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Gefährliche Zeiten

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Vorwort von Richard J. Evans

Zur Zeit seines 80. Geburtstags, am 8. Juni 1997, war Eric Hobsbawm wahrscheinlich der bekannteste Historiker der Welt. Seine vielen Bücher waren in mehr als 50 Sprachen übersetzt worden und verkauften sich millionenfach. Seine jüngste Veröffentlichung, The Age of Extremes. The Short Twentieth Century, 1914–1991 (dt. Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts), erschienen 1994, war ein Weltbestseller. Das Buch erschien in etwa 30 Sprachen und führte zu Fernsehinterviews und Auftritten in den Medien, wie sie Geschichtsprofessoren normalerweise nicht erleben. Obendrein war Hobsbawm nicht nur ein Wissenschaftler, er war auch ein „öffentlicher Intellektueller“. Geboren 1917, war er als Schüler in Berlin in den Sozialistischen Schülerbund eingetreten, eine Unterorganisation der KPD, und blieb bis zu seinem Tod den Idealen des Kommunismus treu, wenn auch nicht den Organisationen, die behaupteten, ihn zu repräsentieren. Bei der Schaffung der geistigen Grundlagen für das Entstehen von „New Labour“, dem Etikett der britischen Labour Party in ihrer Zeit als Regierungspartei unter den Premierministern Tony Blair und Gordon Brown von 1997 bis 2010, spielte er eine Schlüsselrolle. Und er blieb ein führender Intellektueller nicht nur in Großbritannien, sondern auch in anderen Ländern, von Italien bis Brasilien. Im Lauf seines langen Lebens – er starb 2012 im Alter von 95 Jahren – wurde er Zeuge vieler Schlüsselereignisse in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, angefangen in den 1930er-Jahren mit der Machtergreifung Hitlers, dem Triumph der französischen Volksfront und dem Spanischen Bürgerkrieg. Nach dem Erscheinen des Zeitalters der Extreme schien es ein folgerichtiger nächster Schritt zu sein, die eigene Autobiografie zu schreiben.

Nachdem er gerade einmal zwei Jahre nach Erscheinen des Zeitalters der Extreme ein Exposee für das Buch vorgelegt und 1996 einen Publikationsvertrag unterzeichnet hatte, brachte Hobsbawm seine Erinnerungen relativ schnell zu Papier. Weil seine Zeit in diesem Lebensabschnitt nicht mehr von der Lehre beansprucht wurde, hatte er ausreichend Muße zum Schreiben. Und da es sich nicht um ein geschichtswissenschaftliches Werk handelte und es außerdem den Zeitabschnitt umfasste, über den er gerade geforscht und ein bedeutendes Buch geschrieben hatte, musste er keine neuen Informationen über den historischen Hintergrund sammeln. Er konnte sich auf sein Gedächtnis stützen und ergänzend die Tagebücher zu Rate ziehen, die er mit Unterbrechungen von 1940 bis 1946 geführt hatte. Doch in gewisser Weise war es, wie er gestand, dennoch „das am schwersten zu schreibende Buch“: „Wie konnte ich Leser für ein unspektakuläres akademisches Leben interessieren?“ Also schrieb er es für junge Leute, die wissen wollten, wie das „außerordentlichste Jahrhundert in der Geschichte“ gewesen war, und für „jene, die alt genug waren, um einige seiner Leidenschaften, Hoffnungen, Desillusionen und Träume miterlebt zu haben“. Mit anderen Worten, es handelte sich nicht um einen vertraulichen oder introspektiven Bericht, vielmehr drehte sich die Darstellung mehr um den Wissenschaftler, der in der Öffentlichkeit stand, als um den Privatmann.

Stuart Proffitt, Hobsbawms Lektor bei Penguin Books, war nicht ganz zufrieden mit diesem ziemlich unpersönlichen Ansatz. In einem längeren Briefwechsel versuchte Proffitt wiederholt, ihn zu überreden, über „vertraulichere Dinge“ zu schreiben und „ein bisschen mehr intern zu reflektieren“. Seiner Ansicht nach war das Buch „eine Neuauflage des Zeitalters der Extreme aus persönlicher Perspektive“. Aber nach eigenem Eingeständnis kam er „nicht sehr weit“. Das Buch ist, wie ein Rezensent scharfsinnig anmerkte, „so ein eigentümlicher Zwitter, eine unpersönliche Autobiografie“. Aber es ist deswegen um keinen Deut schlechter. Gebrochen durch die Optik individueller Erinnerung und persönlicher Beobachtung, bietet es aus einem Blickwinkel, der sich deutlich von dem analytisch strengen und auf akribischer Forschungsarbeit beruhenden Ansatz vom Zeitalter der Extreme unterscheidet, eine Geschichte dessen, was Hobsbawm das „Kurze 20. Jahrhundert“ nannte, vom Ersten Weltkrieg bis zum Untergang des Kommunismus. Wir finden hier impressionistische Schilderungen einer Vielzahl von Hobsbawms Freunden, Genossen und Bekannten, wir lesen von den Erfahrungen, die er durchmachte, und den Ereignissen, an denen er, direkt oder am Rande, beteiligt war. Die Faszination des Buches rührt nicht nur von der langen Lebenserfahrung seines Autors aufseiten der politischen Linken her, sondern, wenn man den Bogen weiter spannt, von seiner Kenntnis einer ungeheuren Zahl von Menschen und Orten, Ländern und Kontinenten.

Das Buch erfuhr während seiner Abfassung einige bedeutsame Änderungen. Ein langes Kapitel über Hobsbawms familiären Hintergrund wurde auf Proffitts Drängen gestrichen, weil es den Erzählfluss im ersten Teil des Werkes hemmte. Und der ursprünglich streng chronologische Aufbau des Buches, unterbrochen von Reflexionen über die verschiedenen Länder, die Hobsbawm kannte, wurde radikal geändert, als ihm klar wurde, dass dies zu sehr viel Wiederholung führen würde. Wenn man hingegen jedes Land (Frankreich, Italien usw.) herausnähme und in einem gesonderten Kapitel abhandelte, böten sich mehr Gelegenheiten für Analyse und Interpretation. Folglich kommt in dem Buch keine besondere „englische“ Perspektive zum Ausdruck, obwohl Hobsbawm als britischer Staatsbürger zur Welt kam, zu Hause in Wien in den 1920er-Jahren auf Drängen seiner Mutter Englisch sprach und von seiner Schule offiziell als zweisprachig (englisch/deutsch) eingestuft wurde. Hobsbawm war von Anfang an ein echter Kosmopolit, der bis zum Alter von 15 Jahren in Mitteleuropa lebte, noch weit länger auf Deutsch seine persönlichen Tagebücher führte, von den 1930er- bis in die 1950er-Jahren längere Zeit in Frankreich lebte und gut genug Spanisch sprach, um zahlreiche Forschungs- und Vortragsreisen durch Lateinamerika zu unternehmen. Mit anderen Worten, seine Perspektive war wahrhaft europäisch, eine Tatsache, die auch in seinen historischen Werken ihre Spuren hinterlassen hat.

Hobsbawms Erinnerungen hießen auf Englisch ursprünglich Interesting Times, eine Anspielung auf die angebliche uralte chinesische Verwünschung „Mögest du in interessanten Zeiten leben“ – obwohl eine solche Verwünschung in keinem Dokument vor den 1930er-Jahren, als der damalige britische Botschafter in China davon berichtete, nachweisbar ist. Für die deutsche Ausgabe entschied man sich anstelle der ursprünglichen ironischen Anspielung für den eindeutigeren Titel Gefährliche Zeiten, obwohl Hobsbawm selbst, wie er eingestand, kaum jemals irgendeine echte physische Gefahr erlebt hatte, nicht einmal während seines Militärdienstes. Der Gefahr am nächsten kam er vielleicht als junger Mann von 19 Jahren, als er zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs über die französische Grenze in ein Dorf wanderte, das von anarchistischen Milizen kontrolliert wurde, und man ihn mit vorgehaltener Waffe wieder zurückeskortierte. Die Gefahren, die seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei für seine Karriere darstellte, waren weniger physischer Natur. Diese Mitgliedschaft führte nicht nur dazu, dass sein erstes Buch aus politischen Gründen abgelehnt wurde (es wurde nie veröffentlicht), sondern auch zur regelmäßigen Überwachung durch den britischen Inlandsgeheimdienst MI5, dabei wurde bisweilen auch sein Post- und Telefonverkehr kontrolliert, eine Tatsache, der er sich, wenn überhaupt, die meiste Zeit nur sehr schwach bewusst war.

Für Gefährliche Zeiten gilt, wie für viele Autobiografien, dass das Buch am aufschlussreichsten dort ist, wo es um die Kindheit und Jugend des Autors geht. In den späteren Kapiteln wird die Darstellung unpersönlicher, eine Tatsache, die von vielen Rezensenten kritisch vermerkt wurde. Einige der britischen Rezensionen durchzog ein neuer, ausgesprochen feindseliger Ton, wie Hobsbawm selbst erkannte. „Vor ein paar Jahren“, erklärte er, „wurde meine Geschichte des ‚Kurzen 20. Jahrhunderts‘ nicht einmal von Konservativen als Werk der Propaganda oder ideologischen Rechtfertigung rezipiert – jedenfalls außerhalb Frankreichs nicht. Heute liegen die Dinge anders.“ Aber die von rechten Rezensenten, die den inzwischen gefahrlos gewonnenen Kalten Krieg von der Behaglichkeit ihrer Studierzimmer aus führten, gestarteten schrillen Angriffe gingen an der Sache vorbei. Hobsbawm schrieb das Buch nicht, um sein lebenslanges Festhalten an den Idealen des Kommunismus zu rechtfertigen. Vielmehr ist es, wie einer der ausgewogeneren Rezensenten anmerkte, die Tatsache, dass „Hobsbawm sich selbst hinterfragt, die diesem Werk ein ständiges Element der Überraschung und Vitalität verleiht und es zu einem außergewöhnlichen politischen Erinnerungsbuch macht“.

Sir Richard J. Evans gilt als der britische Fachmann für deutsche und europäische Geschichte, insbesondere des 20. Jahrhunderts. Er war nicht nur Professor an der Universität Cambridge, sondern leitete auch das renommierte Wolfson College von 2010 bis 2017. Er wurde u.a. mit dem Wolfson Literary Award for History ausgezeichnet. Im Februar 2019 erschien von ihm die Biographie „Eric Hobsbawm: A Life in History“.

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