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Vorwort

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Autoren von Autobiographien müssen auch Leser von Autobiographien sein. Im Lauf meiner Arbeit an diesem Buch habe ich zu meinem Erstaunen festgestellt, wie viele der Frauen und Männer, die ich gekannt habe, ihr eigenes Leben in Druck gegeben haben. Dabei denke ich nicht einmal an die (zumeist) Prominenteren oder Extrovertierteren, die sich ihre Biographien von anderen schreiben ließen, oder an die beträchtliche Zahl zeitgenössischer autobiographischer Schriften, die in Romangestalt gekleidet werden. Vielleicht sollte ich auch gar nicht erstaunt sein. Menschen, deren Beruf es mit sich bringt, zu schreiben und sich mitzuteilen, bewegen sich eben häufig unter anderen Menschen, die das gleiche tun. Und doch: ein überraschend großer Teil all der Artikel und Interviews, des Gedruckten wie der Ton- und sogar Videobänder, und schließlich der Bücher wie dieses stammen von Männern und Frauen, die ihr berufliches Leben an Universitäten verbracht haben. Ich bin nicht allein.

Dennoch stellt sich die Frage, warum jemand wie ich eine Autobiographie schreiben sollte oder genauer, warum andere, die nichts Besonderes mit mir verbindet oder die vielleicht noch nie von meiner Existenz gehört haben, bis sie den Schutzumschlag in einer Buchhandlung erblicken, dieses Buch lesenswert finden sollten. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die – offenbar als eigene Subspezies – in der Biographieabteilung zumindest einer bestimmten Londoner Buchhandelskette unter »Persönlichkeiten« oder, wie man heute gern sagt, »celebrities« geführt werden, also zu den Menschen, die aus welchem Grund auch immer der Allgemeinheit so bekannt sind, daß allein schon ihr Name Neugier auf ihr Leben weckt. Ich rechne mich auch nicht zu der Sorte von Menschen, deren öffentliches Leben sie berechtigt, ihre Autobiographien als »Memoiren« zu betiteln, im allgemeinen Männer und Frauen, die auf einer größeren öffentlichen Bühne agierten und entsprechende Taten zu vermelden oder zu rechtfertigen haben; oder die in der Nähe großer Ereignisse und von Menschen gelebt haben, deren Entscheidungen sie persönlich betrafen. Ich war keiner von ihnen. Wahrscheinlich wird mein Name in den historischen Darstellungen von ein, zwei Spezialgebieten vorkommen, etwa Marxismus und Historiographie im 20. Jahrhundert, und vielleicht wird man ihm in einigen Büchern über die britische intellektuelle Kultur des 20. Jahrhunderts begegnen. Wenn darüber hinaus mein Name völlig von der Bildfläche verschwände, so wie der Grabstein meiner Eltern auf dem Wiener Zentralfriedhof, den ich vor fünf Jahren vergeblich suchte, dann würde das keine erkennbare Lücke in der Erzählung dessen hinterlassen, was sich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts in England oder anderswo ereignet hat.

Auch ist dieses Buch nicht im heute so verkaufsfördernden Stil der Bekenntnisliteratur geschrieben, zum Teil, weil Genialität die einzige Rechtfertigung für einen solchen Egotrip ist – ich bin weder ein Augustinus noch ein Rousseau –, zum Teil, weil kein lebender Autobiograph die intime Wahrheit über Dinge erzählen kann, die andere lebende Personen betreffen, ohne die Gefühle zumindest einiger von ihnen in unentschuldbarer Weise zu verletzen. Dazu habe ich keinerlei Anlaß. Dieses Feld gehört in den Bereich der posthumen Biographik, nicht der Autobiographie. Jedenfalls, so neugierig wir in diesen Dingen auch sind, Historiker sind keine Klatschkolumnisten. Die militärischen Verdienste eines Generals werden nicht daran gemessen, welche Heldentaten er im Bett vollbracht hat oder eben nicht. Alle Versuche, die Ökonomie eines Keynes oder eines Schumpeter aus ihrem ziemlich erfüllten, aber unterschiedlichen Geschlechtsleben abzuleiten, sind zum Scheitern verurteilt. Außerdem befürchte ich, daß Leser mit einer Vorliebe für Biographien, in denen die Bettdecke gelüftet wird, bei meiner Lebensgeschichte nicht auf ihre Kosten kommen werden.

Sie ist auch nicht als Apologie des Lebens ihres Autors geschrieben. Sollten Sie kein Interesse daran haben, das 20. Jahrhundert zu verstehen, dann greifen Sie besser zu den Autobiographien von Leuten, die sich damit selbst rechtfertigen, die Schönfärber, die Anwälte ihrer selbst sowie ihre Pendants, die reuigen Sünder. Das alles sind Obduktionen, bei denen die Leiche zugleich Gerichtsmediziner spielt. In der Autobiographie eines Intellektuellen geht es zwangsläufig auch um dessen Ideen, Einstellungen und Handlungen, doch sollte der Autor nicht als sein eigener Anwalt auftreten. Dieses Buch enthält Antworten auf die Fragen, die mir am häufigsten von Journalisten und anderen gestellt wurden, die an dem etwas ungewöhnlichen Fall eines lebenslangen, aber untypischen Kommunisten und an »Hobsbawm, dem marxistischen Historiker« interessiert sind, doch ihre Fragen zu beantworten war nicht mein eigentlicher Gegenstand. Die Geschichte mag ihr Urteil über meine politische Einstellung sprechen – tatsächlich hat sie dies schon sehr eingehend getan –, meine Bücher mögen Leser beurteilen. Mir geht es um historisches Verständnis, nicht um Einvernehmen, Zustimmung oder Sympathie.

Trotzdem gibt es vielleicht ein paar Gründe, warum das Buch möglicherweise lesenswert ist, abgesehen von der Neugier, die Menschen stets gegenüber anderen Menschen hegen. Ich habe den größten Teil des außergewöhnlichsten und furchtbarsten Jahrhunderts in der menschlichen Geschichte miterlebt. Ich habe in mehreren Ländern gelebt und von etlichen weiteren Ländern auf drei Kontinenten einiges gesehen. Möglicherweise habe ich im Lauf dieses langen Lebens keine sichtbaren Spuren in der Welt hinterlassen, auch wenn ich versucht habe, mich in einer ordentlichen Menge von Veröffentlichungen zu verewigen; doch seit mir mit sechzehn Jahren zu Bewußtsein kam, daß ich ein Historiker bin, habe ich die meiste Zeit über Augen und Ohren offengehalten, um die Geschichte der Zeit, in der ich gelebt habe, zu verstehen.

Als ich die Geschichte der Welt zwischen dem ausgehenden 18. Jahrhundert und 1914 geschrieben hatte und mich schließlich an die Geschichte dessen wagte, was ich das »Zeitalter der Extreme«* genannt habe, kam mir zweifellos der Umstand zugute, daß ich nicht nur als Fachgelehrter darüber schrieb, sondern auch, um einen Ausdruck der Anthropologen zu gebrauchen, als »teilnehmender Beobachter«. Das habe ich auf zweierlei Weise getan. Meine persönlichen Erinnerungen an Ereignisse, die zeitlich und räumlich weit entfernt lagen, brachten jüngeren Lesern zweifellos die Geschichte des 20. Jahrhunderts näher, während sie bei den älteren deren eigene Erinnerungen wachriefen. Und mehr noch als meine anderen Bücher war dieses eine mit der Leidenschaft geschrieben, die ein Signum des Zeitalters der Extreme ist. Beide Lesergruppen haben mir das bestätigt. Doch darüber hinaus gibt es eine tiefer reichende Möglichkeit, wie die Verflochtenheit des Lebens und der Zeit einer Person und die Beobachtung von beidem dazu beitragen kann, einer historischen Analyse Gestalt zu geben, die sich, wie ich hoffe, von beidem unabhängig macht.

Das ist es, was eine Autobiographie leisten kann. In einer Hinsicht ist dieses Buch die B-Seite von Das Zeitalter der Extreme: nicht Weltgeschichte, veranschaulicht durch die Erfahrungen eines einzelnen, sondern Weltgeschichte, die diese Erfahrung formt oder vielmehr eine wechselnde, aber stets begrenzte Anzahl von Wahlmöglichkeiten anbietet, aus denen, um ein Wort von Marx zu gebrauchen, »die Menschen […] ihre eigene Geschichte [machen], aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«.*

In einer anderen Hinsicht ist die Autobiographie eines Historikers ein wesentlicher Teil der Anlage seiner Arbeit. Neben einem Glauben an die Vernunft und den Unterschied zwischen Tatsachen und Fiktionen ist das Bewußtsein von sich, das heißt die Fähigkeit, zu sich selbst auf Distanz zu gehen, eine notwendige Voraussetzung für alle, die sich als Historiker oder Sozialwissenschaftler betätigen, vor allem für einen Historiker, der wie ich seine Themen intuitiv und zufällig gewählt, sie jedoch nach und nach zu einem kohärenten Ganzen zusammengefügt hat. Andere Historiker werden diesen eher fachwissenschaftlichen Aspekten meines Buchs ihre Aufmerksamkeit zuwenden. Andere jedoch, so hoffe ich, werden es als eine Einführung in das außergewöhnlichste Jahrhundert der Weltgeschichte lesen, indem sie den Lebensweg eines Menschen mitverfolgen, der so, wie er verlaufen ist, in keinem anderen Jahrhundert möglich gewesen wäre.

Die Geschichte handelt in den Worten meiner Kollegin, der Philosophin Agnes Heller, »von Geschehnissen, die man von außen betrachtet, Memoiren von Geschehnissen, in deren Mitte man selbst einmal stand«. Dies ist kein Buch mit einer ausführlichen Danksagung und Würdigung von Fachkollegen. Gleichwohl ist es ein Anlaß für Dank und Entschuldigungen. Der Dank gilt vor allem meiner Frau Marlene, die mein halbes Leben mit mir geteilt, alle Kapitel gelesen und Verbesserungsvorschläge gemacht und die Jahre ertragen hat, in denen ein häufig zerstreuter, mißgelaunter und manchmal entmutigter Ehemann weniger in der Gegenwart lebte als in einer Vergangenheit, die er mühevoll zu Papier brachte. Ich danke auch Stuart Proffitt, unter den Lektoren ein Fürst. Die Zahl der Menschen, die ich im Lauf der Jahre zu Dingen befragt habe, die für diese Autobiographie wichtig waren, ist zu groß, um sie alle hier zu nennen, und einige von ihnen sind inzwischen verstorben. Sie wissen, wofür ich ihnen danke.

Auch meine Entschuldigungen gehen an Marlene und die Familie. Dies ist nicht die Autobiographie, die ihnen vielleicht lieb gewesen wäre, denn obwohl sie ständig gegenwärtig sind, zumindest seit dem Augenblick, da sie in mein Leben und ich in ihres getreten bin, geht es in diesem Buch eher um mein öffentliches als mein privates Leben. Ich muß mich auch bei allen Freunden, Kollegen, Studenten und anderen entschuldigen, die auf diesen Seiten nicht vorkommen und vielleicht erwartet haben, hier mehr oder weniger ausführlich erwähnt zu werden.

Schließlich noch ein paar Worte zum Buch, das ich in drei Teile gegliedert habe. Nach einer kurzen Einleitung erstrecken sich die persönlich-politischen Kapitel 1–16, in grob chronologischer Folge, über die Zeit, von der an meine Erinnerung einsetzt – in den frühen zwanziger Jahren –, bis zum Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Sie sind jedoch nicht als geradlinige Chronik gedacht. In Kapitel 17 und 18 geht es um meinen beruflichen Werdegang als Fachhistoriker. Kapitel 19–22 behandeln Länder oder Regionen (im Unterschied zu meiner Heimat Mitteleuropa und England), zu denen ich während langer Jahre meines Lebens Beziehungen unterhielt: Frankreich, Spanien und Italien, Lateinamerika und andere Teile der Dritten Welt und die Vereinigten Staaten. Da diese Kapitel den ganzen Bereich meines Umgangs mit diesen Ländern abdecken, fügen sie sich nicht ohne weiteres in die chronologische Haupterzählung ein, auch wenn sie sich mit ihr überschneiden. Deshalb habe ich es für das Beste gehalten, sie selbständig stehen zu lassen.

London, Februar 2002 Eric Hobsbawm

* The Age of Extremes: the Short Twentieth Century 1914–1991, London 1994; deutsch: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995.

* »Der 18te Brumaire des Louis Napoleon«, MEW Bd. 8, S. 115.

Das Zeitalter der Extreme

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