sie ethnisch aus Irland oder Wales zu stammen scheint, auf keinen Fall aus Indien. Sie ist leicht rothaarig und hat eine helle Haut mit Sommersprossen. Allerdings haben wir keine irischen oder englischen Familien Prasutag gefunden. Vielleicht ist Prasutag der Name ihres Mannes, über dessen Existenz wir allerdings nichts wissen.“

„Wie alt ist sie? Seit wann besitzt sie das Schiff?“ unterbrach ein Mann Radjabows Vortrag.

„Wovon lebt sie? Wovon bezahlt sie die Kosten für das Schiff, die Hafengebühren und Bestechungsgelder?“ fragte ein anderer.

„Nach dem Pass ist sie heute zweiunddreißig. Das Schiff besitzt sie seit zwei Jahren. Wovon sie lebt? Man kann ihr Schiff chartern. Sie führt Aufträge durch. Aufträge in der Grauzone der Gesetze. Sie besorgt Objekte und transportiert Waren.“

„Transportiert sie auch Menschen?“

„Falls sie Shahade an Bord genommen hat, ist die Frage zu bejahen. Soviel wir herausbekommen haben, hauptsächlich Waren. Vermutlich vor allem Datenträger, die nicht durchs Internet verschickt werden sollen. Vielleicht auch Diamanten. Kunstgegenstände unklarer Herkunft. Mikroenergieträger neuester Technologie. Vielleicht verkaufen sich die Frauen, die die Mannschaft bilden, auch selbst.“

„Als Prostituierte?“

„Nein, das glaube ich nicht, obwohl man nie etwas aus dem Gefühl heraus ausschließen sollte. Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass die Frauen ihre Eizellen verkaufen. Sie sind sportlich und körperlich fit, wahrscheinlich sind sie sehr intelligent, mindestens zwei von ihnen sind noch sehr jung und sehen gut aus. Eine ist außerdem blond, hellblond. Hochgewachsen, langbeinig, blauäugig, blond und intelligent – mit diesen Eigenschaften erfüllt sie die Traumvoraussetzungen als Spenderin. Viele kinderlose Paare mit Fortpflanzungsproblemen suchen geeignete junge Frauen als Eizellen-Spenderinnen. Eine Befruchtung im Reagenzglas ist für diese Paare oft die einzige Chance, sich einen Kinderwunsch zu erfüllen.“

„Ja, das stimmt“, bestätigte eine der Frauen, „die Weltgesundheitsbehörde schätzt, dass in Europa und Nordamerika mindestens zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung im fortpflanzungsfähigen Alter diese Probleme haben. Dieses Geschäft wird schon seit hundert Jahren betrieben und nahm seinen Anfang in den amerikanischen Universitäten. Die Zahl der Menschen mit Fruchtbarkeitsproblemen nimmt ständig zu.“

„Da in einer Reihe von Staaten das Spenden von Eizellen illegal ist, weil man dort befürchtet, es könne im Sinn der Faschisten des zwanzigsten Jahrhunderts eine Art Spitzenrasse geschaffen werden, und da andere Länder zumindest die Bezahlung strikt verbieten, betreiben diese Frauen vielleicht ihr Geschäft mit dem Schiff – nach dem System: einen Hafen anlaufen, das Geschäft durchführen und sofort weiterfahren. Vielleicht handeln sie auch zusätzlich mit Substanzen.“

„Pharmazeutische Substanzen?“

„Natürlich. Mit Traumdrogen zum Beispiel und nicht zugelassenen Lebensverlängerungsdrogen.“

Nach einer kurzen Pause stellte ein Mann weitere Fragen zur Schiffseignerin Bodishia Prasutag: „Womit hat sie den Kauf des Schiffes finanziert? Wer sind ihre Eltern? Hat sie Geschwister?“

„Fehlanzeige. Wie ich schon sagte, haben wir keine Informationen. Da es keinerlei Spuren von ihr in Datenbanken gibt, muss ihr Pass gefälscht sein – obwohl er auf Malta nicht in Frage stellt wird.“

Radjabow machte eine Pause, um etwas zu trinken. Danach fuhr er fort: „Wie ich vorhin erwähnte, wurden nach der Meldung des Mannes auf dem „Stolz des Islam“ sechs Frauen angetroffen, nach einer anderen Information soll die Mannschaft aus sieben Frauen bestehen. Fotos haben wir von fünf Frauen. Aber bevor ich auf die anderen Besatzungsmitglieder zu sprechen komme, muss ich eine andere Merkwürdigkeit berichten, die mich sehr beunruhigt. Nachdem wir die Jacht in Manila wiedergefunden hatten, hatte ich unserer Datenauswertungsabteilung den Auftrag erteilt, sie nicht mehr aus den Augen zu lassen und ihren Kurs beständig zu verfolgen.“

„Warum“, unterbrach der Mexikaner den Redner, „haben wir die Amiramis nicht aufgebracht und die Schiffseignerin unter dem Verdacht festgehalten, Menschenhandel zu betreiben?“

„Einen entsprechenden Vorschlag hatte ich der Zentrale unterbreitet, aber er wurde abgelehnt. Die Begründung – andere Prioritäten, zu wenig Personal, diplomatische Probleme mit den Philippinen – erschien mir fadenscheinig. Das ist eine weitere Merkwürdigkeit, niemand scheint mehr an dem Verbleib von Shahade interessiert zu sein. Doch über Shahade will ich jetzt nicht spekulieren, sondern auf die Amiramis zurückkommen. Sie verschwand nämlich wieder von der Bildfläche. Abends lag sie im Hafen, am nächsten Morgen war sie weg. Auch wenn sie während der Nacht losgefahren ist, hätten wir sie am nächsten Tag wiederfinden müssen.“

„In der Inselwelt der Philippinen kann man ein Schiff leicht verstecken. Vielleicht ist sie nur um die Ecke gefahren, während ihr sie im Umkreis von mehreren hundert Kilometern gesucht habt“, warf eine der Frauen ein.

„Nein, nein. Wie haben die Rumpfmaße anhand der Fotos überprüft und im Suchsystem korrigiert. Außerdem hat die Jacht eine Besonderheit. Wie Sie sehen können“, er klickte ein neues Foto auf, „fährt sie nicht mit einem üblichen dreieckigen Bermudasegel, sondern benutzt ein viereckiges Gaffelsegel. Sie verschwand aus Manila und war nicht aufzufinden. Zwei Monate später haben wir sie im Golf von Kutch gesehen, danach erst wieder in Mahajanga. Trotz des Einsatzes von Satelliten, Flugrobotern und fliegenden Drohnen – ihr glaubt nicht, welchen Aufwand ich für die Genehmigung brauchte – gelingt es der Amiramis immer wieder, für Monate abzutauchen. Ich weiß nicht, wie sie es anstellt. Irgendwelche Ideen?“

Als niemand etwas sagte, unterbrach Killoren das schweigsame Nachdenken: „Bevor wir Löcher in die Wände starren, solltest du etwas zu den anderen Frauen der Besatzung sagen. Vielleicht liegt die Lösung in der Vergangenheit einer der Frauen.“

„Etwas mehr als über die Schiffseignerin wissen wir über eine andere Frau, eine Medea Phasias“, räumte Radjabow ein und zeigte ein Foto, „unter diesem Namen ist sie Bürgerin der Europäischen Gemeinschaft. Sie benutzt aber auch einen Pass der Republik Kurdistan, in dem der Name Idya Äetos eingetragen ist. Nach den Angaben ihres europäischen Passes ist sie vierunddreißig Jahre alt und hat Athen zum Wohnort. Sie wurde als Mikrochirurgin ausgebildet und hat danach drei Jahre am Bellerive-Zentrum in Genf gearbeitet, bevor sie die Stelle aufgab und ein Segelschiff kaufte, von dem wir leider keine Abbildung auftreiben konnten. Sie besitzt ihr Schiff jetzt seit fünf Jahren. Wo das Schiff zur Zeit ankert und woher sie das Geld hatte, um es zu kaufen, konnten wir nicht herausfinden. Vermutlich hat sie mehrere illegale, nicht registrierte Operationen durchgeführt. Sie soll als Mikrochirurgin sehr gut sein. Gewährsleute sagten mir, sie sei wahrscheinlich sogar die beste, deren Leistungen man auf dem freien Markt, also außerhalb der fünf großen Zentren für Mikrochirurgie, kaufen könne. Auf ihrem Athener Konto liegen zweihunderttausend Geldeinheiten in Neuen Euro. Einzahlungen aus zweifelhaften Quellen konnten nicht festgestellt werden. Ich vermute, dass sie zusätzliche Konten auf den Namen Äetos hat, aber entdecken konnten wir sie nicht. Von ihrem Athener Konto bezahlt sie die Abgaben für ihre Wohnung in Griechenland, die sie aber unseres Wissens seit vier Jahren nicht mehr betreten hat.“

„Dass sie in Athen nicht leben will, kann man ihr bei den Temperaturen im Sommer nicht verdenken“, sagte ein Mann mit europäischen Gesichtszügen halblaut zu seinem Nachbarn; laut aber fragte er: „Hat sie einen Lebensgefährten? Geschwister? Eltern? Wo leben sie?“

„Ihre Mutter hieß wie sie Medea Phasias. Über den Vater, über Geschwister, über einen Lebensgefährten ist uns nichts bekannt. Wir hatten bisher keinen Grund, sie in eine höhere Informationsbedarfsklasse einzustufen und zu überprüfen.“

„Ist sie eine Agentin? Ist vielleicht Prasutag eine Agentin?“

„Dazu haben wir keine Informationen. Für uns arbeiten sie nicht!“

„Wann hat sie segeln gelernt?“

„Wahrscheinlich schon als Kind. Sie ist in der griechischen Inselwelt aufgewachsen.“

„Warum ist sie Mitglied einer Crew“, warf der Mexikaner ein, „obwohl sie ein eigenes Schiff besitzt? Schon merkwürdig.“

„Gute Frage, auf die wir auch keine Antwort haben.“

„Was wissen wir noch?“ sagte Killoren, um die Diskussion voranzutreiben.

„Am meisten wissen wir über eine Nora Ronit Dahl. Sie stammt aus Israel. Nach dem zweiten Jom-Kippur-Krieg wanderten ihre Eltern nach Südafrika aus. Ihre Tochter schickten sie in ein Internat nach England. Ihre Berufslaufbahn begann sie bei der Polizei in London, wo sie Täterprofile sowie Gutachten über die Wahrscheinlichkeit der Rückfälligkeit von Strafgefangenen erstellte. Dank einer außergewöhnlichen Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, Gesichtszüge zu lesen und feinste Veränderungen wie die unwillkürliche Erweiterung der Pupille oder die Veränderung der Blickrichtung wahrzunehmen, erkannte sie sofort, ob ein Lächeln echt oder falsch war, ob eine befragte Person bei einer Antwort log oder etwas zu verbergen hatte. Bei einigen spektakulären Verbrechen hatte sie detaillierte Verhaltensprofile erstellt und die Wahrscheinlichkeiten der zu erwartenden Handlungen von Tätern zutreffend eingeschätzt. Später machte sie in der Soca, der Serious Organized Crime Agency, Karriere, bis es zu einem Zwischenfall kam und sie den Dienst quittierte.“

Fragende Gesichter.

„Nun, wir haben hier in unserer Runde einen Kollegen aus England, Steve Colrev, und wir wollen seine Gefühle nicht verletzen. Es handelte sich um den Ausbruch des F17G3-Virus. Bei der Untersuchung stieß Dahl auf Spuren, die die Regierung nicht aufgedeckt haben wollte. Steve, möchten Sie etwas dazu sagen?“

„Es gibt eine offizielle Stellungnahme des Innenministers dazu. Bitte verlangen Sie nicht von mir, dass ich eine abweichende Meinung äußere.“

„Eins ist sicher, Frau Dahl liebt den Premierminister nicht. In einem Interview sagte sie, Teimur Huxley steuere England in die Diktatur. Weitere Details über Dahl finden Sie im Ordner Amiramis im Speicher T.“

„Sicher ist aber auch“, fügte Colrev hinzu, „dass sie den Großraum London aus dem Effeff kennt.“

„Jetzt zur vierten Frau auf dem Schiff. Sie ist das größte Rätsel. Hier ist ein Foto.“ Auf dem Schirm erschien das Gesicht einer jungen Frau mit kurzen blonden Haaren. „Vor sechs Jahren tauchte eine Sonja Miller aus dem Nichts in Portugal auf. Wie bei Bodishia wissen wir nicht, wo sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hat, wir haben auch keine Informationen über die Art ihrer Ausbildung und über ihre Eltern. Sie meldete sich mit einem australischen Pass bei einem Golfturnier im Süden Portugals an, überraschte schon im ersten Durchgang mit langen Drives von über zweihundertfünfzig Metern, spielte jedes Loch unter Par und gewann die vier Runden mit zweihundertachtundzwanzig Schlägen. Das waren neunzehn Schläge unter dem Platzrekord. Als sie den Scheck für den Sieg erhalten hatte, fuhr sie sofort mit unbekanntem Ziel weg. In dem Jahr hat sie vier weitere Turniere gespielt, jedes gewonnen und jedes Mal die Zahl ihrer Schläge reduziert. Das fünfte Turnier gewann sie mit vierundfünfzig Schlägen pro Durchgang. So etwas hat es noch nie gegeben. Das Besondere bei diesem Turnier war dabei das Wetter. Es regnete in Strömen, und ein peitschender Wind wechselte böenartig seine Richtungen. Ich spiele auch ein wenig Golf und weiß, dass jeder Golfer dieses Wetter hasst, weil der Wind einen aus dem Rhythmus bringt. Diese Frau dagegen scheint das Wetter erst in Hochform gebracht zu haben. Ganz ungewöhnlich! Nach jedem Turnier reiste sie ab, sobald sie den Scheck kassiert hatte. Nach dem fünften Turnier und einem Preisgeld von über fünf Millionen Geldeinheiten in Neuen Euro verschwand sie über zwei Jahre vollständig von der Bildfläche und geriet erst durch einen Zufall in die Akten der Polizei. Ohne diesen Zufall wären wir nie auf sie aufmerksam geworden. Bei einem Überfall auf eine Bank in Annemasse …“

„Annemasse bei Genf?“

„Richtig. Bei dem Banküberfall war sie eine der Kunden in der Schalterhalle. Vier bewaffnete Bankräuber hatten die Halle gestürmt und die Menschen aufgefordert, sich auf den Boden zu legen. Und jetzt kommt das Merkwürdige. Die Einzelbildaufzeichnung der Videoüberwachung zeigt, dass Miller sich nicht auf den Boden legte, sondern stehenblieb. Während zwei der Gangster die Menge in Schach halten, richten die beiden anderen ihre Maschinenpistolen auf Miller. In einem Bild ist zu erkennen, dass sie zu den Männern spricht. Einer scheint danach geschossen zu haben. Im nächsten Bild ist die Frau nicht mehr zu sehen, sie ist verschwunden. Sie liegt aber nicht verletzt oder tot am Boden, stattdessen liegen die Bankräuber auf dem Boden, als seien sie niedergeschlagen worden. Als die Polizei eintraf, hatten Bankangestellte und mutige Kunden alle vier Gangster überwältigt.“

„Alle vier? Wie hat sie das erklärt?“

„Sie hat nichts erklärt. Sie blieb verschwunden und muss die Bank verlassen haben, bevor die Polizei eintraf.“

„Was hat die Spurensicherung erbracht? Wie wurden die Männer ausgeschaltet?“

„Der Mann, der mit der Waffe auf Miller geschossen hatte, und der Mann an der Tür hatten Verletzungen am Hals, sie müssen mit Schlägen gegen die Halsschlagader niedergestreckt worden sein. Die beiden anderen Gangster wiesen Schussverletzungen auf, die Schüsse stammten aus einer der Maschinenpistolen, vermutlich der, die auf Miller gerichtet war.“

„Wie soll das gehen? Wie kann eine Frau vier bewaffnete Männer in Bruchteilen von Sekunden entwaffnen und niederschlagen oder erschießen?“

„Wir haben keine Erklärung, auch die Bankräuber erinnerten sich an nichts.“

„Ist es möglich, dass jemand später die Videoaufzeichungen manipuliert und die Sequenz gekürzt hat?“

„Diese Vermutung ist naheliegend und wurde überprüft. Schnitte konnten aber nicht entdeckt werden.“

„Ist es nicht merkwürdig, dass eine junge Frau, die offensichtlich eine außergewöhnliche Begabung fürs Golfspielen besitzt, diese Begabung nicht nutzt und stattdessen in einer französischen Provinzbank auftaucht?“ fragte der Mexikaner.

„Alles an ihr ist merkwürdig.“

„Warum hat sie mit Golfspielen nach einem Jahr aufgehört?“

„Vielleicht wollte sie keine Aufmerksamkeit mehr erregen, vielleicht war sie auf der Flucht, vielleicht musste sie sich verstecken.“

„Vergleichen Sie die Fotos. Das erste wurde bei einem der Golfturniere gemacht, das zweite ist eine Aufnahme aus der Bank, das dritte ist das jüngste und wurde in Manila geschossen. Sie können sehen, dass sie versucht hat, ihr Aussehen zu verändern. Bei dem Golfturnier hatte sie lange dunkelblonde Haare. In der Bank dagegen waren ihre Haare kurz und blond. Auf dem Foto aus Manila hat sie sie wieder wachsen lassen und dunkler gefärbt. Mit der Sonnenbrille ist sie kaum wiederzuerkennen.“

„Wurde sie von den Schüssen verletzt?“

„Nein, die Geschosshülsen hat man in einer Wand gefunden.“

„Warum war sie in der Bank in Annemasse? Hat sie dort ein Konto?“

„Eine Transaktion hat sie nicht getätigt. Die Bankmitarbeiter wurden befragt, keiner hat mir ihr gesprochen. Sie stand noch in der Warteschlange, als die Bankräuber die Halle betraten. Ein Konto hat sie dort nicht. Zumindest nicht unter dem Namen Sonja Miller.“

„Diese Frau befindet sich jetzt auf der Jacht Amiramis?“

„Ganz sicher sind wir nicht. Wir haben Fotos der Frauen auf der Jacht in unser Suchprogramm eingegeben. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei der Frau mit Sonnenbrille aus dem Hafen in Manila um die Frau in Annemasse und um die Golfspielerin handelt, ist allerdings außerordentlich hoch, sie liegt bei 0,98.“

„Etwas an dieser Geschichte ist mir vollkommen schleierhaft. Wer hatte denn die Idee, die Gesichtszüge der Frau in der Bank von Annemasse mit der Golferin Sonja Miller zu vergleichen?“

„Das war reiner Zufall. Einem jungen Fallanalytiker, der sich vorher mit dem Verschwinden der Golferin beschäftigt hatte, war die Ähnlichkeit aufgefallen.“

Wegen eines Anrufs musste Radjabow die Sitzung unterbrechen. Er entschuldigte sich und verließ den Raum. Die Teilnehmer standen auf, bildeten Gruppen und tauschten ihre Meinungen aus. Eine der Frauen ging zu der Weltkarte und ließ sich die Veränderung der Meereshöhe zwischen den Jahren 1999 und 2099 zeigen. Dann rief sie Prognosen für die nächsten fünfzig Jahre auf, vergrößerte in mehreren Regionen die Darstellung und gab einige Notizen in ihr Com ein, ihren Kommunikator, ein Gerät in der Größe einer Streichholzschachtel, das sie als Telefon, Video-Kamera, elektronisches Notizbuch, Aufzeichnungsgerät und GPS-Empfänger benutzte. Als einer der Männer zu ihr trat, fragte sie ihn: „Und wann geht Ihr Haus unter?“

„Ist es schon – vor fünf Jahren.“

Nach der Rückkehr Radjabows nahm Tojo Higuchi das Gespräch mit den Worten auf: „Die Präzision der Golfschläge und die Entwaffnung der Bankräuber lassen nur den Schluss zu, dass die Frau, die sich Sonja Miller nennt, über Fähigkeiten verfügt, die wir nicht kennen. Vielleicht wurde ihr Erbmaterial vor der Geburt verändert, vielleicht stammt sie aus einer der Organspenderfarmen. Wir alle haben schon lange vermutet, dass es neben den staatlich anerkannten Einrichtungen auch Farmen gibt, in denen mit den Klonen illegale Experimente angestellt werden, dass dort Menschen zu Kriegern herangezüchtet werden.“

Nach einer längeren Diskussion, in der die einzelnen Agenten je nach der Verstrickung des eigenen Landes Empörung oder hinhaltendes Verständnis äußerten, riss Levon Radjabow die Diskussion wieder an sich: „Es geht hier nicht um ein moralisches Urteil, es geht darum, ob wir die vermutlich genetisch veränderte Sonja Miller und ihre Gefährtinnen für unsere Zwecke einsetzen können oder nicht. Denn der eigentliche Grund für unser Treffen sind neue, beunruhigende Informationen, nach denen die Terrororganisation ,Die Söhne Bin Ladens’ zum einhundertsten Jahrestage der Zerstörung der Zwillingstürme etwas Großes plant.“

In der anschließenden Diskussion stellte niemand mehr Fragen nach den anderen Besatzungsmitgliedern der Amiramis, und Levon Radjabow war darüber nicht undankbar, weil er keine weiteren Informationen besaß. Zu einem Beschluss über das weitere Vorgehen kam es jedoch nicht – zu unterschiedlich waren die Sichtweisen und Auffassungen. Eine der Frauen sagte zum Beispiel: „Wir sollten die Jacht suchen und zerstören.“

„Warum denn das?“

„Vielleicht arbeitet Prasutag für eine Terrororganisation wie ,Die Söhne Bin Ladens’.“

„Dafür gibt es keine Anhaltspunkte.“

„Warum sollten die Frauen für uns arbeiten? Was hätten sie davon?“

„Das weiß ich auch noch nicht. Wir brauchen einen Hebel, eine Schwachstelle. Vielleicht können wir sie erpressen.“

„Ihre Ideen“, erwiderte Killoren abweisend, „sind verwegen und unausgegoren. Ohne zusätzliche Informationen können wir keine Entscheidung treffen.“

Als nach dem Ende der Konferenz die meisten Teilnehmer den Raum verlassen hatten, nahm Kelly Killoren Levon Radjabow beiseite und sagte: „Unter uns möchte ich einige Punkte klären, die du nicht berührt hast. Zunächst einmal: Welchen Auftrag hatte Shahade in Russland?“

Er zögerte einen Moment und sah sie prüfend an, bevor er ihr eine Antwort gab: „Es ging um Depots. Depots für Nuklearwaffen und biologische Kampfstoffe. Die Amerikaner vermuteten, dass die Russen ein doppeltes Spiel spielen und geheime Depots angelegt haben.“

„Hat er welche gefunden?“

„Das ist es ja. Wir wissen es nicht, er hat keinen Bericht abgeliefert.“

„Okay oder auch nicht. Nächster Punkt: Hast du daran gedacht, dass die Amiramis vom Kap Lopatka nach Norden gesegelt sein könnte? Vielleicht hat sie die Nordwestpassage benutzt.“

„Das habe ich kurz in Erwägung gezogen, aber verworfen.“

„Warum?“

„Sie hätte mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von fast fünfzig Kilometern pro Stunde segeln müssen, um bis zum Zeitpunkt der Satellitenaufnahme eine Position außerhalb des überwachten Bereichs erreicht haben zu können. Aber ich kenne kein Segelschiff, das mit einem Gaffelsegel diese Geschwindigkeit erreichen kann.“

„Hm, das leuchtet mir ein. Nächster Punkt: Die Aufbringung der Jacht … war doch ein Test?“

„Wie kommst du zu dieser Vermutung?“

„Ach Levon, die Fotos! Ich glaube nicht an Zufälle. Wer außer dir hätte veranlassen können, dass ein Satellit seine Kamera zu diesem Zeitpunkt auf die beiden Schiffe ausrichtet? Zudem noch mit einer Auflösung von zwanzig Zentimetern!“

Er kratzte sich am Kopf, bevor er entgegnete: „Es gibt so viele Ungereimtheiten, was die Jacht und ihre Besatzung betrifft. Ich habe zum Beispiel einen Hinweis erhalten, dass die Amiramis nicht Prasutag gehört, sondern Phasias.“

„Damit hast meine Frage nicht beantwortet.“

„Langsam. Als ich die Amiramis vor zwei Wochen wiederentdeckte, zettelte ich den Überfall an. Ich wollte sehen, was diese Frauen draufhaben. Wie sie ihre Befreiung bewerkstelligt haben, weiß ich nicht. Aber sie haben den Test glänzend bestanden.“

„Und wenn sie in den Gefängnissen der ISF verschwunden wären?“

„Ihr Pech. Wenn sie es nicht fertiggebracht hätten, diesen einfältigen Asiaten zu entkommen, hätten sie den Test nicht bestanden. Es gibt fast sechs Milliarden Frauen auf der Welt. Was kümmern mich da sechs oder sieben, wenn sie nicht für unsere Zwecke zu gebrauchen sind.“

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101 nebst seiner Geschichte

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