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3 Schwere Zeiten

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Am Freitag, dem 8. Februar 1929, kam mein Vater spätabends zurück von einem seiner immer verzweifelteren Gänge in die Stadt, um etwas Geld zu verdienen oder zu leihen, und brach vor der Eingangstür zu unserem Haus zusammen. Meine Mutter hörte sein Stöhnen durch die Fenster im ersten Stock, und als sie einen Flügel öffnete und die eiskalte Luft dieses ungewöhnlich strengen Winters hereinzog, hörte sie, wie er nach ihr rief. Innerhalb weniger Minuten war er tot, wahrscheinlich war es ein Herzanfall. Er war achtundvierzig Jahre alt. Sein Tod wurde auch zum Todesurteil für meine Mutter. Wie konnte sie sich ihr Verhalten ihm gegenüber in den vergangenen furchtbaren Monaten, ja den vergangenen Tagen, verzeihen, die nun zu den letzten seines Lebens geworden waren?

»Was ich erlebt habe, hat mich innerlich einfach gebrochen«, schrieb sie an ihre Schwester im ersten Brief nach seinem Tod.

»Ich kann auch noch nicht darüber schreiben. Du kannst Dir wohl denken, wie jedes böse Wort und jeder böse Gedanke von einmal sich jetzt in mir um und umdrehen wie Messer. Das: Nie wieder, Gretl! Was täte ich jetzt alles – und was hätte ich getan, wenn ich geahnt hätte … Wenn er nur wenigstens einen Tag krank gelegen wäre, daß ich ihn hätte pflegen und ein Mal wirklich wieder lieb zu ihm sein können … So aber habe ich doch noch zu ihm können, und er ist nicht ganz allein gestorben.«

Es war kein Trost für sie.

Binnen zweieinhalb Jahren starb auch sie, im Alter von sechsunddreißig Jahren. Ich bin immer davon ausgegangen, daß die vielen selbstquälerischen Besuche am Grab, die sie sich in den harten Wintermonaten nach seinem Tod auferlegte und bei denen sie viel zu dünn angezogen war, zu dem Lungenleiden beigetragen haben, das sie schließlich umbrachte.

Es ist nicht überraschend, daß ihre Selbstbeherrschung in diesen entsetzlichen Monaten übermäßig strapaziert wurde und versagte – weit weniger überraschend als die Tatsache, daß es ihr mit geradezu übermenschlicher Anstrengung gelang, die Lage vor ihren Kindern zu verbergen. Die Zeiten waren von Anfang an nicht gut gewesen, als das junge Paar aus Ägypten mit einer bescheidenen Reserve aus harten und stabilen Pfund Sterling in einem Österreich angekommen war, das kurz vor einer Hyperinflation stand. Ich habe keine Ahnung, wie mein Vater erwarten oder hoffen konnte, seinen Lebensunterhalt in einem Land zu verdienen, dessen Sprache er nie gut zu sprechen gelernt hatte. Ich habe nicht einmal eine Ahnung, womit er sein Geld verdient hatte, bevor er nach Ägypten ging, wo ein vorzeigbarer, redegewandter, intelligenter, aber nicht allzu intellektueller Mann in den Zwanzigern mit einer ziemlich beeindruckenden Bilanz als Sportler keine Probleme gehabt haben dürfte, als einer aus der großen Kolonie britischer Staatsbürger eine Anstellung in einem Fracht- oder Handelsbüro zu bekommen. Vielleicht erwartete er, in Wien als Engländer eine ähnliche Unterstützung zu finden, obwohl die englische Kolonie hier sehr klein war (auch wenn aus ihr mehrere Wiener Fußballmannschaften hervorgegangen waren). Alles was ich sicher weiß ist, daß er sich Briefpapier mit folgendem Briefkopf hatte drucken lassen: »L. Percy Hobsbaum, Vienna. Tel. Ad. ›Hobby‹. Tel. Nr...« Wie meine Mutter ihre Schwester wissen ließ, hatte sie 1920 für kurze Zeit verschiedene Haushaltshilfen: eine Köchin und ein Stubenmädchen (die innerhalb kürzester Zeit wieder verschwanden).

Von da an ging es nur noch bergab. Von der Seutter-Villa zogen wir in eine deutlich bescheidenere Wohnung in einem benachbarten Stadtteil, Ober-St. Veit. Ab Mitte der zwanziger Jahre lebte die Familie anscheinend nur noch von der Hand in den Mund und wußte kaum, woher sie das Geld für die täglichen Ausgaben nehmen sollte. Das war, wie ich vermute, der Grund, warum meine Mutter den ernsthaften Versuch unternahm, mit dem Schreiben Geld zu verdienen, wobei sie immer länger und intensiver arbeitete. Doch was ihr literarisches Werk auch zum Familieneinkommen beitragen mochte, im Lauf des Jahres 1928 wurde die Situation zunehmend katastrophal. Ende 1928 hatte der Hauseigentümer uns gekündigt. Wir mußten verhandeln, daß uns das Gas nicht abgestellt wurde. Zwei Tage vor Weihnachten schrieb meine Mutter an ihre Schwester: »Heute ist Freitag und ich habe noch kein einziges Geschenk gekauft – wenn Percy morgen kein Geld bringt, weiß ich nicht, was ich machen werde.«

Das neue Jahr hatte keine Atempause gebracht. Drei Tage vor dem Tod meines Vaters beklagte sie sich gegenüber ihrer Schwester, die Dinge gingen von Tag zu Tag schlechter, die Miete und die Telefonrechnung seien nicht bezahlt, »ich habe gewöhnlich nicht einen Schilling im Hause«, und sie hatte noch immer keine Idee, von was die Familie leben sollte, wenn der Tag der Kündigung gekommen war. So lagen die Dinge, als mein Vater sich zum letzten Mal auf den Weg machte. Und jetzt war er tot. Er wurde einige Tage später im jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs beerdigt. Alles, woran ich mich im Zusammenhang mit seinem Tod erinnern kann, waren ein dunkler Abend, an dem meine Schwester und ich noch halb im Schlaf aus unserem Zimmer in das Schlafzimmer unserer Eltern verlegt wurden, wo man uns in unbestimmten Ausdrücken sagte, es sei etwas Schreckliches passiert, und der eisige Wind, der am offenen Grab über uns hinwegfegte.

Vielleicht ist dies der Augenblick für einen Sohn, sich der schwierigen Aufgabe zu stellen, etwas über seinen Vater zu schreiben.

Die Aufgabe ist deshalb so außerordentlich schwierig, weil ich so gut wie keine Erinnerung an ihn habe, das heißt, ich habe offenbar beschlossen, das meiste von dem, an das ich mich hätte erinnern können, zu vergessen. Ich weiß, wie er aussah, ein mittelgroßer, kräftiger Mann mit einem randlosen Kneifer, schwarzem, in der Mitte gescheiteltem Haar und einer quergefurchten Stirn, doch selbst dieser Eindruck mag sich mehr der Kamera als meinem Gedächtnis verdanken. In meinem inneren Familienfotoalbum aus der Kindheit ist er auf nicht mehr als vielleicht einem halben Dutzend Bildern vertreten, die wohl alle aus der Zeit in Ober-St. Veit stammen: Daddy in einem Tweedanzug – ungewöhnlich in Wien; Daddy, der mich zu einem Amateurfußballspiel mitnimmt; ich als sein Balljunge beim gemischten Tennisdoppel irgendwo an der Straße zwischen unserem Haus und dem Lainzer Tiergarten, dem alten kaiserlichen Jagdrevier. Daddy, der englische Varietélieder singt; eine kurze, aber strahlende Erinnerung an eine Wanderung mit Daddy in die umliegenden Hügel. Dann folgen ein oder zwei weniger angenehme Bilder: Daddy, der – anscheinend erfolglos – versucht, mir das Boxen beizubringen (er bestand nicht weiter darauf); und ein wesentlich deutlicheres Bild: Daddy, in rasender Wut im Garten der Einsiedeleigasse. Ich muß damals etwa neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. Er hatte mich gebeten, ihm einen Hammer zu bringen, um einen Nagel einzuschlagen; möglicherweise hatte sich irgend etwas am Liegestuhl gelockert. Ich beschäftigte mich damals leidenschaftlich mit Vorgeschichte, vielleicht weil ich zu der Zeit den ersten Band der Höhlenkinder-Trilogie von Sonnleitner las, Die Höhlenkinder im heimlichen Grund, ein Roman, in dem zwei Waisen, ein Junge und ein Mädchen, allein in einem unzugänglichen Alpental aufwachsen, um noch einmal die Stadien der menschlichen Vorgeschichte zu durchleben, von der Steinzeit bis zu einer Zeit, die erkennbar an das bäuerliche Leben in Österreich erinnert. Da sich die Waisenkinder gerade in der Steinzeit befanden, hatte ich einen Steinzeithammer angefertigt, dessen Kopf sorgfältig und kunstgerecht mit dem Stiel verschnürt war. Den brachte ich ihm und war verblüfft über seine wütende Reaktion. Man hat mir später gesagt, daß er mir gegenüber häufig so aufbrausend war, doch wenn das stimmt, was wahrscheinlich ist, dann habe ich es aus meinem Gedächtnis gestrichen. Ich habe nur ein einziges Bild von ihm bei der Arbeit. Eines Tages brachte er eine Apparatur mit nach Hause, die er (wie so oft) erfolglos an den Mann zu bringen versuchte, ein Ladenschild, bei dem ein erleuchtetes Wort – vielleicht der Name eines Produkts oder eines Händlers – von einem im rechten Winkel angebrachten Spiegel reflektiert wurde und in diesem von der Straße zu sehen war. Vielleicht wollte er seine Verkäuflichkeit mit einem Besucher erörtern, wobei es sich mit größer Wahrscheinlichkeit um seinen Bruder handeln mußte, denn soweit er in Wien Freunde hatte, kann ich mich nicht an sie erinnern.

Auch die Erinnerung anderer bringt ihn mir nicht ins Gedächtnis zurück. Es gab Anekdoten über seine Jugend in London und in Ägypten, in denen meist auch seine physische Stärke und seine Attraktivität für Frauen eine Rolle spielten (obwohl ich nie auch nur die leiseste Andeutung gehört habe, daß er seiner Frau untreu gewesen wäre). Jede jüdische Familie im Londoner East End brauchte mindestens einen Bruder, der, wie sie sagten, »seine Fäuste zu gebrauchen wußte« und den Iren des Viertels die Stirn bieten konnte. In der Familie der Hobsbaums fiel diese Rolle meinem Vater zu, und da der Boxring für arme junge East Enders eine akzeptable Möglichkeit war – auch für junge Juden mit starken Muskeln und guten Reflexen –, wurde er ein mehr als passabler Boxer. Er blieb Amateur, doch die sichtbaren Zeichen seines Erfolgs waren die beiden Pokale, die er 1907 und 1908 oder um diese Zeit in Ägypten als Gewinner der Meisterschaft im Leichtgewicht errungen hatte, vermutlich gegen Konkurrenten aus den britischen Besatzungsstreitkräften. Sie standen auf einem Regal in unserer Wohnung – nicht wie in England auf dem Kaminsims, weil es die in Österreich nicht gab –, und meine Schwester, die sich liebevoll an ihn erinnerte, obwohl sie bei seinem Tod erst acht Jahre alt war, stellte sie später in ihrem Haus auf. Wie es heißt, rettete er einmal seinem Bruder Ernst das Leben, als dieser beim Schwimmen in Schwierigkeiten geriet. Der Roman meiner Mutter, dessen Protagonistin eine junge Frau in Ägypten vor 1914 ist, enthält das Porträt eines athletischen Multitalents in Aktion, für den er höchstwahrscheinlich Modell gestanden hat.

Doch in den Anekdoten oder Witzen der Familie in den Wiener Jahren tritt er nicht in Erscheinung. Offenbar kam er nicht gut mit seinen Schwiegereltern aus, zumindest nicht mit Großmutter Grün. Außerdem steht nicht einmal in den sehr ausführlichen Briefen meiner Mutter an ihre Schwester viel über ihn – wesentlich weniger als über Onkel Sidney, ihren Schwager. Nichts über seine Pläne, seine Aktivitäten, seine Fehlschläge. Nichts über das, was sie gemeinsam unternahmen oder wohin sie gemeinsam gingen. Nach dem Tod unserer Eltern wurde im Haus von Onkel Sidney und Tante Gretl über ihn oder genauer gesagt über seine Wiener Jahre kaum mehr gesprochen. Es schien, als wäre er völlig aus dem Blickfeld verschwunden.

Tatsächlich waren die Jahre in Wien für ihn eine Katastrophe. In den Worten meiner Mutter: »Soviel Plage und Jammer und Enttäuschung, um so zu enden?« Mit einem regelmäßigen Gehalt für eine regelmäßige, nicht allzu anspruchsvolle Tätigkeit wäre er glücklich und zufrieden gewesen, ein charmanter Kamerad, ein Gewinn für jede Umgebung, die Sport, ein wenig Musik und Spaß zu schätzen wußte. Diese Dinge standen Männern ohne finanzielle Mittel oder berufliche Qualifikationen in den formellen oder informellen Vorposten des britischen Empires, aber nicht im Wien der Nachkriegszeit zur Verfügung. Vielleicht hätte er in der fernen, unwiederbringlichen Welt vor 1914 in dem damals noch prosperierenden Netz der großväterlichen Familien oder mit deren Hilfe eine Stelle finden können. Schließlich mußte man für den Ehemann der Tochter etwas tun, selbst wenn er ein rechter Schlemihl war. In den zwanziger Jahren war das nicht mehr möglich. Er war auf sich allein gestellt. Es gibt nur wenige Menschen in meinem Bekanntenkreis, die so ungeeignet waren, ihren Lebensunterhalt in einer unbarmherzigen Welt zu verdienen, wie mein Vater. Am Ende kann ihm nicht mehr viel Selbstvertrauen geblieben sein, und sei es auch nur, weil niemand mehr an ihn glaubte. Nach seinem Tod fand seine Frau vorübergehend Trost in dem Gedanken, »es wäre in nächster Zeit nicht besser geworden, nur schlechter! Das ist ihm erspart geblieben.«

Er hinterließ nicht viel außer seinen Siegerpokalen, seiner Dauerkarte mit Foto für die Wiener Verkehrsbetriebe und eine beträchtliche Sammlung von englischen Büchern, überwiegend die vom deutschen Tauchnitz Verlag ausschließlich für den Vertrieb außerhalb Englands produzierten Taschenbücher, die er demnach, wie ich annehme, in Ägypten gekauft hatte. Ich kann mich nicht erinnern, daß in Wien neue Tauchnitz-Taschenbücher ins Haus gekommen wären, aber vielleicht lag das daran, daß dafür kein Geld da war. Wie ich mich erinnere, waren es überwiegend spätviktorianische und edwardianische Titel, eine Menge Geschichten von Kipling (aber nicht Kim), die ich begierig verschlungen habe, ohne sie allerdings zu verstehen, einige unbedeutendere Autoren vor 1918 und Bücher über Reisen und Abenteuer, unter denen ich mich an ein inzwischen vergessenes Epos über den Walfang in alter Zeit, The Cruise of the Cachalot, erinnere. Es gab auch einige Bücher mit festem Einband, darunter Mr Britling Sees It Through von H.G. Wells. Ich habe nie hineingeschaut. Und es gab einen dicken gebundenen Band mit den Gedichten Tennysons, der wie ein Geschenk oder ein Schulpreis aussah. Was mein Vater mir gab, kam durch diese Bücher, die vermutlich er (zusammen mit meiner Mutter oder allein) ausgesucht oder für deren Aufbewahrung er sich entschieden hatte. Hat er selbst mir »The Revenge« vorgelesen (»In Flores on the Azores Sir Richard Grenville lay«), neben »The Charge of the Light Brigade«, »Sunset and Evening Star« und natürlich »The Lady of Shalott« das einzige Gedicht, das ich bis zu jenem Tennyson-Band zurückverfolgen kann? Wenn ja, dann stellt dies den einzigen geistigen Kontakt mit ihm dar, an den ich mich erinnern kann.

Ich besitze jedoch noch immer eines der wenigen erhaltenen Dokumente seines Lebens. Es ist eine Eintragung aus dem Jahr 1921 in eines der Bekenntnisalben seiner Schwägerin, jene Antworten über sich selbst zu einem jener vorgegebenen Fragenkataloge, wie sie damals zumindest in Mitteleuropa noch sehr beliebt waren. Ich gebe hier die Fragen und Antworten wieder. Sie mögen als sein Epitaph dienen.

Lieblingseigenschaft bei Männern: Körperkraft.

Lieblingseigenschaft bei Frauen: Tugend.

Ihre Vorstellung vom Glück: Alle Bedürfnisse befriedigt zu haben.

Worin sind Sie am besten und wo am schlechtesten: Verpassen von Gelegenheiten. Ergreifen von Gelegenheiten.

Ihre Lieblingswissenschaft: Keine.

Welche Richtung in der Kunst mögen Sie: Die Moderne.

Welches soziale Leben ist Ihnen das liebste? Meine Familie.

Was verabscheuen Sie am meisten: Die moderne Gesellschaft.

Lieblingsschriftsteller/-komponist: –

Lieblingsbuch und -musikinstrument: Klavier.

Lieblingsheld in der Literatur oder Geschichte: Earl of Warwick.

Lieblingsfarbe und -blume: Rose.

Lieblingsessen und -getränk: –

Lieblingsname: –

Lieblingssport: Boxen.

Lieblingsspiel: Bridge.

Wie leben Sie: Ruhig.

Ihr Naturell und Ihre Haupteigenschaft: Unechter Idealist. Hang zum Träumen.

Motto: Genug für den Tag und vielleicht noch ein bißchen darüber hinaus.

Nicht einmal diese bescheidene Ambition hat er verwirklicht.

Der Tod meines Vaters ließ die Familie vorübergehend völlig mittellos. Anscheinend gab es keine nennenswerte Versicherung. Als ich einige Tage später neues Schuhwerk benötigte, da meine bisherigen Schuhe gegen die Eiseskälte dieses furchtbaren Winters keinen Schutz mehr boten – ich erinnere mich, daß ich vor Schmerzen auf der Ringstraße weinte –, mußte meine Mutter bei einer jüdischen Wohlfahrtsorganisation neue besorgen. Die Familienangehörigen bemühten sich nach Kräften, uns zu helfen, aber sie konnten kein Geld erübrigen. Außerdem waren das einzige, was meine Mutter als Geschenk annehmen wollte, sowieso nur die zehn Pfund, die Onkel Harry aus London schickte. Das war eine keineswegs kleine Summe. Zusammen mit dem, was vom Vorschuß eines Verlegers noch übrig war, und dem Honorar für ein paar Buchbesprechungen würde es ihrer Meinung nach für die beiden nächsten Monate reichen.

Trotz der berechtigten Befürchtungen meiner Mutter mußten wir in die Wohnung der Großeltern ziehen. Woanders konnten wir nicht hin. Wir drei schliefen in dem kleinen Nebenzimmer der Dreizimmerwohnung, und meine Mutter mußte darangehen, unseren Lebensunterhalt zu verdienen. In der Zwischenzeit bewahrten einige ihrer bessergestellten Freunde sie vor dem Verlust ihrer Selbstachtung, indem sie ihre Unterstützung als Gegenleistung für Englischstunden kaschierten. (Ich bin ziemlich sicher, daß das erste Geld, das ich überhaupt verdient habe – für Nachhilfestunden, die ich der Tochter einer ihrer besten Freundinnen während dieser Monate zur Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung des Gymnasiums gegeben habe –, eine taktvolle Methode war, ihr die Ausgaben für mein Taschengeld zu ersparen.) Ich erinnere mich an mindestens eine echte zahlende Schülerin, die zu unserem Einkommen beitrug, ein Fräulein Papazian, die Tochter eines armenischen Geschäftsmanns.

Glücklicherweise hatte meine Mutter bereits ihre Verlagsverbindungen aufgebaut. Seit 1924 hatte sie mit dem Rikola Verlag (später Speidelsche Verlagsbuchhandlung) zu tun, einem kleinen Wiener Verlagshaus, das bereits ihren ersten und einzigen Roman verlegt hatte. Der Verleger, ein Herr Scheuermann, tat, was in seinen Kräften stand, um zu helfen. Jedenfalls schätzte er sie als Übersetzerin. Sie hatte bereits einen Roman eines heute vergessenen Autors skandinavischer Abstammung aus dem mittleren Westen der USA übersetzt, und Scheuermann gab ihr einen Vertrag für einen weiteren Roman und bot ihr an, ihre Beziehungen zu seinem Verlag auf eine dauerhaftere Grundlage zu stellen. Ich sehe ihn undeutlich vor mir: ein großgewachsener, vornübergebeugter Mann. Sie hatte auch einige Kurzgeschichten an Zeitschriften in England und in Deutschland verkauft, ihre eigenen oder übersetzte englische Short stories. Sie brachten etwas ein, aber natürlich nicht so viel, daß man davon hätte leben können. (Nach ihrem Tod unternahm meine Tante Mimi während eines ihrer vielen finanziellen Engpässe nochmals den Versuch, das Material meiner Mutter zu Geld zu machen.)

Schließlich mußte sie eine Stelle in der Firma Alexander Rosenberg, Wien und Budapest, annehmen, eine Vertretung britischer Textilhersteller; vermutlich hatte sie diese ihren Englischkenntnissen zu verdanken. Sie genoß die Arbeit in einem Büro nach der jahrelangen Plackerei zu Hause – sie kam gut mit Menschen zurecht –, und außerdem gab sie ihr Gelegenheit, der ständigen nervlichen Belastung zu entrinnen, die es für sie bedeutete, in enger Nachbarschaft mit ihrer Mutter in einer überbelegten Wohnung zu leben. Bis dahin konnte sie immer nur gelegentlich für eine Stunde ins Café gehen, wenn sie einfach einmal allein sein wollte. Ich kann mich noch erinnern, daß ich ins Büro mitgenommen und ihren Kollegen vorgezeigt wurde.

Eines Tages, Ende 1929, begann sie Blut zu spucken. Anfang April führten die Ärzte einen künstlichen Kollaps des einen Lungenflügels herbei. Während der letzten anderthalb Jahre ihres Lebens siechte sie in einer Reihe von Krankenhäusern und Sanatorien dahin. Welcher Art ihr Lungenleiden eigentlich genau war, blieb offen, denn soviel ich weiß, entsprachen die diagnostizierten Symptome nicht ganz denen einer Tuberkulose, die damals ebenso verbreitet wie potentiell tödlich war. Was immer es war, die Ärzte konnten nicht viel tun, den Prozeß zu verlangsamen. Wie die Dinge lagen, hatte sie durch ihre feste Anstellung Beiträge an die Sozialversicherung des »Roten Wien« abgeführt, dessen Vorteile ihr nun zugute kamen. Man kann sich kaum vorstellen, wie ihre ärztliche Versorgung sonst hätte bezahlt werden sollen.

Ihre Krankheit veränderte unsere Situation. Von nun an war es ihr nicht mehr möglich, sich um ihren zwölfjährigen Sohn und ihre neunjährige Tochter zu kümmern. Zum Glück für beide Kinder war es Onkel Sidney im Frühjahr 1929 schließlich gelungen, eine gutbezahlte Stelle zu finden – zumindest nach den bescheidenen Maßstäben der Familien Hobsbaum und Grün in den zwanziger Jahren. Es war ein unsicherer Job mit unklarer Aufgabenstellung, jedoch mit viel Handlungsfreiheit bei der Universal Filmgesellschaft in Berlin. Sie befriedigte nicht nur seinen lebenslangen Ehrgeiz, mit der Welt der künstlerischen Schöpfung verbunden zu sein, sondern gab ihm und Tante Gretl auch die Mittel, für die halbverwaisten Kinder seines Bruders und ihrer Schwester zu sorgen. Demnach verdankten wir unseren weiteren Lebensweg Carl Laemmle, dem Gründer der Universal Pictures Company und dem Erfinder des Systems der Hollywoodstars. Jetzt wurden wir auseinandergerissen. Nancy kam sofort nach Berlin, während ich noch bis zum Tod meiner Mutter im Juli 1931 in Wien blieb.

Den Grund dafür kenne ich nicht. Vielleicht waren Onkel Sidney und Tante Gretl der Meinung, sie würden nicht von heute auf morgen mit zwei weiteren Kindern fertig oder mit dem Problem, innerhalb kürzester Zeit in Berlin eine geeignete Schule für einen Jungen zu finden, der sein drittes Jahr auf einem Wiener Gymnasium zur Hälfte durchlaufen hatte. Zwar trifft es zu, daß meine Mutter mir emotional stärker zuneigte als meiner Schwester, aber sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, daß sie unmöglich in der Lage sein werde, sich dauerhaft um zwei Kinder zu kümmern, und sie darum abgeben müsse. Jedenfalls hegte sie seit längerem die Vorstellung, daß ich nach Möglichkeit eines Tages nach England gehen und dort die Schule besuchen und meinen Weg als echter Engländer machen sollte. Die meisten mitteleuropäischen Juden aus dem Bürgertum neigten zu einer Idealisierung Englands, weil es so stabil, stark, langweilig und arm an Neurosen war, nicht zuletzt natürlich die Töchter der Familie Grün, die alle einen Engländer geheiratet hatten. Doch auch von der Heirat ganz abgesehen war meine Mutter ungewöhnlich leidenschaftlich anglophil. Wie sie ihrer Schwester schrieb, löste allein schon der Gedanke, daß der Brief, den sie für Herrn Rosenberg aufsetzte, nach Huddersfield ging, bei ihr sentimentale Gefühle für England aus. Sie war es, die darauf bestand, daß in unserer Familie nur englisch gesprochen würde, nicht nur mit unserem Vater, sondern auch mit ihr. Sie korrigierte mein Englisch und bemühte sich, meinen Wortschatz über die Grenzen der familiären Kommunikation hinaus zu erweitern. Sie träumte davon, daß ich eines Tages im indischen öffentlichen Dienst landen würde – oder, da ich mich offensichtlich so sehr für das Vogelleben interessierte, im indischen Forstdienst, was mich (und sie) der Welt des von ihr bewunderten Dschungelbuchs noch näher bringen würde.

Bis zu meines Vaters Tod waren dies Träume für eine entfernte Zukunft. Jetzt bot sich plötzlich eine Chance, mich nach England zu schicken, denn ihre Schwester Mimi erklärte sich bereit, mich in ihrer Pension aufzunehmen, die sie und ihr Mann gerade in Lancashire, am Rand von Southport eröffnet hatten, in der Nähe des Birkdale-Golfplatzes. Dorthin fuhr ich, nachdem ich mein Schuljahr 1928/29 beendet hatte. Es war mein erster Besuch in England und überhaupt die erste Reise, die ich allein unternahm. (Bei meiner Ankunft nahm Tante Mimi als erstes alles Geld an sich, das ich dabeihatte, denn wie so oft herrschte in ihrer Kasse gerade Ebbe.) Eine Zeitlang hoffte meine Mutter, ich könnte dort für immer bleiben, und trug mir auf herauszufinden, wann die Schule anfing und »ob Du viel lernen mußt, um den Rückstand zu den Jungen in Deinem Alter aufzuholen«. »Ich würde gern Deine Pläne für den Herbst erfahren – genauer gesagt Tante Mimis Pläne für Dich«, schrieb sie in einem anderen Brief. »Ich hoffe für Dich, daß Du dort bleiben kannst, und ich bin sicher, daß Du auch darauf hoffst.« Es läßt sich nicht mehr klären, wie ernst sie diese Möglichkeit nahm, und es gab ganz sicher keine konkreten Pläne. Jedenfalls bestand zu keiner Zeit mehr als der Hauch einer Chance, daß die ungebundene und chronisch in Geldnöten steckende Tante Mimi mit oder ohne ihren schönen, aber als Ernährer untauglichen Mann für mich eine dauerhafte Bleibe bieten könnte. Am Ende der Schulferien fuhr ich wieder zurück nach Wien.

Ob ich gern in England geblieben wäre oder was ich überhaupt von der Idee hielt, weiß ich heute nicht mehr. England zu besuchen, in London herumgeführt zu werden und Onkel Harry und Tante Bella und vor allem meinen um fünf Jahre älteren Cousin Ronnie kennenzulernen, war aufregend, auch wenn Southport für mich ein totaler Reinfall und das Leben unter den zahlenden Gästen in Wintersgarth sterbenslangweilig war. Neben der Erinnerung an endlose Straßen aus kleinen gelbgrauen Backsteinhäusern auf dem Weg in das Stadtinnere von London und der überraschenden Beobachtung, daß die Bevölkerung in Lancashire die englischen Vokale ganz anders aussprach als wir, brachte ich aus England zwei wesentliche Entdeckungen mit. Die erste waren die wöchentlich erscheinenden Zeitschriften, die von Jungen aus der Arbeiterschicht eifrig gelesen wurden – The Wizard, Adventure und andere solche Titel, ganz anders als der moralisierende Lesestoff, den englische Verwandte uns von Zeit zu Zeit nach Wien geschickt hatten. Ich las sie begierig und mit ungetrübtem Vergnügen, gab mein ganzes Taschengeld für sie aus und brachte eine regelrechte Sammlung von ihnen nach Wien zurück. (Sie kosteten nicht viel – 2 Pence das Stück, wenn ich mich recht erinnere.) Damals war mir das nicht bewußt, doch die Lektüre dieser enggedruckten grauen Spalten voller phantastischer Abenteuer und Träume machte mich zum ersten Mal zu einem echten Briten, da sie mich zumindest für einen Augenblick auf eine Wellenlänge mit den meisten englischen Jungen meiner Altersgruppe brachten.

Die zweite waren die Pfadfinder (Boy Scouts). Ich wurde zu einem Weltjamboree der Bewegung mitgenommen, das damals unweit von Southport stattfand, und kehrte als begeisterter Konvertit zurück, mit einem Exemplar von Baden-Powells Scouting for Boys und entschlossen, ihnen beizutreten. Das tat ich im folgenden Jahr in Wien, wo die Pfadfinder mit den sozialdemokratischen »Roten Falken« konkurrierten, die blaue Hemden trugen und von denen meine Mutter mich mit dem Argument abbrachte, sie verstünden sich zwar auf prächtige Lagerfeuer, aber ich sei noch zu jung, um mich dem Marxismus zu verschreiben, dem sie huldigten. So kam es, daß mein Eintritt in das öffentliche Leben im Alter von vierzehn Jahren nicht unter revolutionären Vorzeichen erfolgte, sondern bei einem Pfadfinderappell, an der in der Hauptsache jüdische Jungen aus Wien teilnahmen und die formell vom damaligen österreichischen Bundespräsidenten abgenommen wurde, einem durchschnittlichen und zweifellos antisemitischen katholischen Politiker namens Miklas.

Ich war ein zutiefst begeisterter Pfadfinder und warb sogar einige meiner Klassenkameraden an, obwohl ich keine besondere Begabung für das Zeltlager oder das Gruppenleben hatte. Unter den Pfadfindern fand ich auch meinen besten Freund, in den Tagen zwischen dem Tod meines Vaters und dem meiner Mutter. Wir hielten den Kontakt bis zu seinem Tod, denn er floh nach England, nachdem Hitler Österreich besetzt hatte, fand eine Stelle als Pförtner bei der afghanischen Botschaft in London und wurde schließlich medizinisch-technischer Assistent. (Mein Truppführer fand sich in Australien wieder.) Hätte es in Deutschland irgendwelche Pfadfinder gegeben, so wäre ich ihnen nach dem Tod meiner Mutter wahrscheinlich auch beigetreten, aber es gab keine, so wie es damals – auch wenn es unglaublich klingt – keine deutschen Fußballmannschaften gab, die international eine Rolle gespielt hätten. Soweit es ein Äquivalent zu den österreichischen Roten Falken gab, handelte es sich um die Jugendorganisation der weit weniger aufregenden und keineswegs revolutionären Sozialdemokratischen Partei. Der Marxismus war somit konkurrenzlos.

In den zwei Jahren nach meiner Rückkehr aus England führte ich ein merkwürdig provisorisches, halb unabhängiges Leben. Bei einer neurotischen und gebrechlichen Großmutter zu bleiben, nachdem meine Mutter ins Krankenhaus kam, stand gar nicht erst zur Debatte. Für einige Monate nahmen mich Großonkel Viktor Friedmann und Tante Elsa zu sich, die wenigstens noch ein Kind im Haus hatten, meine um einige Jahre ältere Cousine Herta. (Ihr Bruder Otto war bei Onkel Sidney und Tante Gretl in Berlin untergekommen, so daß hier eine gewisse Verpflichtung auf Gegenseitigkeit bestand.) Während des restlichen Schuljahrs pendelte ich täglich zwischen ihrer Wohnung im 7. Bezirk, der anderen Seite der Altstadt, zu meinem Gymnasium im 3.Bezirk, auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses, das (was ich damals nicht wußte) der Philosoph Ludwig Wittgenstein für sich hatte bauen lassen. Im Sommer 1930 fuhr ich mit Tante Gretl, Nancy und Peter in ein oberösterreichisches Alpendorf, Weyer an der Enns, um in der Nähe meiner Mutter zu sein, die dorthin in ein Sanatorium geschickt worden war. Wie alle Leser von Thomas Manns Der Zauberberg wissen, wurde Tb-Kranken Höhenluft verordnet. Aber sie tat ihr nicht gut.

Mein letztes Schuljahr in Wien verbrachte ich allein oder vielmehr als eine Art Au-pair-Junge. Jemand hatte eine Frau Effenberger kennengelernt, die Witwe eines Obersten und wie so viele gute Wienerinnen aus Südböhmen stammend – sie kam aus Pisek –, deren Sohn Bertl, um zwei oder drei Jahre jünger als ich, Nachhilfestunden in Englisch brauchte. Als Gegenleistung und möglicherweise für eine sehr bescheidene Zuwendung war sie bereit, sich um mich zu kümmern. Da sie in dem weiter außerhalb liegenden Vorort Währing wohnte, mußte ich noch einmal die Schule wechseln und trat in das Bundesgymnasium XVIII in der Klostergasse ein, mein drittes Gymnasium innerhalb von zwei Jahren. Zu diesem Zeitpunkt war meine Mutter wieder aus Weyer abgereist und in ein Krankenhaus unweit von Währing überwiesen worden. Dort besuchte ich sie jede Woche. Zwar hatten Onkel Sidney und Tante Gretl mich eingeladen, zusammen mit ihnen und meiner Schwester über Weihnachten nach Berlin zu fahren, doch die Besuche am Bett meiner Mutter waren der einzige regelmäßige Kontakt mit jemandem von der Familie. Und ich wiederum war alles, was von ihrem Lebenswerk und ihren Hoffnungen geblieben war und der einzige, der regelmäßig in ihre Nähe kam.

Irgendwann im Frühsommer 1931 wurde den Erwachsenen klar, daß das Ende nahe war. Tante Gretl mußte nach Wien kommen und blieb dort. Meine Mutter wurde in ein Gartensanatorium in Purkersdorf unmittelbar im Westen Wiens gebracht, wo ich sie zum letzten Mal sah, kurz bevor ich mit den Pfadfindern zum Zelten fuhr. Ich kann mich an diese Situation kaum noch erinnern, nur daß meine Mutter sehr abgemagert aussah und ich, da ich nicht wußte, was ich sagen oder tun sollte – es waren noch andere zugegen –, aus dem Fenster blickte und einen Kernbeißer sah, einen kleinen Vogel mit einem so kräftigen Schnabel, daß er damit einen Kirschkern aufbrechen kann. Ich hatte einen solchen Vogel bisher noch nie zu Gesicht bekommen und schon lange nach ihm Ausschau gehalten hatte. Somit verbindet sich meine letzte Erinnerung an meine Mutter nicht mit Schmerz, sondern mit ornithologischer Freude.

Sie starb am 12. Juli 1931. Ich wurde aus dem Lager geholt. Kurz nach der Leichenfeier wurde sie in der Sommerhitze im selben Grab wie mein Vater bestattet. Ich verließ Wien für immer und ging nach Berlin. Von nun an waren Nancy und ich wieder vereint, und Onkel Sidney, Tante Gretl und ihr Sohn Peter (damals gerade sechs Jahre alt) waren unsere Familie. Es sollte in diesem Jahrzehnt nicht der letzte Todesfall in der Familie sein.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle einige Anmerkungen zu meiner Mutter machen.

Sie war die kleinste der drei Töchter der Familie Grün, die intelligenteste und sicherlich die begabteste, wenn auch nicht was die Freude am Leben betraf. Weniger hübsch und spontan als ihre jüngere Schwester Gretl, die Familienschönheit, weniger rebellisch und abenteuerlustig als die ältere Mimi, war sie in vieler Hinsicht vielleicht die konventionellste der drei. Mit achtzehn Jahren mit Percy verlobt, früher als die beiden anderen verheiratet – und nach ihren Briefen zu urteilen als Jungfrau –, kehrte sie nach dem Krieg nach Wien zurück, eine verheiratete Frau mit einem Kind und kurz vor einer weiteren Geburt. Ihre Schwestern und viele ihrer Freundinnen hatten inzwischen jenen Katalysator der Veränderung und der Emanzipation, den Krieg und die Zeit des Zusammenbruchs und der Revolution an seinem Ende, unverheiratet und ungebunden durchlebt. Nicht daß ihr der ganze Krieg erspart geblieben wäre. Einige Monate lang, während sie darauf wartete, in die Schweiz zu fahren, um auf dem britischen Konsulat in Zürich zu heiraten, arbeitete sie als freiwillige Schwester in einem Lazarett. Dort lernte sie, daß Verwundete nur auf ganz glattgezogenen Bettüchern liegen können – später brachte sie mir die dazu nötige Technik des Bettenmachens bei –, und versuchte, zu einem sterbenden ruthenischen Soldaten eine Verbindung herzustellen – sie wählte einzelne Sätze aus einem Buch, das, wie sie herausfand, Übersetzungen der Märchen der Brüder Grimm enthielt, auf deren deutschen Text sie leicht zurückgreifen konnte. Doch während das Leben in der kolonialen Gesellschaft von Alexandria eine exotische, aber erkennbare Version des Lebens in Europa vor 1914 war, galt dies nicht für das Leben in Wien, wohin sie nach vierjähriger Abwesenheit zurückkehrte.

In mancher Hinsicht blieb sie konventionell im Sinne der bürgerlichen Schicht Wiens vor 1914. Wie bereits gesagt, fand sie es fast unvorstellbar, ohne Hausgehilfen zu leben, und entdeckte zu ihrer Verblüffung, daß in England Frauen aus bürgerlichen Kreisen beim Kochen und der Hausarbeit ohne sie auskamen und dennoch Ladys blieben. Sie hielt es für ausgemacht, daß eine verheiratete Frau ihre eigenen Interessen hinter denen des Ehemanns und der Kinder zurückstellen mußte, und war schockiert und irritiert durch ihre Schwester Mimi, die dies ablehnte. Nicht daß diese Einstellung sie zu einer erfolgreichen Mutter gemacht hätte; doch andererseits waren weder unsere Eltern noch deren Stellvertreter durch Talent oder Ausbildung dafür besonders geeignet. Jedenfalls waren meine Schwester und ich uns in diesem Urteil einig, als wir später Aufzeichnungen aus unserer Jugend miteinander verglichen. Keiner war besonders gut in der Elternrolle, und es gab auch keinen Grund, warum man dies von ihnen hätte erwarten sollen. Ihre Eltern waren es auch nicht. Meine Mutter stürzte sich nicht kopfüber in die neuen Gegebenheiten und Verhaltensmuster, auch wenn sie sich ihnen schließlich anpaßte. Erst 1924 oder 1925 ließ sie sich die Haare kurz schneiden und war enttäuscht, daß niemand davon Notiz zu nehmen schien.

Das Leben in Wien machte einer Frau wenig Konzessionen, die in ihrem Bekenntnisalbum erklärte, ihre Vorstellung von Glück sei »ins Kaminfeuer sehen und nichts zu wünschen haben«, und als ihr Lieblingsbuch Andersens Märchen nannte. Ich glaube nicht, daß sie eine tüchtige oder begeisterte Hausfrau oder eine tüchtige Hauswirtschafterin war, auch wenn sie anscheinend Spaß daran hatte, Kostüme selbst zu schneidern oder gar, bedingt durch das schmale Budget, alte Kleider oder solche, aus denen die Kinder herausgewachsen waren, immer wieder zu ändern. Es gab Zeiten, da verweigerte sie sich dem fortwährenden, nie enden wollenden Kampf um das tägliche Brot. »Ich fuhr einfach in die Stadt und ins Café und dachte mir: ›après moi‹…«, schrieb sie eines Tages, als sie die Wäsche von der Wäscherei zurückerwartete und nicht genug Geld hatte, um sie zu bezahlen, und die beiden Freundinnen, bei denen sie etwas borgen wollte, nicht zu Hause waren. Oder sie beschloß einfach, allein ins Kino zu gehen und alles zu vergessen. Oder sie vergrub sich zunehmend in ihr Schreiben, das wenigstens damit gerechtfertigt werden konnte, daß es Geld einbrachte. Oder sie zog sich auf die enge Freundschaft zu einigen wenigen Frauen zurück (darunter auch ihre jüngere Schwester), bei denen sie im Lauf der Zeit den meisten moralischen Rückhalt fand. Und die sich ihrerseits auf ihre Freundschaft stützten, sie liebten und bewunderten.

Merkwürdigerweise war sie keine große Leserin zeitgenössischer Literatur. Als sie Mitte der zwanziger Jahre von ihrer rekonvaleszenten Schwester um ein paar Bücher zum Lesen gebeten wurde, erwiderte sie, in der letzten Zeit habe sie kaum etwas anderes gelesen als Shakespeare und sei seit einer Ewigkeit nicht mehr in einer Buchhandlung gewesen.

Wann begann sie sich als eine Schriftstellerin zu sehen, für Frauen im Mitteleuropa jener Zeit ein wesentlich ungewöhnlicherer Beruf, als er es in der bereits stark feminisierten Szene der britischen schönen Literatur gewesen wäre? Wann wählte sie für sich den Schriftstellernamen »Nelly Holden«? Bis 1924 hatte sie bereits dem Rikola Verlag Manuskripte geschickt und einen Roman geschrieben oder zumindest einen Entwurf dazu verfaßt – den, der vermutlich auf ihren eigenen Erlebnissen als junges Mädchen in Alexandria beruhte und 1926 bei Rikola unter dem Titel Elisabeth Chrissanthis erschien. Einen weiteren Roman schrieb sie zu der Zeit, als mein Vater starb, doch zu ihrem Kummer war der Verleger nicht davon angetan, verlangte, daß sie ihn umschrieb, und am Ende wurde er nie veröffentlicht. Vielleicht wäre es doch noch dazu gekommen, wenn meine Mutter imstande gewesen wäre, weiterzuarbeiten. Das Manuskript ist offenbar verlorengegangen. Es ist unmöglich zu sagen, wie ernst sie die Kurzgeschichten nahm, die sie für Zeitschriften schrieb. Andererseits war sie mit Recht stolz auf die inhaltliche und literarische Qualität ihrer Übersetzungen.

Wie gut war sie als Autorin? Ich habe ihren Roman erst viele Jahre später gelesen. In jungen Jahren ließ ich die Finger davon, ohne daß ich sagen könnte warum. Sie schrieb ernsthaft und mit Stil in einem eleganten, lyrischen, harmonischen und gewählten Deutsch, das bei einer jungen Wiener Intellektuellen vielleicht nahelag, die früher regelmäßig die Lesungen des großen Karl Kraus besuchte, aber ich kann beim besten Willen nicht behaupten, daß sie den Eindruck einer erstklassigen Schriftstellerin gemacht hätte. Sie schrieb auch Gedichte, die nicht mehr existieren. Als ich sie als Heranwachsender las, schockierte ich meine Tante Gretl mit der Bemerkung, ich hätte keine hohe Meinung von ihnen. Ich war schon damals der Überzeugung, daß man sich nicht selbst betrügen soll, auch wenn es um Menschen oder Dinge geht, die einem im Leben am meisten bedeuten.

Das sind Rekonstruktionen eines alten Mannes, der immer noch versucht, sich in seinen beruflichen und privaten Passionen von diesem Grundsatz leiten zu lassen. Und in jedem Fall ist das alles ohne jede Bedeutung für mein Verhältnis zu der Person, die den tiefsten Einfluß auf mein Leben gehabt hat. Ich bin inzwischen alt genug, um der Großvater einer Frau sein zu können, die mit sechsunddreißig Jahren gestorben ist, und doch wäre es absurd, wenn wir uns irgendwo jenseits des Styx treffen sollten und ich würde sie wie eine junge Frau sehen oder behandeln. Sie wäre immer noch meine Mutter. Sie würde mich wohl fragen, was ich aus meinem Leben gemacht habe, und ich würde ihr sagen, daß es mir geglückt sei, zumindest einige der Hoffnungen zu erfüllen, die sie in mich gesetzt hatte, daß ich wenigstens einige der Zeichen öffentlicher Anerkennung entgegengenommen hätte, weil ich überzeugt gewesen sei, daß sie sich darüber gefreut hätte. Und ich wäre wahrscheinlich nicht aufrichtiger oder unaufrichtiger als Sir Isaiah Berlin, der sich dafür, daß er die Peerswürde angenommen hat, mit der Erklärung zu entschuldigen pflegte, er habe dies nur getan, um seiner Mutter eine Freude zu bereiten. Ich bin vollkommen überzeugt, der sichtbare Beweis dafür, daß aus dem Jungen, den sie mit all ihren Kräften zu einem richtigen Engländer hatte machen wollen, schließlich ein anerkanntes Mitglied des offiziellen britischen Kulturestablishments geworden ist, hätte sie glücklicher gemacht als alles andere in den letzten zehn Jahren ihres kurzen Lebens.

Ihr Einfluß auf mich war wohl vor allem ein moralischer, wenngleich ich in den Tagen ihrer Krankheit auch von dem Wunsch bewegt wurde, sie nicht zu verletzen oder gegen ihre Wünsche zu handeln. Ich beachtete ihre Worte auch dann, wenn sie mein Verhalten kritisierte. Ich habe sie ernst genommen. Es waren ihre Ehrlichkeit und ihr Stolz, die mich beeindruckten. Sie war weder religiös noch lag ihr etwas daran, ihr Judentum als solches zu betonen, auch wenn sie ihrer Mutter zuliebe in eine religiöse Hochzeitszeremonie neben der standesamtlichen Trauung eingewilligt hatte. Doch wie ich schon gesagt habe, gab sie mir das dauerhafte Fundament für mein persönliches Gefühl, Jude zu sein, zum Erstaunen und Befremden all jener, die nicht glauben können, daß Identität auf einer bloßen Verneinung gründen kann. Vermutlich hat sie den Beginn meines politischen Engagements verzögert, indem sie erklärte, selbst sehr intelligente Jungen bräuchten wohl eine gewisse Zeit, um nachzudenken und geistig heranzureifen, wie sie mir auch sagte, daß es große Schriftsteller gebe, die man nur verstehen könne, wenn man älter sei. Und da sie es stets ehrlich mit mir meinte, glaubte ich ihr.

Nicht daß wir – selbst wenn man den Altersunterschied berücksichtigt – auf derselben intellektuellen Wellenlänge gewesen wären. Ihre Begeisterung für Paneuropa, eine etwas konservative Bewegung für ein einziges europäisches Gemeinwesen (unter Ausschluß Rußlands), das von einem österreichischen Adligen, Graf Coudenhove-Kalergi propagiert wurde, hat mich nie angesteckt. Es war der einzige Ausflug eines liberalen, aber im Grunde unpolitischen Geistes in das Reich der Politik. Andererseits war sie herzlich gelangweilt von den Schriften des Ehemanns ihrer Freundin Grete Szana, des vielgereisten Alexander Szana, in denen er über seine politisch-sozialen Reisen nach Rußland (höchst kritisch), nach Nordafrika und anderswohin berichtete. Ich hörte ihm aufmerksam zu, zweifellos angespornt durch die Briefmarken aus aller Welt, die in seinem Zeitungsbüro eintrafen und die er mir großzügig vermachte. Dank dieser Erinnerungen sollte ich mich später für Nordafrika entscheiden, als Cambridge mir 1938 als Student ein Reisestipendium anbot. Meine Begeisterung für Karl Kraus geht anscheinend auf sie zurück, doch ihr Beharren darauf, daß ich mir eine Übertragung von Saint-Saëns’ Samson und Delilah im Radio unserer Großeltern – wir hatten selber keines – in voller Länge anhörte, brachte mich für einige Jahre von der klassischen Musik ab.

Ich erinnere mich noch, wie ich an ihrem Bett im Krankenhaus saß und wir einander zuhörten, da ich mich auf das Erwachsenwerden vorbereitete und sie sich auf das Sterben. Sie wollte leben. »Ich wollte, ich könnte es glauben«, sagte sie zu mir und wies auf Mary Baker Eddys Christian Science Scriptures, die eine Besucherin ihr dagelassen hatte. »Wenn ich diesen Glauben hätte, könnte es vielleicht mehr für mich tun, als die Ärzte bislang getan haben«, klingt mir ihre Stimme noch im Ohr, »aber ich kann es nicht glauben.« Doch kurz vor ihrem Tod war sie überzeugt, es gehe ihr besser und sie könne sogar geheilt werden. Ich habe mir sagen lassen, dies sei stets ein zuverlässiges Zeichen dafür, daß das Ende kurz bevorstehe.

In der Rückschau erscheinen die Jahre zwischen dem Tod meines Vaters und dem meiner Mutter als eine tragische, traumatische Zeit, eine des Verlusts und der Unsicherheit, die im Leben von zwei Kindern, die sie durchlitten haben, tiefe Spuren hinterlassen mußte. Das trifft sicherlich zu, und es steht außer Frage, daß meine Schwester lange Jahre brauchte, bis sie den Verlust ihres Vaters verarbeitet hatte, Jahre einer Kindheit, in der man nicht versteht, was vor sich geht, Jugendjahre voll Groll, Jahre des ständigen Umsturzes und der zerrissenen Gefühle. Irgendwo muß auch ich die Narben der emotionalen Verletzungen dieser düsteren Jahre an mir tragen. Und dennoch glaube ich nicht, daß sie mir damals bewußt waren. Vielleicht ist das die Illusion eines Menschen, der ähnlich wie ein Computer eine Art »Papierkorb-Funktion« hat, mit der er alle unerwünschten Daten wegdrücken kann, die jedoch von anderen wieder auf den Bildschirm zurückgeholt werden können. Ich glaube allerdings nicht, daß dies die einzige Erklärung dafür ist, daß ich – ohne ausgesprochen glücklich zu sein – diese Jahre trotzdem nicht als besonders kummervoll erlebt habe. Vielleicht gingen die Realitäten der Situation an mir vorbei, weil ich die meiste Zeit über in einigem Abstand von der realen Welt lebte – nicht so sehr in einer Welt der Träume, sondern einer der Neugier, der Erkundung, der zurückgezogenen Lektüre, der Beobachtung, des Vergleichens und des Experimentierens; es war die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich mir selbst ein Rundfunkgerät gebastelt habe (Kristallempfänger ließen sich einfach aus Zigarrenkisten basteln). Obwohl ich in meinem Jahr als Pfadfinder wenigstens eine dauerhafte Freundschaft aufbaute, lebte ich ohne vertrauten Umgang. Wenn ich über mein Leben im letzten Jahr vor dem Tod meiner Mutter nachdenke, fallen mir drei Erinnerungen ein: erstens, wie ich allein auf einer Schaukel im Garten von Frau Effenberger sitze und versuche, das Lied der Amseln auswendig zu lernen, wobei ich auf die Variationen zwischen ihnen achte; zweitens, wie ich das Geburtstagsgeschenk meiner Mutter entgegennehme – ein ziemlich billiges gebrauchtes Fahrrad –, nämlich mit jener Art Verlegenheit, wie sie wohl nur Teenager empfinden können, denn der Rahmen war verzogen und offensichtlich umlackiert worden; und drittens, wie ich eines Nachmittags an einem Schaufenster vorbeigehe, das von Spiegeln eingerahmt ist, und entdecke, wie mein Gesicht im Profil aussieht. War ich wirklich so unattraktiv? Selbst die Tatsache (die ich einem meiner Kosmos-Hefte entnommen hatte), daß ich offenbar dem sehnig-schlanken leptosomen Typus der drei psychosomatischen Typen Kretschmers angehörte und deshalb wie Friedrich der Große im Alter besser aussehen würde, brachte mir keinen Trost. Wie so vieles andere damals und später, behielt ich meine Empfindungen für mich.

Auch in meinem späteren Leben habe ich über jene Zeit nicht viel nachgedacht. Nachdem ich Wien 1931 verlassen hatte, habe ich das Grab nicht mehr wiedergesehen. 1996 habe ich danach gesucht, im Zuge einer Fernsehproduktion über die Geschichte der Zwischenkriegszeit, wie sie von einem Kind erlebt wurde. Doch nach mehr als sechzig Jahren Weltgeschichte war das Grab mit der Steinplatte, die meine Mutter zu diesem Zweck in Auftrag gegeben hatte (zum Preis von 400 Schilling), nicht mehr aufzufinden. Das Kamerateam filmte mich bei meiner Suche. Nur die elektronische Datenbank, die von der Verwaltung der Israelitischen Abteilungen des Wiener Zentralfriedhofs in weiser Voraussicht mit Blick auf den amerikanischen Tourismus aufgebaut worden ist, verzeichnete, daß das Grab die sterblichen Überreste von Leopold Percy Hobsbaum, gestorben am 8.Februar 1929, Nelly Hobsbaum, gestorben am 12. Juli 1931 und – zu meiner Überraschung – von meiner Großmutter Ernestine Grün, gestorben 1934, enthalten hatte.

Das Zeitalter der Extreme

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