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2 Ein Kind in Wien

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Ich verbrachte meine Kindheit in der verarmten Hauptstadt eines Großreichs, die nach dessen Zusammenbruch einer ziemlich kleinen provinziellen Republik von großer Schönheit angehörte, die nicht daran glaubte, daß es sie unbedingt geben müsse. Mit einigen wenigen Ausnahmen waren die Österreicher nach 1918 der Meinung, daß sie ein Teil Deutschlands sein müßten und daran lediglich durch die Großmächte gehindert würden, die Mitteleuropa den Friedensvertrag aufgezwungen hatten. Die wirtschaftlichen Probleme in den Jahren meiner Kindheit trugen nicht dazu bei, ihren Glauben an die Lebensfähigkeit der Ersten österreichischen Republik zu stärken. Sie hatte gerade eine Revolution hinter sich und war für kurze Zeit unter einer aus klerikalen Reaktionären gebildeten und von einem Monsignore geführten Regierung zur Ruhe gekommen, die sich auf die Stimmen der frommen oder zumindest stark konservativen Landbevölkerung stützte. Ihr stand eine verhaßte Opposition aus revolutionären marxistischen Sozialisten gegenüber, die ihre Basis zum größten Teil in Wien (nicht nur die Hauptstadt, sondern seit 1922 auch ein autonomes Bundesland der Republik) sowie bei all denen hatte, die sich als »Arbeiter« verstanden. Neben der Polizei und der Armee, die der Regierung unterstanden, gab es auf beiden Seiten des politischen Spektrums paramilitärische Verbände, für die der Bürgerkrieg nur aufgeschoben war. Österreich war nicht nur ein Staat, der nicht existieren wollte, sondern auch ein prekärer Zustand, der unmöglich von Dauer sein konnte.

Er war auch nicht von Dauer. Doch die letzten Zuckungen der Ersten österreichischen Republik – die Vernichtung der Sozialdemokraten nach einem kurzen Bürgerkrieg, die Ermordung des katholischen Bundeskanzlers durch nationalsozialistische Aufrührer, Hitlers triumphaler und begeistert begrüßter Einzug in Wien – ereigneten sich, nachdem ich Wien 1931 verlassen hatte. Ich sollte erst 1960 dorthin zurückkehren, als dasselbe Land, unter demselben Zweiparteiensystem von Katholiken und Sozialisten eine stabile, wirtschaftlich enorm aufblühende und neutrale kleine Republik geworden war, die mit ihrer Identität vollkommen zufrieden – manche mochten sagen, etwas zu selbstzufrieden – war.

Doch das ist die Rückschau eines Historikers. Wie sah eine bürgerliche Kindheit im Wien der zwanziger Jahre aus? Das Problem ist, wie man unterscheiden soll zwischen dem, was man seither erfahren hat, und dem, was die Zeitgenossen damals gewußt und getan haben, sowie zwischen den Erfahrungen und Reaktionen der Erwachsenen und derer, die damals Kinder waren. Was Kinder, die 1917 geboren waren, von den Ereignissen des noch jungen 20. Jahrhunderts wußten, die im Denken der Eltern und Großeltern so lebendig waren – Krieg, Zusammenbruch, Revolution, Inflation – war das, was Erwachsene uns erzählten, oder wahrscheinlicher das, was wir mithörten, wenn sie sich darüber unterhielten. Die einzige unmittelbare Anschauung, die wir von alldem hatten, waren die immer neuen Bilder auf Briefmarken. Das Sammeln von Briefmarken in den zwanziger Jahren erklärte zwar längst nicht alles, war jedoch eine gute Einführung in die politische Geschichte Europas seit 1914. Für einen im Ausland lebenden englischen Jungen wurde der Gegensatz zwischen der unveränderten Kontinuität des Kopfs von König Georg V. auf englischen Briefmarken einerseits und dem Chaos von Aufdrucken, neuen Namen und neuen Währungen auf den Marken anderer Länder andererseits unterstrichen. Die einzige weitere direkte Verbindung zur Geschichte brachten die variierenden Münzen und Banknoten einer Zeit der wirtschaftlichen Zerrüttung. Ich war alt genug, um die Veränderung von Kronen zu Schillingen und Groschen, von Banknoten mit zahlreichen Nullen zu einfachen Banknoten und Münzen bewußt wahrzunehmen, und ich wußte, daß es vor der Krone den Gulden gegeben hatte.

Auch wenn das Habsburgerreich dahingegangen war, lebten wir immer noch von seiner Infrastruktur und in einem erstaunlichen Ausmaß noch mit mitteleuropäischen Vorstellungen der Zeit vor 1914. Der Mann einer der intimen Freundinnen meiner Mutter, Dr. Alexander Szana, lebte in Wien und arbeitete zum Unglück für den Seelenfrieden seiner Frau bei einer deutschsprachigen Zeitung 50 Kilometer donauabwärts in einer Stadt, die bei uns Preßburg und bei den Ungarn Pozsony hieß und inzwischen zu Bratislava geworden war, der bedeutendsten slowakischen Stadt in der neuen Tschechoslowakischen Republik. (Heute ist sie die Hauptstadt einer souveränen Slowakei.) Abgesehen von der Vertreibung ehemaliger ungarischer Beamter hatte sie zwischen den Kriegen noch keine ethnische Säuberung ihrer polyglotten und multikulturellen Bevölkerung aus Deutschen, Ungarn, Tschechen und Slowaken, assimilierten, verwestlichten und frommen Karpatenjuden, Zigeunern und anderen erfahren. Sie war noch nicht wirklich eine slowakische Stadt von »Bratislavaks« geworden, von denen sich diejenigen, die sich noch daran erinnern, was sie bis zum Zweiten Weltkrieg geblieben war, noch immer als »Preßburaks« unterscheiden. Um zu seiner Arbeitsstelle und wieder nach Hause zurück zu kommen, nahm er die Preßburger Bahn, eine Regionalbahn, die von einer Straße im Zentrum Wiens bis zu einer Ringstrecke auf den Hauptstraßen Preßburgs fuhr. Sie wurde 1914 in Betrieb genommen, als beide Städte Teil desselben Reiches waren, ein Triumph der modernen Technik, und einfach weiterbetrieben; dasselbe galt für die berühmte »Opernbahn«, mit der die kulturell interessierten Einwohner von Brünn/Brno in Mähren zu einem Opernabend in das einige Eisenbahnstunden entfernte Wien fuhren. Mein Onkel Richard wohnte in Wien und in Marienbad, wo er ein Geschäft mit Modeartikeln hatte. Die Grenzen waren noch nicht hermetisch geschlossen wie später, nachdem die Preßburger Regionalbahnbrücke über die Donau im Krieg zerstört worden war. Die Überreste konnten noch 1996 besichtigt werden, als ich an einer Fernsehsendung über die Bahn mitwirkte.

Die Welt des Wiener Bürgertums und auf jeden Fall der Juden, die einen so beträchtlichen Teil davon ausmachten, war noch die der ausgedehnten vielsprachigen Region, deren Migranten ihre Hauptstadt in den letzten 180 Jahren zu einer Großstadt mit zwei Millionen Einwohnern gemacht hatten – ausgenommen Berlin mit Abstand die größte Stadt auf dem europäischen Kontinent zwischen Paris und Leningrad. Unsere Verwandten stammten aus Orten – und lebten zum Teil noch dort – wie Bielitz (heute in Polen), Kaschau (heute in der Slowakei) oder Großwardein (heute in Rumänien).1 Unsere Lebensmittelhändler und die Pförtner unserer Mietshäuser waren garantiert Tschechen, unsere Stuben- und Kindermädchen keine geborenen Wienerinnen: Ich erinnere mich noch an die Geschichten von Werwölfen, die mir eines der Mädchen erzählte, das aus Slowenien stammte. Niemand von ihnen war oder fühlte sich entwurzelt oder ausgesetzt vom »alten Land« wie die europäischen Auswanderer in den Vereinigten Staaten, da für die kontinentalen Europäer der Atlantik die große Scheidelinie war, während an das Reisen auf Schienen auch über größere Entfernungen hinweg jedermann gewöhnt war. Selbst meine nervöse Großmutter dachte sich nichts dabei, wenn sie hin und wieder eine kurze Reise nach Berlin unternahm, um ihre Tochter zu besuchen.

Es war eine multinationale, aber keine multikulturelle Gesellschaft. Deutsch (mit einer lokalen Färbung) war ihre Sprache, deutsch (mit einem lokalen Gepräge) ihre Kultur und ihr Zugang zur Weltkultur der Antike wie der Moderne. Meine Verwandten hätten die leidenschaftliche Entrüstung des großen Kunsthistorikers Ernst Gombrich geteilt, als dieser – wie das im 20. Jahrhundert Mode war – gebeten wurde, die Kultur seiner Geburtsstadt Wien als jüdisch zu beschreiben. Es war schlicht und einfach eine Wiener bürgerliche Kultur, so wenig durch die Tatsache beeinflußt, daß so viele ihrer hervorragenden Vertreter Juden waren und (angesichts des eingefleischten Antisemitismus der Region) wußten, daß sie Juden waren, wie durch den Umstand, daß einige von ihnen aus Mähren kamen (Freud und Mahler), andere aus Galizien oder der Bukowina (Joseph Roth) oder sogar aus Russe an der bulgarischen Donau (Elias Canetti). Ebenso sinnlos wäre es, nach bewußt jüdischen Elementen in den Liedern von Irving Berlin oder den Hollywoodfilmen aus der Ära der großen Studios zu suchen, die alle von eingewanderten Juden betrieben wurden: Ihr Ziel, worin sie erfolgreich waren, bestand gerade darin, Lieder oder Filme zu machen, die einen spezifischen Ausdruck für ein hundertprozentiges Amerikanertum fanden.

Als Sprecher der Kultursprache in einer ehemaligen imperialen Hauptstadt teilten Kinder instinktiv das Gefühl einer kulturellen, wenn auch nicht mehr einer politischen Überlegenheit. Die Art und Weise, wie Tschechen deutsch sprachen (»böhmakelten«), kam uns minderwertig und deshalb spaßig vor, und so war es auch mit der unverständlichen tschechischen Sprache mit ihrer scheinbaren Häufung von Konsonanten. Ohne daß wir Italiener gekannt oder eine Meinung über sie gehabt hätten, bezeichneten wir sie abschätzig als »Katzelmacher«. Emanzipierte und assimilierte Wiener Juden sprachen von Ostjuden, als handelte es sich um eine andere Spezies. (Ich erinnere mich noch deutlich, wie ich ein älteres Mitglied der Familie gefragt habe, ob diese Ostjuden Nachnamen hätten wie wir und wenn ja, wie diese lauteten, da sie doch offensichtlich so anders seien als wir.) Meiner Meinung nach erklärt das einen Großteil der Begeisterung, mit der die Österreicher ihre Annexion durch Hitlerdeutschland begrüßten: Sie stellte ihr Gefühl einer politischen Überlegenheit wieder her. Damals bemerkte ich nur, daß einer oder zwei meiner Klassenkameraden am Gymnasium »Hakenkreuzler« waren. Da ich Engländer war, kulturell jedoch von den Österreichern nicht zu unterscheiden, war ich davon offenbar nicht unmittelbar betroffen. Aber es führt mich zur Frage der Politik.

Weil ich schon in so jungen Jahren und so lange Zeit von jener für das 20. Jahrhundert typischen Leidenschaft des politischen Engagements ergriffen wurde, liegt die Frage nahe, wie weit deren Wurzeln in eine Kindheit der zwanziger Jahre in Wien zurückreichen. Das ist schwierig zu rekonstruieren. Wir lebten in einer Zeit, die durchtränkt war von Politik, auch wenn die Angelegenheiten der weiteren Welt, wie ich schon gesagt habe, hauptsächlich über die Erwachsenen zu uns kamen, wenn wir deren Gespräche mit anhörten, deren Sinn wir Kinder aber nicht voll verstanden. An zwei kann ich mich noch erinnern, wahrscheinlich um 1925. Zu dem einen kam es in einem Gebirgssanatorium, in das man mich geschickt hatte, um mich von einer Krankheit zu erholen (wir Kinder waren anscheinend ständig wegen irgend etwas krank). Beaufsichtigt wurde ich von meiner Tante Gretl, die dort ebenfalls ein Leiden auskurierte. »Wer ist dieser Trotzkij?« fragte eine Frau, in meiner vagen Erinnerung oder Vorstellung eine mütterliche Person mittleren Alters, in deren Stimme eine gewisse Befriedigung lag. »Bloß ein jüdischer Bub, der eigentlich Bronstein heißt.« Wir hatten von der Russischen Revolution gehört, aber was war das eigentlich? Das andere bekam ich bei einer Leichtathletikveranstaltung mit, zu der mich mein Onkel (und wahrscheinlich mein Vater) mitgenommen hatten, die mir im Gedächtnis geblieben ist, weil ich damals zum ersten Mal einen schwarzen Kurzstreckenläufer namens Cator erlebte. »Du sagst, zur Zeit ist nirgendwo mehr ein Krieg«, sagte jemand, »aber es gibt doch einen Aufstand in Syrien?« Was bedeutete das für uns, was konnte es überhaupt für uns bedeuten? Wir wußten, es hatte einen Weltkrieg gegeben, so wie jeder junge Engländer, der 1944 geboren wurde, in dem Wissen aufwachsen würde, daß es einen Weltkrieg gegeben hatte. Zwei meiner englischen Onkel waren dabeigewesen, unser Nachbar, Herr Gold, hatte mir seinen hohen Tschako gezeigt, und mein bester Freund war Kriegswaise – seine Mutter bewahrte den Säbel ihres Mannes an der Wand auf. Doch keiner von denen, die ich kannte, ob Engländer oder Österreicher, betrachtete den Krieg als eine heroische Zeit, und die Schulen in Österreich hüllten sich in Schweigen darüber, zum Teil, weil er ein anderes Land zu einer anderen Zeit betraf – das alte Habsburgerreich –, zum Teil vielleicht aber auch, weil die österreichischen Armeen sich nicht gerade mit Ruhm bedeckt hatten. Erst als ich nach Berlin kam, erlebte ich den Lehrer und ehemaligen Offizier, der auf seinen Frontdienst stolz war. Bis dahin stammte mein eindrucksvollstes Bild vom Großen Krieg von Karl Kraus’ großartigem, monumentalem Dokudrama Die letzten Tage der Menschheit, dessen Text meine Mutter und meine Tante Gretl gleich nach seinem Erscheinen 1922 gekauft hatten. Ich besitze noch das Exemplar meiner Mutter und lese von Zeit zu Zeit wieder darin.

Was wußten wir sonst noch von der Zeit, in der wir lebten? Für Wiener Schulkinder war es selbstverständlich, daß die Menschen zwischen zwei Parteien wählen konnten – den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten oder Roten. Unsere einfache materialistische Annahme war die, daß man als Hausbesitzer die ersteren und als Mieter die letzteren wählte. Da die meisten Wiener zur Miete wohnten, machte dies natürlich Wien zu einer roten Stadt. Bis nach dem Bürgerkrieg von 1934 waren die Kommunisten so unwichtig, daß einige der Engagiertesten von ihnen sich entschieden, sich in anderen Ländern zu betätigen, wo sie mehr Handlungsspielraum hatten. Das betraf hauptsächlich Deutschland, wohin zum Beispiel die berühmten Eislers gingen, der Komponist Hanns, der Kominternagent Gerhart und ihre Schwester, die formidable Elfriede, besser bekannt als Ruth Fischer, die für kurze Zeit die KPD führte, aber auch die Tschechoslowakei, die für Egon Erwin Kisch zur neuen Heimat wurde. (Viele Jahre später wurde der Maler Georg Eisler, der Sohn von Hanns, mein bester Freund.) Ich kann mich nicht erinnern, daß ich auf den einzigen Kommunisten im Kreis der ehemaligen Geschwister Grün aufmerksam geworden wäre, der unter dem Pseudonym Leo Lania schrieb, damals ein junger Mann, der Zolas Das Werk sein Lieblingsbuch und Eugen Onegin und Spartakus seine Lieblingshelden in der Literatur und Geschichte nannte. Unsere Familie war natürlich weder schwarz noch rot, da die Schwarzen Antisemiten und die Roten für die Arbeiter und nicht für unsere Schicht waren. Außerdem waren wir Engländer, so daß uns die Frage nichts anging.

Und doch, beim Übergang von der Volksschule auf das Gymnasium und von der Kindheit zur Pubertät im Wien der späten zwanziger Jahre erlangte man ein politisches Bewußtsein so selbstverständlich, wie man die eigene Sexualität entdeckte. Im Sommer 1930 befreundete ich mich in Weyer, einem Dorf in Oberösterreich, wo die Ärzte vergeblich versuchten, dem Lungenleiden meiner Mutter beizukommen, mit Haller Peter, dem Sohn der Familie, bei der wir Quartier bezogen hatten. (In der Tradition von Beamtenstaaten wurde der Nachname vor dem Vornamen genannt.) Wir gingen zusammen angeln und plünderten die Obstgärten, ein Treiben, von dem ich glaubte, daß es auch meiner Schwester gefallen müßte, das ihr jedoch, wie sie mir viele Jahre später gestand, eine Heidenangst eingejagt hatte. Da Peters Vater als Eisenbahner arbeitete, war die Familie rot: In Österreich und vor allem auf dem Land wäre es damals keinem Arbeiter außerhalb der Landwirtschaft in den Sinn gekommen, etwas anderes zu sein. Obwohl Peter – etwa im selben Alter wie ich – sich nicht erkennbar für öffentliche Angelegenheiten interessierte, war es auch für ihn selbstverständlich, rot zu sein; und irgendwie, zwischen dem Zielen mit Steinen auf Forellen und dem Stibitzen von Äpfeln, beschloß ich, auch Kommunist zu werden.

Drei Jahre zuvor gab es ebenfalls einen Sommerferientag, an den ich mich erinnere, diesmal in einem Dorf namens Rettenegg in Niederösterreich. Es war eine Zeit, die in meinem persönlichen Leben keine besondere Rolle gespielt hat, um so mehr aber in der Geschichte. Wie gewöhnlich war mein Vater nicht mit uns gefahren, sondern war in Wien zurückgeblieben, um seiner Arbeit nachzugehen. Doch der Sommer 1927 war die Zeit, als die Arbeiter in Wien, empört über den Freispruch von einigen Rechten, die bei einer Schlägerei zwei Sozialisten getötet hatten, massenhaft auf die Straße gingen und den Justizpalast an der Ringstraße niederbrannten (die breite Prachtstraße, die in einem großen Bogen durch die alte Innenstadt Wiens führt). Fünfundachtzig von ihnen kamen dabei um. Mein Vater befand sich anscheinend in der Nähe des Tumults, kam jedoch ungeschoren davon. Sicher haben die Erwachsenen (nicht zuletzt meine Mutter) die Ereignisse ausgiebig diskutiert, aber ich kann nicht behaupten, daß dies bei mir den geringsten Eindruck hinterlassen hätte – anders als die Geschichte, daß sich einmal – nämlich 1909, auf einer Reise nach Ägypten – sein Schiff gerade auf der Höhe von Sizilien befand, als das große Erdbeben von Messina ausbrach. Was mir von diesem Ferientag tatsächlich im Gedächtnis geblieben ist, waren der Handwerker am Ort, der vor unserer Ferienwohnung ein Boot baute, und die Tannenwälder am Berghang, die ich allein erkundete, bis ich ein Lager von Holzfällern erreichte, die mir von ihrem Sterz abgaben, jenem festen Brei aus Mais oder Maisgrieß, den sie als Vesper mit sich führten. Unterwegs sah ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Schwarzspecht, fast einen halben Meter groß unter der leuchtend roten Kopfplatte, der auf einer Lichtung gegen einen Baumstumpf hämmerte, wie ein wahnsinniger kleiner Eremit, allein unter der Stille der Baumkronen.

Trotzdem wäre es zuviel behauptet, daß der Sommer in Weyer mich zu einem politischen Menschen gemacht hätte. Erst in der Rückschau kann man meine Kindheit als einen Prozeß der Politisierung lesen. Damals bestimmten Spielen und Lernen, Familie und Schule mein Leben nicht anders als das der meisten Schulkinder im Wien der zwanziger Jahre. So gut wie alles, was wir erlebten, begegnete uns auf diese Weise oder fügte sich in den einen oder anderen dieser Rahmen ein.

Von den beiden sozialen Netzen, die den größten Teil meines Lebens bestimmten, war die Familie das dauerhafteste. Sie bestand aus einem größeren Wiener Clan, den Verwandten meiner Großeltern, und einem kleineren, englisch-österreichischen Teil, zwei Schwestern der Familie Grün, meiner Mutter und ihrer jüngeren Schwester Gretl, beide mit zwei Hobsbaumbrüdern verheiratet, meinem Vater und dem jüngeren Sidney, der während des größten Teils der zwanziger Jahre ebenfalls in Wien lebte. Eingeschult wurde man erst mit sechs Jahren. Danach durchlief ich durch Wohnungswechsel bedingt zwei Volksschulen und drei Gymnasien, und meine Schwester – die Wien noch vor ihrem zehnten Lebensjahr verließ – besuchte zwei Volksschulen. Unter diesen Umständen konnten Schulfreundschaften nur von kurzer Dauer sein. Von allen, die ich während meiner fünf Schuljahre in Wien kennengelernt habe, sind mit einer Ausnahme alle aus meinem späteren Leben verschwunden.

Die Familie war andererseits auch ein funktionales Netz, das nicht nur durch die emotionalen Bande zwischen Müttern, Kindern und Enkeln und zwischen Brüdern und Schwestern zusammengehalten wurde, sondern auch durch wirtschaftliche Erfordernisse. Was es in den zwanziger Jahren schon an den modernen sozialstaatlichen Einrichtungen gab, tangierte bürgerliche Familien kaum, da die wenigsten ihrer Ernährer Lohnarbeit verrichteten. An wen konnte man sich sonst um Hilfe wenden? Wie sollte man Verwandten in Not nicht helfen, selbst wenn man sie nicht besonders gut leiden konnte? Ich glaube nicht, daß dies besonders charakteristisch für jüdische Familien war, auch wenn die Wiener Familie meiner Mutter zweifellos das Empfinden hatte, daß die Mischpoche oder zumindest die Angehörigen, die in Wien wohnten, eine Gruppe bildete, die sich von Zeit zu Zeit traf, stets – wie ich mich aus langen und entsetzlich langweiligen Sitzungen an Tischen erinnere, die in einem Gartencafé zusammengestellt wurden –, um Familienentscheidungen zu treffen oder einfach nur Klatschgeschichten auszutauschen. Wir bekamen Eiscreme, aber solch kurze Freuden können einen nicht für ein langes Palaver entschädigen. Wenn es daran etwas spezifisch Jüdisches gab, dann die von allen geteilte Annahme, daß die Familie ein Netz sei, das sich über Länder und Meere hinweg erstreckte, daß der Wechsel des Wohnsitzes von einem Land in ein anderes ein normaler Bestandteil des Lebens sei und daß für Menschen, die ihr Geld mit Ankauf und Verkauf verdienten – wie dies bei vielen Angehörigen jüdischer Familien der Fall war –, die Sicherung des Lebensunterhalts eine ungewisse und unberechenbare Sache sei, vor allem im Zeitalter der Katastrophe, die Mitteleuropa seit dem Zusammenbruch der Zivilisation im August 1914 verschlungen hatte. Wie sich die Dinge entwickelten, sollte kein Teil der Familie Hobsbaum-Grün das Sicherheitsnetz des Familiensystems nötiger haben als meine Eltern, vor allem nachdem durch den Tod meines Vaters aus einer permanent kritischen eine katastrophale wirtschaftliche Lage geworden war. Doch bis dahin – in meinem Fall bis zu meinem zwölften Lebensjahr – bekamen wir Kinder davon kaum etwas mit.

Wir lebten noch in der Zeit, in der eine Taxifahrt als eine Extravaganz erschien, die einer besonderen Rechtfertigung bedurfte, selbst bei relativ begüterten Menschen. Wir – oder zumindest ich – hatten anscheinend alle die üblichen Besitztümer, die auch unsere Freunde hatten, und taten alle die Dinge, die auch sie taten. Ich kann mich nur an eine einzige Gelegenheit erinnern, als mich eine Ahnung davon überfiel, wie mulmig die Lage war. Ich war gerade auf das Bundesgymnasium XIII, Fichtnergasse, gewechselt. Der für die neue Klasse verantwortliche Professor – alle Lehrer an einem Gymnasium wurden automatisch mit »Herr Professor« angeredet, so wie wir nunmehr automatisch mit »Sie« und nicht mehr wie die Kinder mit »du« angeredet wurden – hatte die Liste mit den Büchern ausgeteilt, die wir anschaffen sollten. In Erdkunde benötigten wir den Kozenn-Atlas, einen großen und offenbar ziemlich teuren Band. »Das ist sehr teuer. Mußt du ihn unbedingt haben?« fragte meine Mutter in einem Ton, der mir das deutliche Gefühl einer Krise vermittelte, und sei es auch nur, weil die Antwort auf ihre Frage so offensichtlich war. Natürlich mußte ich ihn haben. Wieso konnte Mama das nicht einsehen? Das Buch wurde gekauft, doch das Gefühl, daß zumindest bei dieser Gelegenheit ein größeres Opfer gebracht worden war, ließ mich nicht mehr los. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum dieser Atlas noch immer in meinem Bücherregal steht, leicht zerfleddert und voller Schmierereien und Randbemerkungen eines Sextaners oder Quintaners, doch noch immer ein guter Atlas, den ich von Zeit zu Zeit zu Rate ziehe.

Vielleicht hätten andere Kinder in meinem Alter ein ausgeprägteres Gefühl für unsere materiellen Schwierigkeiten gehabt. Als Junge hatte ich keinen besonderen Sinn für praktische Realitäten; und Erwachsene, soweit ihre Aktivitäten und Interessen sich nicht mit den meinigen überschnitten, gehörten für mich nicht zur praktischen Realität. Jedenfalls lebte ich einen Großteil der Zeit in einer Welt ohne klare Grenzen zwischen der Wirklichkeit, den Entdeckungen des Lesens und den Schöpfungen meiner Phantasie. Selbst ein Kind mit einem nüchterneren Sinn für die Realität wie meine Schwester hatte keine klare Vorstellung von unserer Lage. Ein solches Wissen wurde einfach für die Welt unserer Kindheit nicht als notwendig angesehen. So hatte ich beispielsweise keine Ahnung, welcher Arbeit mein Vater eigentlich nachging. Niemand hielt es für nötig, Kindern solche Dinge zu sagen, und außerdem waren die Tätigkeiten, mit denen mein Vater und mein Onkel ihren Lebensunterhalt verdienten, alles andere als klar. Sie waren keine Männer mit eindeutig beschreibbaren beruflichen Tätigkeiten wie die Personen auf einer »Happy Family Card«: Ärzte, Anwälte, Architekten, Ladeninhaber. Wenn ich gefragt wurde, was mein Vater machte, antwortete ich unbestimmt »Kaufmann«, weil ich genau wußte, daß dies nichts bedeutete und so gut wie sicher falsch war. Doch was sollte man sonst dafür sagen?

Zu einem großen Teil ging unser – oder zumindest mein – mangelndes Bewußtsein unserer finanziellen Situation auf das Widerstreben, um nicht zu sagen die Weigerung meiner Wiener Familie zurück, sie sehen zu wollen. Nicht, daß sie auf der letzten Zuflucht des Bürgertums, das schwere Zeiten mitmachte, bestanden hätten, »den äußeren Schein zu wahren«. Sie wußten genau, wie schlimm es ihnen ging. »Es ist wirklich herzerhebend, dies in unseren verarmten proletarisierten Zeiten zu sehen«, schrieb meine Großmutter ihrer Tochter, wobei sie über die Eleganz und Opulenz der Hochzeit eines Neffen staunte und bitter anmerkte, daß der Bräutigam seiner Braut »einen sehr schönen und wertvollen Ring« geschenkt hatte, »von uns verfertigt in besseren Zeiten«. Das heißt, bevor Großvater Grün, dessen Ersparnisse durch die große Inflation Anfang der zwanziger Jahre auf den Wert einer Tasse Kaffee mit Kuchen im Café Ilion zusammengeschmolzen waren, im hohen Alter die Beschäftigung seiner Jugend als Handelsvertreter wiederaufnahm und Billigschmuck in Provinzstädten und Alpendörfern verkaufte. Große Teile des österreichischen Bürgertums waren in einer ähnlichen Lage, verarmt durch den Krieg und die Nachkriegszeit, mit der Zeit daran gewöhnt, den Gürtel enger zu schnallen und sehr viel bescheidener zu leben als im »Frieden«, also vor 1914. (Was nach 1918 kam, zählte nicht als Frieden.) Sie empfanden es als hart, kein Geld zu haben – härter, wie sie glaubten, als für die Arbeiter, die schließlich daran gewöhnt waren. (Später, als ich ein Teenager und begeisterter Kommunist war, schüttelte meine Tante Gretl den Kopf über meine Weigerung, diese in ihren Augen selbstverständliche Behauptung zu akzeptieren.) Nicht daß es den englischen Ehemännern der Schwestern der Familie Grün besser gegangen wäre. Zwei von ihnen waren denkbar untauglich für den Dschungel der Marktwirtschaft: mein Vater und Wilfred Brown, ein gutaussehender Kriegsinternierter, der die älteste Schwester Mimi geheiratet hatte. Selbst mein Onkel Sidney, der einzige der Brüder Hobsbaum, der seinen Lebensunterhalt in Geschäften verdiente, verbrachte den größten Teil des Jahrzehnts damit, sich aus den Trümmern eines fehlgeschlagenen Projekts herauszuarbeiten, nur um sich in das nächste, ebenso zum Scheitern verurteilte Unternehmen zu stürzen.

Im Grunde genommen fand meine Wiener Familie jede andere Lebensweise als die aus der Zeit vor 1914 unvorstellbar und machte einfach damit weiter, obwohl es aussichtslos war. So hielt sich meine Mutter selbst dann noch, als sie die Schulden beim Lebensmittelhändler nicht mehr bezahlen konnte, geschweige denn die Miete und den Strom, ständig ein Dienstmädchen. Aber das waren bei weitem nicht die alten treuen Familiendienstboten wie Helene Demuth, die auf dem Highgate Cemetery im Familiengrab von Karl Marx ruht. Sie waren und blieben das sprichwörtliche »Dienstmädchenproblem« der Frau des Hauses in bürgerlichen Familien, eine endlose Abfolge junger Frauen, von Agenturen vermittelt, die ein oder zwei Monate blieben, von der seltenen »Perle« bis zur ungeschickten Anfängerin, die gerade erst vom Land in die Stadt gekommen war und noch nie einen Gasherd oder gar ein Telefon gesehen hatte. Als meine Mutter 1925 zum ersten Mal England besuchte, um sich ihrer Schwester Mimi anzunehmen, die damals in Barrow-in-Furness krank darniederlag, schrieb sie ihrer anderen Schwester, beeindruckt nicht nur von der Effizienz, Gelassenheit und Unaufgeregtheit, mit der hier der Haushalt geführt wurde (ganz im Gegensatz zu den Häusern der jüdischen Familien in Wien …), sondern auch von der Tatsache, daß das alles ohne Dienstmädchen geschah. »Hier sind Damen, die ihr ganzes Haus allein führen, dabei Kinder haben, die selbst die große Wäsche allein waschen, und dabei Damen sind.«2

Trotzdem wäre für sie das englische Beispiel nie in Frage gekommen. Sie habe jahrelang am Rande des Bankrotts gelebt, schrieb sie an ihre Schwester, die über finanzielle Probleme in Berlin klagte, und

»so möchte ich Dir vor allem einen Rat geben, den ich Dich sehr bitte, ja zu beherzigen: versuche nicht zu zeigen, daß es auch ohne Mädchen geht! Auf die Dauer geht es ohnehin nicht – und deshalb ist es weit besser, gleich von vornherein anzunehmen, daß ein Mädchen eine ebenso unumgängliche Notwendigkeit ist wie das Dach über dem Kopf und das Essen. Was man erspart, steht nicht im Verhältnis zum Verluste an Gesundheit, Annehmlichkeit und vor allem Nerven, die man ja um so wichtiger braucht je schiefer die Dinge gehen. Obzwar auch ich in letzter Zeit wieder ernsthaftig daran gedacht habe, Marianne fortzuschicken – uns ist es bei ihr vor Weihnachten wirklich nicht mehr möglich, sie war ja immer brav – so war dies doch nur aus dem Grund, der mich gewöhnlich dazu veranlaßt hat: weil ich mich vor dem Mädel geniere, den Greissler [Lebensmittelhändler] nicht zahlen zu können, etc.; und im Grund weiß ich gut, daß es viel besser ist, eine dicke Haut zu haben und sie zu behalten.«3

Von alledem wußten oder verstanden wir nichts, nur daß die Eltern manchmal Krach miteinander hatten, möglicherweise mit zunehmender Häufigkeit – aber welche Eltern stritten sich nicht? –, und daß die Zimmer in den mitteleuropäischen Wintern eiskalt waren. (Hätten wir in England in der Zeit der mit Kohlen beheizten Kamine gelebt, die wohl untauglichste Methode, die zur Erwärmung von Zimmern erfunden wurde, dann wäre diese Kälte nicht unbedingt eine Folge des fehlenden Geldes für den Kauf von Heizmaterial gewesen.)

Fest und verbindlich, zum Teil allein schon wegen der Unsicherheit ihrer materiellen Basis, teilte die Familie die Welt und damit mein Leben in zwei Teile: Innen und Außen. Soweit wir Kinder betroffen waren, bildeten oder determinierten die Familie und ihre nächsten Freunde praktisch die Welt der Erwachsenen, die ich als Menschen und nicht nur als Dienstleister oder gleichsam als Statisten auf der Bühne unseres Lebens kannte. (Die Familie legte auch fest, welche Kinder dauerhaft Teil unseres Lebens bleiben würden und wir an ihrem, wie im Fall der Töchter von Golds oder der Tochter der Szanas.) Die Erwachsenen, die ich kannte, waren fast ausschließlich Verwandte oder die Freunde von Eltern und Verwandten. Somit habe ich keine Erinnerung an den Zahnarzt, zu dem meine Mutter mich brachte, als Person, während die Erinnerung an den Gang dorthin schon darum unvergeßlich blieb, weil er nicht zu den Leuten gehörte, die sie »kannte«. Andererseits erinnere ich mich an Doktor Strasser als an eine reale Person, vermutlich weil meine Familie ihn und seine Familie kannte. Merkwürdigerweise hatten Lehrer anscheinend bis zu meinem letzten Jahr in Wien nicht der Welt erwachsener Individuen angehört, und wurden erst in Berlin zu Menschen, zu denen ich persönliche Beziehungen unterhielt.

Die Schule war in jedem Fall außen. Und Außen, in dem es Erwachsene im Sinne realer Personen nicht gab, bestand im wesentlichen aus anderen Kindern. Die Welt der Kinder, ob »innen« oder »außen«, war eine, die von den Erwachsenen nicht wirklich verstanden wurde, so wie wir nicht wirklich verstanden, was sie eigentlich trieben. Im besten Fall akzeptierte jede Seite der Generationslücke, was die andere Seite tat, mit Redewendungen wie »so machen es die Erwachsenen« oder »wie die Kinder«. Erst die Pubertät, die in meinem letzten Jahr in Wien einsetzte, begann die Mauern zwischen den beiden Sphären zu untergraben.

Natürlich gab es Überschneidungen. Meine Lektüre, vor allem englische Bücher, bekam ich überwiegend von Erwachsenen, wobei ich Arthur Mees Children’s Newspaper, das wohlmeinende Verwandte aus London schickten, ebenso langweilig wie unverständlich fand. Auf der anderen Seite habe ich schon frühzeitig die deutschen Bücher über das Vogelleben und über Säugetiere verschlungen, die ich geschenkt bekam, und nach der Volksschule las ich regelmäßig die Zeitschrift Kosmos, herausgegeben von einer »Gesellschaft der Naturfreunde«, die sich die Popularisierung der Naturwissenschaften – hauptsächlich der Biologie und der Abstammungslehre – zum Ziel gesetzt hatte und deren Hefte von Erwachsenen für mich abonniert worden waren. Schon früh nahm man uns ins Theater mit, in Stücke, von denen man annahm, daß sie für uns unterhaltend sein würden, die aber auch von den Erwachsenen geschätzt wurden, etwa Schillers Wilhelm Tell (aber nicht Goethes Faust) und die Werke der populären Wiener Bühnenautoren des frühen 19. Jahrhunderts – die phantastischen Zauberstücke Ferdinand Raimunds, die urkomisch-satirischen Volksstücke des großen Johann Nestroy, dessen bitteren Witz wir noch nicht verstanden. Aber man schickte uns auch zusammen mit anderen Schulkindern in die morgendlichen Filmvorführungen des Maxim-Bio, ein Wiener Kino, das es schon lange nicht mehr gibt, wo wir Kurzfilme mit Charlie Chaplin und Jackie Coogan sahen, aber erstaunlicherweise auch Fritz Langs wesentlich längeres Epos Die Nibelungen. Nach meiner Wiener Erfahrung gingen Erwachsene und Kinder nicht gemeinsam ins Kino. Andererseits trafen geistig rege Kinder natürlich ihre Auswahl unter den Büchern auf den Regalen ihrer Eltern und Verwandten, vielleicht beeinflußt durch das, was sie zu Hause gehört hatten, vielleicht auch nicht. Insoweit teilten die Generationen bestimmte Vorlieben. Dagegen war der von unseren Eltern für die Kinder ausgesuchte Lesestoff im allgemeinen für die Erwachsenen nicht von ernsthaftem Interesse. Andererseits hatten von allen Erwachsenen, mit denen wir zu tun hatten, nur die (mißbilligend blickenden) Lehrer überhaupt eine Ahnung von dem leidenschaftlichen Interesse Dreizehnjähriger an den Detektivheftchen im Taschenformat. Deren Helden trugen unweigerlich englische Namen, und ihre Abenteuer kursierten in unseren Klassen unter Titeln wie Sherlock Holmes, der Weltdetektiv (weitab vom Original), Frank Allen, der Rächer der Enterbten, von Sexton Blake, und schließlich am beliebtesten der Berliner Detektiv Tom Shark mit seinem Kumpel Pitt Strong, der seinen Beruf in der Umgebung der Motzstraße ausübte, die Lesern von Christopher Isherwood vertraut sein mochte, für Jungen in Wien jedoch so weit entfernt war wie Holmes’ Baker Street.

Kinder im Wien der mittzwanziger Jahre lernten noch die alte Kurrentschrift, indem sie mit Griffeln Buchstaben auf holzgerahmte Schiefertafeln schrieben, die sie anschließend mit einem feuchten Schwämmchen wieder auswischten. Da die Schulfibeln nach 1918 überwiegend in der neuen Antiqua gedruckt waren, lernten wir natürlich später auch so zu schreiben, aber ich kann mich nicht mehr erinnern wie. Wenn man mit elf Jahren aufs Gymnasium ging, wurde offenbar von einem erwartet, daß man lesen, schreiben und rechnen konnte, doch was wir sonst in der Volksschule lernten, weiß ich heute nicht mehr so genau. Offenbar fand ich es interessant, da ich auf meine Volksschulzeit gern zurückblicke und mich an die verschiedensten Geschichten über Wien und an Ausflüge in die halb ländliche Umgebung erinnere, die wir nach Bäumen, Pflanzen und Tieren durchstreiften. Ich nehme an, das alles fiel unter das Fach Heimatkunde, ein Wort, das sich nicht ohne weiteres ins Englische übersetzen läßt, da dieses den Begriff »Heimat« nicht kennt. Heute kann ich sehen, daß es keine schlechte Vorbereitung für einen Historiker war, da die großen Ereignisse der konventionellen Geschichte in Wien und Umgebung nur ein nebensächlicher Teil von dem waren, was Wiener Kinder über ihre Heimat lernten. Aspern war nicht nur der Name der Schlacht, die die Österreicher gegen Napoleon gewonnen hatten (das benachbarte Wagram, wo sie entscheidend geschlagen wurden, sollte nicht in die kollektive Erinnerung eingehen), sondern auch ein Ort in der etwas entfernten noch nicht zur Stadt gehörigen Zone jenseits der Donau, wohin Menschen zum Baden in den stehenden Gewässern früherer Donauarme gingen und um Wildgebiete mit Mardern und Wasservögeln zu erkunden. Die türkischen Belagerungen Wiens waren wichtig, weil sie als ein Teil der türkischen Beute den Kaffee nach Wien brachten und damit unsere Kaffeehäuser. Natürlich hatten wir den nicht zu unterschätzenden Vorteil, daß die amtliche Geschichte des alten kaiserlichen Österreichs von der Bildfläche verschwunden war, ausgenommen in Gestalt von Gebäuden und Denkmälern, und daß das neue Österreich von 1918 noch keine Geschichte hatte. Es ist die politische Kontinuität, die wesentlich dazu beiträgt, den Geschichtsunterricht auf die kanonische Abfolge von Daten, Herrschern und Kriegen zu reduzieren. Das einzige historische Ereignis, das meiner Erinnerung nach im Wien meiner Kindheit an der Schule gefeiert wurde, war der hundertste Todestag Beethovens. Die Lehrer selbst wußten, daß in der neuen Zeit auch die Schule eine andere sein mußte, nur hatten sie von ihr noch keine klare Vorstellung. (In meinem Schulliederbuch von 1925 war damals von »der noch nicht völlig geklärten neuen Unterrichtsmethode« die Rede.) Auf dem Gymnasium, das sich von der traditionellen Pädagogik noch nicht emanzipiert hatte, sollte ich eine Geschichte kennenlernen, die hauptsächlich aus den Daten großer Schlachten bestand. Das ließ mich natürlich kalt. Deutsch, Erdkunde, Latein und später Griechisch (das ich in England aufgeben mußte) schienen weit mehr nach meinem Geschmack, weniger dagegen die Mathematik und die naturwissenschaftlichen Fächer.

Und ganz und gar nicht der Religionsunterricht. In der Volksschule stellte sich das Problem wahrscheinlich noch nicht, doch meine ich mich zu erinnern, daß die Nichtkatholischen, die Protestanten, Lutheraner, die wenigen Griechisch-Orthodoxen, aber hauptsächlich die Juden von der Teilnahme an diesem Unterricht befreit waren. Die Alternative für die Minderheit, eine nachmittägliche Religionsstunde für Juden, die in einem anderen Teil der Stadt von einem Fräulein Miriam Morgenstern und ihren verschiedenen Nachfolgern gehalten wurde, war wenig anregend. Sie erzählte uns wiederholt die biblischen Geschichten im Pentateuch und stellte uns dazu Fragen. Ich erinnere mich noch an den Schock, den ich auslöste, als sie zum x-ten Mal die Frage stellte, wer der wichtigste der Söhne Jakobs war, und ich – weil ich nicht glauben wollte, daß es immer nur um Joseph ging – zur Antwort gab: »Juda«. Schließlich, so mein Argument, waren doch alle Juden nach ihm benannt worden. Es war die falsche Antwort. Ich eignete mir auch die Kenntnis hebräischer Druckbuchstaben an, die mir inzwischen wieder aus dem Gedächtnis entschwunden sind, außerdem die Anrufung des jüdischen Pflichtgebets »Schema Jisroel!« (»Höre Israel!« Die Worte wurden stets in der Weise der Aschkenasim ausgesprochen und nicht in der der Sephardim, die vom Zionismus auferlegt wurde) sowie ein Bruchstück des »Manischtani«, die rituellen Fragen und Antworten, die während des Pessachfestes vom jüngsten männlichen Familienmitglied rezitiert wurden. Da niemand in der Familie Pessach feierte, sich um den Sabbat oder sonst einen jüdischen Feiertag kümmerte oder jüdische Speisevorschriften einhielt, hatte ich keine Gelegenheit, meine Kenntnisse anzuwenden. Ich wußte, daß man im Tempel seinen Kopf bedecken mußte, doch die wenigen Male, daß ich einen betrat, waren Hochzeiten und Beerdigungen. Dem einzigen Schulfreund, der bei der Zwiesprache mit Gott das gesamte Ritual absolvierte – Gebetsschal, Gebetsriemen und alles – sah ich mit einer unbeteiligten Neugier zu. Außerdem, wenn unsere Familie diese Dinge praktiziert hätte, dann wäre eine Unterrichtsstunde in der Woche weder notwendig noch ausreichend gewesen, sie zu erlernen.

Obwohl in keiner Weise gläubig, wußten wir, daß wir Juden waren und gar nichts anderes sein konnten. Schließlich gab es in Wien 200.000 von uns, zehn Prozent der Einwohner der Stadt. Die meisten Wiener Juden trugen assimilierte Vornamen, doch im Unterschied zu den Juden in der angelsächsischen Welt änderten sie ihre Nachnamen nur selten, und wenn sie noch so erkennbar jüdisch waren. Während meiner Kindheit war keiner von denen, die ich kannte, konvertiert. In der Regel war unter den Habsburgern wie unter den Hohenzollern die Aufgabe einer bestimmten Form der religiösen Andacht zugunsten einer anderen ein Preis, der von sehr erfolgreichen jüdischen Familien bereitwillig für eine soziale oder amtliche Stellung bezahlt wurde, doch nach dem Zusammenbruch der Gesellschaft verschwanden die Vorteile einer Konversion selbst für solche Familien, und die Grüns hatten nie nach Höherem gestrebt. Ebensowenig konnten Wiener Juden sich einfach als Deutsche betrachten, die eine eigene Form hatten, Gott zu ehren (oder auch nicht). Sie konnten nicht einmal davon träumen, ihrem Schicksal zu entrinnen, eine ethnische Gruppe unter vielen zu sein. Niemand gab ihnen die Möglichkeit, »der Nation« anzugehören, denn es gab sie überhaupt nicht. In der österreichischen Hälfte der Herrschaftsgebiete Kaiser Franz Josephs gab es im Unterschied zur ungarischen Hälfte kein einzelnes »Land« mit einem einzelnen »Volk«, das theoretisch mit ihm gleichgesetzt wurde. Unter diesen Umständen war das »Deutschsein« für Juden kein politisches oder nationales, sondern ein kulturelles Projekt. Es bedeutete, die Rückständigkeit und Isolation des Schtetls und der »Schul« hinter sich zu lassen und sich der modernen Welt anzuschließen. Die Stadtväter von Brody in Galizien, deren Einwohner zu 80 Prozent aus Juden bestanden, hatten dem Kaiser vor langer Zeit eine Petition überreicht, in der sie darum baten, Deutsch zur Unterrichtssprache zu machen, nicht weil die emanzipierten Bürger von Brody wie die biertrinkenden echten Deutschen sein, sondern weil sie nicht wie die Chassidim sein wollten mit ihren erblichen Wunderrabbis oder den Jeschiwe-Bocherim, die den Talmud auf jiddisch auslegten. Und das war der Grund, warum bürgerliche Wiener Juden, deren Eltern oder Großeltern aus dem polnischen, tschechischen und ungarischen Hinterland ausgewandert waren, sich so entschieden von den Ostjuden abgrenzten.

Es ist kein Zufall, daß der moderne Zionismus von einem Wiener Journalisten erfunden wurde. Alle Wiener Juden wußten, spätestens seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, daß sie in einer Welt von Antisemiten, ja eines potentiell gefährlichen Straßenantisemitismus lebten. »Gottlob kein Jud« ist die spontane Reaktion eines (jüdischen) Passanten auf die Meldung der Zeitungsverkäufer auf dem Wiener Ringstraßenkorso von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in der 1. Szene des Vorspiels zu den Letzten Tagen der Menschheit. In den zwanziger Jahren bestand sogar noch weniger Grund zum Optimismus. Die meisten hegten keinen Zweifel, daß die regierende Christlichsoziale Partei ebenso antisemitisch geblieben war wie ihr Gründer, Wiens gefeierter Bürgermeister Karl Lueger. Und ich erinnere mich noch an den Schock, als meine Eltern – ich war kaum dreizehn Jahre alt – die Nachricht von den deutschen Reichstagswahlen 1930 erhielten, aus denen Hitlers NSDAP als zweitstärkste Partei hervorgegangen war. Sie wußten, was das bedeutete. Kurzum, es gab einfach keine Möglichkeit zu vergessen, daß man Jude war, auch wenn ich mich an keinen mir persönlich geltenden Antisemitismus erinnern kann, da mir meine englische Staatsbürgerschaft zumindest in der Schule eine Identität verlieh, die alle Aufmerksamkeit von meinem Judentum abzog. Die englische Staatsbürgerschaft immunisierte mich wahrscheinlich und zum Glück auch gegen die Verlockungen eines jüdischen Nationalismus, wenngleich der Zionismus unter der mitteleuropäischen Jugend im allgemeinen mit gemäßigten oder revolutionären sozialistischen Auffassungen Hand in Hand ging, ausgenommen bei den Schülern Jabotinskys, die sich für Mussolini begeisterten und jetzt Israel als Likud-Partei regieren. Selbstverständlich hatte der Zionismus in der Stadt Herzls eine größere Ausstrahlung als unter den einheimischen Juden etwa in Deutschland, wo er vor Hitler nur eine untypische Randgruppe anzog. Es war unmöglich, die Existenz von Antisemiten oder des blau-weißen Fußballvereins Hakoah zu übersehen, der meinen Vater und Onkel Sidney in schwere Loyalitätskonflikte stürzte, als er gegen die britische Gastmannschaft der Bolton Wanderers spielte. Doch die große Mehrheit emanzipierter oder bürgerlicher Wiener Juden vor Hitler war nicht zionistisch und sollte dies auch nie werden.

Wir hatten keine Ahnung, welche Gefahren den Juden drohten. Niemand hätte etwas ahnen können. Selbst in den rückständigen und regelmäßig von Pogromen heimgesuchten Regionen der europäischen Karpaten und der polnisch-ukrainischen Ebenen, von wo die Einwanderer der ersten Generation nach Wien kamen, war ein systematischer Völkermord unvorstellbar. Wenn ernsthafte Probleme auftraten, sprachen sich die Alten und Erfahrenen dafür aus, sich möglichst unauffällig zu verhalten, jeder Konfrontation aus dem Weg zu gehen und sich auf die Seite jener staatlichen Institutionen zu stellen, die in der Lage waren, sie zu schützen, und die auch ein gewisses Interesse daran hatten oder zumindest ein Interesse, in ihrem Machtbereich ein Mindestmaß an Recht und Ordnung wiederherzustellen. Die Jungen und Revolutionären forderten zu Widerstand und aktiver Selbstverteidigung auf. Die Alten wußten, daß sich die Dinge früher oder später wieder beruhigen würden; die Jungen mochten von einem totalen Sieg träumen (zum Beispiel von einer Weltrevolution), aber wie hätten sie auf die Idee einer totalen Vernichtung kommen sollen? Weder die einen noch die anderen rechneten wirklich damit, daß ein modernes Land sich all seiner Juden entledigen würde, etwas, das es zuletzt 1492 in Spanien und seitdem nicht mehr gegeben hatte. Und noch viel weniger konnte man sich ihre physische Ausrottung vorstellen. Außerdem waren die Zionisten die einzigen, die den systematischen Auszug aller Juden in einen monoethnischen Nationalstaat im Auge hatten, so daß sie in der Terminologie der Nazis eine »judenreine« Heimat zurückgelassen hätten. Wenn die Leute vor Hitler oder in den ersten Jahren seiner Herrschaft über die Gefahren des Antisemitismus redeten, dachten sie an eine Verschärfung dessen, worunter die Juden schon immer gelitten hatten: Diskriminierung, Unrecht, Verfolgung, Einschüchterung bis hin zu Mißhandlung der Minderheit der unterlegenen Schwachen durch die selbstbewußten, verächtlichen Starken. Es bedeutete nicht Auschwitz und konnte es auch noch nicht bedeuten. Das Wort »Genozid« wurde erst 1943 geprägt.

Was konnte das »Jüdischsein« in den zwanziger Jahren für einen intelligenten Wiener Jungen mit englischem Paß bedeuten, der unter keinem Antisemitismus zu leiden hatte und dem die religiösen Praktiken und Überzeugungen des traditionellen Judentums so fremd waren, daß ihm bis zum Ende der Pubertät überhaupt noch nicht aufgefallen war, daß er beschnitten war? Vielleicht nur dies: daß ich mir irgendwann um das zehnte Lebensjahr einen einfachen Grundsatz meiner Mutter einprägte, als ich, aus einem längst vergessenen Anlaß, eine abfällige Bemerkung über das »typisch jüdische« Verhalten meines Onkels machte oder auch nur wiedergab. Darauf sagte mir meine Mutter sehr eindringlich: »Du darfst nie etwas tun, das den Eindruck erwecken könnte, daß du dich schämst, ein Jude zu sein.«

Ich habe mich seitdem bemüht, mich daran zu halten, obwohl die damit verbundene Anspannung manchmal fast unerträglich ist, wenn man an das Verhalten der israelischen Regierung denkt. Der Grundsatz meiner Mutter war für mich ausreichend, um später – wenn auch mit Bedauern – darauf zu verzichten, mich als »konfessionslos« zu bezeichnen, wozu man in Österreich ab dem dreizehnten Lebensjahr berechtigt war; er legte mir die lebenslange Last eines unaussprechlichen Nachnamens auf, der spontan danach zu verlangen scheint, zu dem bequemeren Hobson oder Osborn verschliffen zu werden; und er definierte mein Judentum vollständig und ließ mir die Freiheit, als ein »nichtjüdischer Jude« zu leben, wie mein verstorbener Freund Isaac Deutscher es genannt hat, nicht jedoch in dem, was eine bunte Schar religiöser und nationalistischer Publizisten als den »jüdischen Selbsthaß« bezeichnet hat. Ich habe keine emotionale Verpflichtung gegenüber den religiösen Praktiken meiner Vorfahren und noch weniger gegenüber dem kleinen, militaristischen, kulturell enttäuschenden und politisch aggressiven Nationalstaat, der aus rassischen Gründen meine Solidarität fordert. Ich muß mich nicht einmal in die – an der Wende zum neuen Jahrhundert besonders modische – Pose »des Opfers« begeben, des Juden, der kraft der Shoah (und in der Ära einzigartiger und beispielloser weltweiter jüdischer Errungenschaften, Erfolge und öffentlicher Anerkennungen) als Opfer von Verfolgungen einzigartige Ansprüche an das Gewissen der Welt haben kann. Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit tragen keine ethnischen Abzeichen noch schwenken sie Nationalfahnen. Und als Historiker stelle ich fest: Wenn es überhaupt eine Rechtfertigung für den Anspruch gibt, daß die 0,25 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 2000, die den Stamm bilden, in den ich hineingeboren wurde, ein »auserwähltes« oder besonderes Volk seien, so ist diese nicht daraus abzuleiten, was es innerhalb der Ghettos oder auf bestimmten selbstgewählten oder von anderen aufgezwungenen Territorien in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft getan hat, tut oder noch tun wird. Abzuleiten ist sie nur aus seinem höchst disproportionalen und bemerkenswerten Beitrag zur Geschichte der Menschheit auf der ganzen Welt, hauptsächlich seit den Juden vor rund zwei Jahrhunderten erlaubt wurde, die Ghettos zu verlassen, und sie dies auch getan haben. Wir sind, um den Titel des Buchs meines Freundes Richard Marienstras zu zitieren – polnischer Jude, französischer Widerstandskämpfer, Bewahrer der jiddischen Kultur und der führende Shakespeare-Experte seines Landes –, »un peuple en diaspora«. Das werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach auch bleiben. Und wenn wir das Gedankenexperiment machen, uns vorzustellen, Herzls Traum würde sich erfüllen und alle Juden lebten schließlich in einem kleinen, unabhängigen Territorialstaat, der all jenen die vollen staatsbürgerlichen Rechte verweigerte, die nicht von jüdischen Müttern geboren wurden, so wäre dies ein schwarzer Tag für den Rest der Menschheit – und für die Juden selbst.

Gefährliche Zeiten

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