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Vorwort zur deutschen Ausgabe
ОглавлениеWohin gehören Menschen, die in den zweifach verschobenen Kulissen des Lebens im 20. Jahrhundert zu Hause waren: als Staaten und politische Systeme sich Menschen einverleibten und ausstießen, als Menschen sich durch, zwischen und aus mehreren Ländern, Kulturen und Regimes bewegten oder zwischen ihnen verschoben wurden? Wohin gehören sie in der noch stärker entwurzelten Welt des 21. Jahrhunderts?
Ein typisches Beispiel für eine »displaced person«, einen Vertriebenen meines Jahrhunderts, war mein Freund, der Historiker sozialistischer Bewegungen und Auschwitzüberlebende Georges Haupt. Ich habe ihn einmal gefragt, welches eigentlich seine Muttersprache sei. Geboren in einer mehrsprachigen Region der Karpaten, sprach er alle ihre Idiome. Er hatte in der UdSSR studiert, eine Laufbahn als staatlicher Hochschullehrer im kommunistischen Rumänien für einen Ankerplatz als französischer Bürger in Paris und das Leben eines halbnomadischen euroamerikanischen Akademikers aufgegeben und sprach jede Sprache, die man in London, Linz oder Florenz brauchte, gleichermaßen flüssig. Einige davon beherrschte er auch schriftlich. Als ich ihm meine Frage gestellt hatte, antwortete er nach einigem Zögern: »Ich glaube, Ungarisch, ich träume manchmal auf ungarisch.«
Ich träume oder denke nicht mehr auf deutsch, eine der beiden Sprachen meiner Kindheit und bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr das wichtigste Medium meiner Bildung. Andererseits ertappe ich mich gelegentlich dabei, daß ich auf deutsch abzähle, einundzwanzig, dreiundsechzig statt twenty-one, sixty-three. Eine Kindheit und Jugend im deutschsprachigen Mitteleuropa erscheint nicht besonders lang, wenn man auf die Neunzig zugeht, aber dennoch hat diese Zeit ihre unauslöschlichen Spuren hinterlassen. Und eigenartigerweise kann ich bis heute mehr deutsche als englische Gedichte auswendig rezitieren, so daß mir Passagen von Schiller, auf den ich eigentlich gut verzichten kann, in Perioden der Schlaflosigkeit in den Sinn kommen, während sich meine Lieblingsstellen aus Shakespeare und der englischen Lyrik einfach nicht mehr abrufen lassen. Weiß der Himmel, warum ich in der Volksschule »Festgemauert in der Erden« auswendig lernen mußte, doch es war das Alter, in dem sich das Gedächtnis an alles klammert, was sich ihm bietet, und es nie wieder losläßt.
Chronologisch gesprochen, sind die rund einundzwanzig Monate, die ich in den Jahren 1931–1933 auf dem Gymnasium in Berlin verbracht habe, ein sogar noch winzigerer Teil eines langen Lebens. Dennoch – und ich hoffe, dieses Buch kann das verdeutlichen – haben sie seinen späteren Inhalt und seine Form bestimmt, so wie sie das Leben der meisten Deutschen im 20. Jahrhundert bestimmt haben. Möglicherweise ist dieses Buch gerade deshalb für deutsche Leser von größerem Interesse als für Leser anderer Länder außerhalb Großbritanniens.
Dennoch hat dieses Buch seine Wurzeln nicht nur in Mitteleuropa und in England wie die Familie des Autors. Es ist ein Buch, das ebenso in der westlich gebildeten Kultur des 20. Jahrhunderts wurzelt wie in den Katastrophen und Umwälzungen seiner ersten Hälfte. Also handelt es von einer Ära, die wahrscheinlich bis auf einige wenige Gegenden in Europa für immer verschwunden ist. Meine Generation ist eine der letzten, denen die Motive der Kunstwerke in den großen Museen der Welt aus biblischen Erzählungen und der Geschichte der Antike und der klassischen Mythologie vom Gymnasium her vertraut waren. Uns brauchte man nicht zu erklären, was auf den Bildern der Verkündigung Mariä verkündet wurde oder wer Aktaion, Ikarus oder die Horatier waren. Wir lebten vor der Zeit, in der man nicht mehr davon ausgehen konnte, daß gebildete Europäer, Lateinamerikaner und Bewohner des Vorderen und Mittleren Orients Französisch sprachen und lasen und Menschen höherer Bildung zwischen Triest und dem Ural miteinander auf deutsch verkehrten. Die Grenzen dieser Kultur sind und waren offensichtlich, und sie bestanden nicht zuletzt darin, daß sie den Geschehnissen außerhalb einiger Teile Europas praktisch keine Aufmerksamkeit schenkte und sich primär auf die kleine Zahl von Männern und Frauen mit einer höheren Bildung beschränkte – in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts zwischen 2 und 7 Prozent der Altersgruppe in Westeuropa. Sie gehörte erkennbar dem bürgerlichen 19. Jahrhundert an, das sie geformt hatte und von dem wir sie geerbt haben – selbst jene, die Sozialrevolutionäre wurden. Und doch wies sie denen, die Zugang zu ihr hatten, ein gemeinsames kulturelles und intellektuelles Territorium zu, und vor allem hat sie einen Zusammenhang zwischen Gegenwart und Vergangenheit, der heute nicht mehr existiert.
Eines der Ziele dieses Buchs und überhaupt meiner Arbeit als Historiker bestand darin, diese Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart wiederherzustellen, die der reine Modus operandi gegenwärtiger Gesellschaften zerstört. Generationen wie meine wird es im 21. Jahrhundert höchstwahrscheinlich nicht mehr geben. Es gibt keinen Weg zurück ins 20. Jahrhundert, auch wenn ich nicht glaube, daß unser Traum von einer menschenwürdigen Welt verschwinden wird. Der Unterschied zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, ist zu groß. »Die Vergangenheit«, um einen britischen Romanautor zu zitieren, »ist ein anderes Land. Dort tut man die Dinge anders.« Doch »die Dinge«, die in der Gegenwart – und sei es auch noch so anders – getan werden, und die Probleme, die hier auftreten, sind weitgehend dieselben wie die im fernen Land des 20. Jahrhunderts. Und 2003 kennt zweifellos dieselben Ängste wie 1933, da wir wieder einmal in gefährlichen Zeiten leben – auf ihre Weise nicht weniger gefährlich als die, in denen meine Generation aufwuchs. Die Autobiographie eines Lebens im 20. Jahrhundert hat dem 21. Jahrhundert vielleicht immer noch etwas zu sagen.
E.J. Hobsbawm 2003