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1 Einleitung

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Eines Tages im Herbst 1994 rief mich meine Frau Marlene an, die sich um meine Korrespondenz in London kümmerte, während ich an der New School in New York meine Vorlesungen hielt, und sagte mir, es sei ein Brief aus Hamburg gekommen, den sie nicht lesen könne, weil er auf deutsch geschrieben sei. Unterzeichnet sei er von einer Frau namens Melitta. Ob sie ihn nachsenden solle? Ich kannte zwar niemanden in Hamburg, aber ich wußte sofort, wer ihn abgeschickt hatte, auch wenn fast ein Dreivierteljahrhundert vergangen war, seit ich die Absenderin zuletzt gesehen hatte. Es konnte nur die kleine Litta sein – tatsächlich war sie vielleicht ein Jahr älter als ich – aus der Seutter-Villa in Wien. Ich hatte recht. Wie sie schrieb, hatte sie meinen Namen in irgendeinem Zusammenhang in der Zeit gelesen und war sogleich zu dem Schluß gekommen, daß ich der Eric sein müsse, mit dem sie und ihre Schwestern vor langer, langer Zeit zusammen gespielt hatten. Sie hatte ihre Fotoalben durchstöbert und ein Foto entdeckt, das dem Brief beilag. Darauf posierten fünf kleine Kinder auf der Sommerterrasse der Villa mit unseren Kinderfräulein, die Mädchen – und vielleicht sogar ich selbst – mit Blumenkränzen auf dem Kopf. Litta stand dort mit ihren jüngeren Schwestern Ruth und Eva (Susie, die stets nur Peter gerufen wurde, war noch nicht geboren) und ich mit meiner Schwester Nancy. Auf der Rückseite hatte ihr Vater das Datum vermerkt: 1922. Und wie es Nancy gehe, fragte Litta. Woher hätte sie wissen sollen, daß Nancy, dreieinhalb Jahre jünger als ich, vor einigen Jahren gestorben war? Bei meinem letzten Besuch in Wien hatte ich die Häuser aufgesucht, in denen wir gewohnt hatten, und Nancy Aufnahmen von ihnen geschickt. Ich hatte geglaubt, sie sei die einzige, die noch eine Erinnerung an die Seutter-Villa mit mir teilte. Jetzt wurde alles wieder lebendig.


Auch ich habe einen Abzug von dem Foto. In dem Album mit Familienfotos, das bei mir gelandet war, dem letzten Überlebenden nach dem Tod meiner Eltern und Geschwister, bilden die Schnappschüsse auf der Terrasse der Seutter-Villa das zweite ikonographische Dokument meiner Existenz und das erste meiner Schwester Nancy, die 1920 in Wien geboren wurde. Mein eigenes erstes derartiges Zeugnis ist anscheinend das Bild eines Babys in einem ziemlich großen Korbkinderwagen ohne Erwachsene oder sonst einen Kontext; vermutlich wurde es in Alexandria aufgenommen – dort kam ich im Juni 1917 zur Welt –, um meine Existenz von einem Angestellten des britischen Konsulats registrieren zu lassen (dem dabei gleich zwei Fehler unterliefen: Er trug das falsche Datum ein und schrieb auch den Nachnamen falsch). Die diplomatischen Einrichtungen des Vereinigten Königreichs wachten sowohl über meine Geburt als auch über meine Empfängnis, denn es war ein weiteres britisches Konsulat, diesmal in Zürich, wo mein Vater und meine Mutter geheiratet hatten. Ermöglicht wurde dies durch eine amtliche Verfügung, persönlich unterschrieben vom britischen Außenminister Sir Edward Grey, die es dem Untertanen König Georgs V. Leopold Percy Hobsbaum erlaubte, die Untertanin Kaiser Franz Josephs Nelly Grün zu ehelichen. Das alles zu einer Zeit, da beide Reiche miteinander im Krieg lagen, ein Konflikt, auf den mein künftiger Vater mit einem letzten Rest von britischem Patriotismus reagierte, den meine zukünftige Mutter jedoch ablehnte. 1915 gab es in England keine allgemeine Wehrpflicht, doch hätte es eine solche gegeben, dann hätte sie ihm geraten, sich als Kriegsdienstverweigerer eintragen zu lassen.1 Mir gefällt die Vorstellung, sie seien von dem Konsul getraut worden, der in Tom Stoppards Stück Travesties die Hauptrolle spielt. Auch stelle ich mir gerne vor, daß sie während der Zeit in Zürich, als sie darauf warteten, daß Sir Edward Grey dringendere Angelegenheiten liegenlassen und sich ihrer geplanten Trauung zuwenden würde, von anderen Exilanten in der Stadt erfuhren – zum Beispiel Lenin, James Joyce und die Dadaisten. Das taten sie jedoch offensichtlich nicht, und sie hätten zu einer solchen Zeit auch höchstwahrscheinlich kein Interesse für sie aufgebracht. Sie waren einfach mehr mit ihren bevorstehenden Flitterwochen in Lugano beschäftigt.

Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn Fräulein Grün, 18 Jahre alt, eine von drei Töchtern eines Wiener Juweliers mit einem gutgehenden Geschäft, sich nicht 1913 in Alexandria in einen älteren Engländer verliebt hätte, das vierte von acht Kindern eines eingewanderten Londoner Möbeltischlers? Sie hätte vermutlich einen jungen Mann aus dem jüdischen mitteleuropäischen Bürgertum geheiratet, und ihre Kinder wären als Österreicher aufgewachsen. Da fast alle jungen österreichischen Juden sich früher oder später als Emigranten oder Flüchtlinge wiederfanden, hätte mein späteres Leben wohl einen ähnlichen Verlauf genommen – viele von ihnen kamen nach England, studierten hier und legten ein Hochschulexamen ab. Aber ich wäre nicht mit dem Paß eines gebürtigen Engländers aufgewachsen oder nach England gekommen.

Da sie sich nicht in der Lage sahen, in einem der beiden kriegführenden Länder zu leben, kehrten meine Eltern über Rom und Neapel zurück nach Alexandria, wo sie sich ursprünglich kennengelernt und vor dem Krieg verlobt hatten und wo beide Verwandte hatten – meine Mutter einen Onkel namens Albert, von dessen Handelshaus mit dem Schild »Nouveautés« samt den Angestellten ich noch eine Fotografie habe, und mein Vater einen Bruder Ernst, dessen Name ich trage und der beim Ägyptischen Post- und Telegrafendienst arbeitete. (Da das Privatleben das Rohmaterial für Historiker wie für Romanautoren bildet, habe ich die Umstände ihrer Begegnung als Einleitung in meinem Buch Das imperiale Zeitalter benutzt.) Sobald der Krieg beendet war, zogen sie mit ihrem zweijährigen Sohn nach Wien. Das ist der Grund, warum Ägypten, an das ich durch die lebenslangen Ketten behördlicher Dokumentation gefesselt bin, kein Teil meines Lebens geworden ist. Ich habe absolut keine Erinnerung mehr daran, ausgenommen vielleicht an einen Käfig mit kleinen Vögeln im Zoo bei Nouzha und Bruchstücke eines griechischen Kinderlieds, das vermutlich von einem griechischen Kindermädchen gesungen wurde. Auch bin ich ohne jede Neugier, was meine Geburtsstätte betrifft, ein Bezirk, der die Bezeichnung Sporting Club trug, entlang der Lokalbahnlinie vom Stadtzentrum Alexandrias nach Ramleh, aber andererseits gibt es darüber auch kaum etwas zu sagen, wenn man E.M. Forster glauben will, dessen Aufenthalt in Alexandria fast mit dem meiner Eltern zusammenfiel. Über die Bahnstation Sporting Club schreibt er in seinem Buch Alexandria. A History and a Guide lediglich: »In der Nähe der Haupttribüne der Rennbahn. Linker Hand ein Badestrand.«

Somit gehört Ägypten nicht zu meinem Leben. Ich weiß nicht, wann das Leben der Erinnerung beginnt, doch gibt es nur wenig, das bis in die Anfänge meines dritten Lebensjahres zurückreicht. Ich bin nie wieder dort gewesen, seit der Dampfer Helouan von Alexandria nach Triest ablegte, das damals gerade von Österreich an Italien abgetreten worden war. Von unserer Ankunft in Triest ist mir nichts im Gedächtnis geblieben, diesem Tummelplatz der Sprachen und Rassen, einer Stadt der feudalen Cafés und der stolzen Schiffskapitäne, Stammsitz jenes riesigen Versicherungsunternehmens Assicurazioni Generali, dessen Wirtschaftsimperium den Begriff »Mitteleuropa« vermutlich besser abdeckt als jede andere Definition. Achtzig Jahre später hatte ich Gelegenheit, dies in Gesellschaft von Triester Freunden zu entdecken, vor allem der von Claudio Magris, jenem wunderbaren Beschwörer der Vergangenheit Mitteleuropas und der nördlichen Adriaregion, wo die deutsche mit der italienischen, slawischen und ungarischen Kultur zusammenfließt. Mein Großvater, der uns abgeholt hatte, begleitete uns auf der Südbahn nach Wien. Dort begann mein bewußtes Leben. Wir wohnten einige Monate bei meinen Großeltern, während meine Eltern eine eigene Wohnung suchten.

Mein Vater, der mit hart erspartem Geld angekommen war – und nichts war damals so hart wie der Sterling –, in einem verarmten Land mit einer Währung, die zusehends verfiel, war voller Zuversicht und hielt sich für einigermaßen wohlhabend. Die Seutter-Villa schien ideal. Es war das erste Haus in meinem Leben, das ich als »unseres« empfand.

Wer mit der Bahn von Westen nach Wien kommt, fährt heute noch daran vorbei. Wenn man rechts aus dem Fenster sieht, während der Zug in die westlichen Vororte der Stadt einfährt, auf der Höhe des Stadtbahnhofs Hütteldorf-Hacking, fällt der Blick unweigerlich auf dieses stattliche Gebäude auf dem Berg, mit seinem vierseitigen Kuppeldach auf einem gedrungenen Turm, erbaut von einem erfolgreichen Industriellen in den späteren Tagen des Kaisers Franz Joseph (1848–1916). Das dazugehörige Grundstück erstreckte sich bis hinunter zur Auhofstraße, die entlang der Mauern des alten kaiserlichen Jagdreviers, des Lainzer Tiergartens, nach Westen verlief und von der aus das Haus über eine schmale, bergauf führende Straße erreicht wurde (die Vinzenz-Hess-Gasse, heute Seuttergasse), an deren unterem Ende damals eine Reihe strohgedeckter kleiner Häuser stand.

Die Seutter-Villa meiner Kindheitserinnerungen ist weitgehend jener Gebäudeteil, in den sich die alten und jungen Hobsbaums (denn so wurde der Name dem alexandrinischen Konsulatsangestellten zum Trotz geschrieben), die eine Wohnung im ersten Stock der Villa gemietet hatten, mit den Golds, die das Parterre unter uns bewohnten, teilten. Das spielte sich im wesentlichen auf der Terrasse an der Seite des Hauses ab, wo ein Großteil des sozialen Lebens der Generationen dieser beiden Familien stattfand. Von dieser Terrasse aus führte ein – in der Rückschau steiler – Fußweg zu den Tennisplätzen hinunter (die heute bebaut sind), vorbei an einem Baum, der einem kleinen Jungen riesig erschien, dessen Äste sich jedoch tief genug ausstreckten, um darin herumzuklettern. Ich erinnere mich, daß ich seine Geheimnisse einem Jungen mitteilte, der aus einer Stadt namens Recklinghausen in Deutschland an unsere Schule gekommen war. Man hatte uns angehalten, uns seiner anzunehmen, da die Zeiten dort, wo er herkam, sehr schwer waren. Ich habe an ihn keine andere Erinnerung als den Baum und den Namen seiner Heimatstadt, die im heutigen Bundesland Nordrhein-Westfalen liegt. Er reiste bald wieder zurück. Obwohl ich es damals nicht so wahrgenommen habe, muß dies meine erste Begegnung mit den bedeutenden Ereignissen der Geschichte des 20. Jahrhunderts gewesen sein, in diesem Fall der Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen 1923, auf dem Umweg über eines der Kinder, die für kurze Zeit in eine sichere Obhut bei warmherzigen Menschen in Österreich gegeben wurden. (Damals verstanden sich alle Österreicher als Deutsche und hätten für einen Anschluß an Deutschland gestimmt, wenn die Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg in Versailles dies nicht untersagt hätten.) Ich kann mich auch noch lebhaft daran erinnern, wie wir irgendwo auf dem Gelände in einem Schuppen voller Heu gespielt haben, doch bei meinem letzten Besuch in Wien mit Marlene haben wir uns das Grundstück zur Villa zwar angesehen, konnten jedoch die Stelle nicht finden, wo er gestanden haben könnte. Merkwürdigerweise habe ich keinerlei Erinnerungen an das Innere des Hauses, lediglich den vagen Eindruck, daß es weder sehr hell noch sehr komfortabel war. Ich kann mich beispielsweise an nichts in unserer Wohnung oder den Räumlichkeiten der Familie Gold erinnern, außer vielleicht an hohe Decken.

Fünf, später sechs Kinder im Vorschulalter oder bestenfalls im Alter von Erst- und Zweitkläßlern im selben Garten sind ein starkes Bindemittel zwischen Familien. Die Hobsbaums und die Golds kamen gut miteinander aus, trotz ihrer ganz unterschiedlichen Herkunft, denn die Golds waren (ungeachtet ihres Namens) anscheinend keine Juden. Jedenfalls blieben und gediehen sie in Österreich oder – nach dem Anschluß – Großdeutschland. Herr und Frau Gold stammten aus Sieghartskirchen, einem gottverlassenen Nest in Niederösterreich, er der Sohn des einzigen bäuerlichen Gastwirts, sie die Tochter des einzigen Kramladeninhabers am Ort (der alles von Wollsocken bis zu landwirtschaftlichem Bedarf führte). Beide unterhielten starke familiäre Verbindungen dorthin. Sie waren in den zwanziger Jahren wirtschaftlich so gut gestellt, daß sie ihre Porträts malen ließen. Ein Schwarzweißfoto von den beiden, das eine der beiden noch lebenden Töchter mir irgendwann einmal geschickt hatte, liegt vor mir. Das Bild eines ernst blickenden Herrn in dunklem Straßenanzug und gestärktem Hemdkragen löst nichts in mir aus, und als kleiner Junge hatte ich ohnehin keinen engen Kontakt zu ihm, auch wenn er mir einmal seine Offiziersmütze aus der Zeit vor dem Ende des Habsburgerreichs gezeigt hat und als erster von den Personen, die ich kannte, wirklich in den Vereinigten Staaten gewesen war, wohin ihn eine Geschäftsreise geführt hatte. Von dort brachte er eine Schallplatte mit – jetzt fällt mir auch das Lied darauf wieder ein, es hieß »The Peanut Vendor« (Der Erdnußverkäufer) – und die Information, in Amerika gebe es eine Automarke »Buick«, ein Name, der mir aus irgendeinem dunklen Grund unglaubwürdig schien. Dagegen läßt das Bild einer hübschen Frau mit langem Hals und seitlich gewellten kurzen Haaren, die mit ernsten, aber nicht sehr selbstbewußten Augen über ihre nackte Schulter in die Welt blickt, sie für mich sogleich wieder lebendig werden: Mütter haben im Leben von Kindern eine viel dauerhaftere Bedeutung, und meine Mutter Nelly, intellektuell, kosmopolitisch und gebildet, und Anna (»Antschi«) Gold, mit geringer Schulbildung, stets im Bewußtsein der Provinzialität ihrer Herkunft, wurden bald dicke Freundinnen und blieben es bis zum Schluß. Wenn man ihrer Tochter Melitta glauben darf, war Nelly sogar Annas einzige enge Freundin. Das mag erklären, warum sich noch immer Fotos unbekannter und unidentifizierbarer Hobsbaums in Familienalben der Enkel der Familie Gold finden, die in Wien geblieben waren. Eine der Töchter erinnert sich fast so lebhaft wie ich daran, wie sie (zusammen mit ihrer Mutter) meine Mutter kurz vor ihrem Tod besucht hatte. Unter Tränen sagte Antschi ihr danach: »Wir werden Nelly nie mehr wiedersehen.«

Zwei Menschen, fast so alt wie »das kurze 20. Jahrhundert«, begannen somit ihr Leben gemeinsam und machten dann jeweils ihren eigenen Weg durch die außergewöhnliche und furchtbare Welt des vergangenen Jahrhunderts. Das ist der Grund, warum ich diese Reflexionen über ein langes Leben mit der unerwarteten Erinnerung eines Fotos in den Alben von zwei Familien beginne, die nichts miteinander gemeinsam hatten, außer daß ihre Lebenswege für kurze Zeit im Wien der zwanziger Jahre zusammengeführt wurden. Denn Erinnerungen an einige Jahre der frühen Kindheit, gemeinsam geteilt von einem emeritierten Professor und die Kontinente durchwandernden Historiker und einer in Rente lebenden ehemaligen Schauspielerin, Fernsehmoderatorin und gelegentlichen Übersetzerin (»wie deine Mutter!«) sind allenfalls von privatem Interesse für die Betroffenen. Selbst für sie sind sie nicht mehr als der dünnste Spinnwebfaden zur Überbrückung der gewaltigen Kluft zwischen gut siebzig Jahren zweier Leben, die völlig separat, ohne jede Verbindung geführt wurden, ohne daß man etwas voneinander gewußt oder auch nur für einen Augenblick bewußt aneinander gedacht hätte. Es ist die außergewöhnliche Erfahrung von Europäern, die das 20. Jahrhundert durchlebt haben, was diese Leben miteinander verbindet. Eine wiederentdeckte gemeinsame Kindheit, ein erneuter Kontakt im hohen Alter lassen das Bild unserer Zeit deutlich hervortreten: absurd, ironisch, surreal und monströs. Sie erschaffen es nicht. Zehn Jahre, nachdem die fünf Kinder in die Kamera geblickt hatten, waren meine Eltern tot, und Herr Gold, Opfer der Wirtschaftskatastrophe – so gut wie alle Banken Mitteleuropas waren 1931 praktisch zahlungsunfähig – war mit seiner Familie unterwegs, um seine Dienste einer Bank in Persien anzubieten, dessen Schah seine Bankfachleute lieber aus fernen und geschlagenen Imperien kommen ließ als aus benachbarten und gefährlichen Ländern. Weitere fünf Jahre später, während ich an einer englischen Universität studierte, standen die Töchter der inzwischen aus den Palästen von Schiras zurückgekehrten Familie Gold allesamt am Beginn ihrer Schauspielerkarriere in einem Land, das in wenigen Monaten Teil von Hitlers Großdeutschland werden sollte. Abermals fünf Jahre später trug ich die Uniform eines britischen Soldaten in England, meine Schwester Nancy zensierte Briefe für die britischen Behörden in Trinidad, während Litta unter unseren Bomben im Kabarett der Komiker in Berlin auftrat. Gut möglich, daß im Publikum einige der Leute saßen, die meine Verwandten, die wahrscheinlich damals in der Seutter-Villa den kleinen Mädchen der Familie Gold den Kopf getätschelt hatten, zur Deportation in die Lager zusammengetrieben hatten. Noch einmal fünf Jahre später, als ich begann, in den Bombentrümmern Londons meine Lehrveranstaltungen abzuhalten, waren »Antschi« und ihr Mann tot – er war wahrscheinlich ein Opfer des Hungers, der in den Monaten unmittelbar nach der Niederlage und der Besetzung herrschte, und sie, vor Kriegsende in die Westalpen evakuiert, war einer Krankheit zum Opfer gefallen.

Die Vergangenheit ist ein anderes Land, aber bei denen, die einmal dort gelebt haben, hat sie ihre Spuren hinterlassen. Das gilt auch für jene, die zu jung sind, um sie besser als nur vom Hörensagen zu kennen, oder die sie, in einer ahistorischen Kultur, als »Trivial Pursuit«, als müßigen Zeitvertreib, behandeln.* Es ist jedoch die Aufgabe des autobiographischen Historikers, dieses Land nicht einfach wieder aufzusuchen, sondern es zu kartografieren. Denn ohne solche Karte, wie sollen wir denn einen langen, sich verzweigenden Lebensweg durch die ringsum sich verändernden Landschaften verfolgen? Oder wie verstehen, warum und wann wir gezögert haben oder gestolpert sind oder wie wir unter den Menschen gelebt haben, mit denen unser Leben verflochten und von denen es abhängig war? Denn diese Dinge erhellen nicht nur das Leben Einzelner, sie erhellen die Welt.

So mag dieses Bild als Ausgangspunkt für den Versuch eines Historikers dienen, einen Weg durch das zerklüftete Gelände des 20. Jahrhunderts zurückzuverfolgen: fünf kleine Kinder, vor achtzig Jahren von ihren Eltern für ein Foto auf einer Terrasse in Wien aufgestellt, ohne (im Gegensatz zu ihren Eltern) ein Bewußtsein davon, daß die Trümmer der Niederlage, vernichteter Imperien und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs sie umgaben, ohne Bewußtsein (ebenso wie ihre Eltern), daß sie ihren Weg durch die mörderischste und revolutionärste Ära der Geschichte würden gehen müssen.

* »Trivial Pursuit« war gegen Ende des 20. Jahrhunderts für kurze Zeit ein beliebtes Gesellschaftsspiel.

Gefährliche Zeiten

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