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5 Berlin: Braun und Rot

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Inzwischen bewegten sich meine revolutionären Neigungen von der Theorie zur Praxis. Die erste Person, die versuchte, ihnen eine genauere Richtung zu geben, war ein älterer sozialdemokratischer Jugendlicher, Gerhard Wittenberg. Mit ihm durchlebte ich den Initiationsritus des typischen sozialistischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, nämlich den kurzlebigen Versuch, Das Kapital von Karl Marx von der ersten Seite an zu lesen und zu verstehen. Es währte nicht lange – in dieser Phase meines Lebens jedenfalls –, und wir blieben zwar Freunde, doch fühlte ich mich weder zur deutschen (im Unterschied zur österreichischen) Sozialdemokratie noch zu Gerhards Zionismus hingezogen, der ihn nach der Machtübernahme Hitlers dazu führte, nach Palästina in ein Kibbuz auszuwandern und schließlich – soviel ich weiß – auf einer Mission zur Rettung von Juden nach Deutschland zurückzukehren, wo er getötet wurde. (Militante Zionisten waren in jenen Tagen natürlich überwiegend Anhänger eines marxistischen Sozialismus in dieser oder jener Form.)

Der Mann, der mich für eine kommunistische Organisation anwarb, war ebenfalls älter als ich. Wie wir miteinander in Berührung kamen, ist mir entfallen, aber es kann gut sein, daß man in der Untersekunda über den Engländer geredet hat, der aus seinen roten Überzeugungen kein Hehl machte. Wie ich ihn in Erinnerung habe, war Rudolf (Rolf) Leder dunkelhaarig und düster, besaß eine Vorliebe für Lederjacken und hatte sich offensichtlich die idealisierte Version der Partei des sowjetbolschewistischen Kader zum Vorbild genommen. Er wohnte bei seinen Eltern in Friedenau, und ich sehe noch die zwei oder drei Bücherborde an der Schmalseite seines kleinen Zimmers, auf denen er seine Bücher über den Kommunismus und die Sowjetunion aufgestellt hatte. Er muß mir einige davon geliehen haben – von wem hätte ich sie sonst haben können –, da ich mehrere sowjetrussische Romane der zwanziger Jahre gelesen habe. Keiner von ihnen ließ eine bestimmte utopische Sicht des Lebens im revolutionären Rußland erkennen. Darin glichen sie der gesamten sowjetischen Prosaliteratur vor der Stalinära. Doch als ich Rolf gegenüber erklärte – ich kann mich noch an das Gespräch erinnern –, der Kommunismus werde wegen der Rückständigkeit Rußlands Schwierigkeiten bekommen, verfinsterte sich sein Gesicht: Die UdSSR stand außerhalb jeder Kritik. Über ihn erwarb ich die Sonderausgabe eines Bandes mit Dokumenten und Fotografien, der den fünfzehnten Jahrestag der Oktoberrevolution feierte, Fünfzehn eiserne Schritte. Ich habe ihn immer noch, in einem schlichten, sandfarbenen festen Einband, den John Heartfield entworfen hat, und auf dem Vorsatzblatt steht – in meiner jugendlichen Handschrift – ein Zitat aus Lenins Der »linke Radikalismus«, die Kinderkrankheit im Kommunismus. Neben dem halb auseinanderfallenden Büchlein Unter roten Fahnen: Kampflieder, das die Texte von Revolutionsliedern enthält, ist es das älteste Dokument meiner innersten politischen Überzeugung.

Rolf Leder war ein Mann, der sich in der bürgerlichen Umgebung unserer Schule deplaziert fühlte. Wie er in seiner Autobiographie schrieb, hatte er sich gerade erst ein Jahr, bevor wir uns kennenlernten, den Jungkommunisten auf der Straße angeschlossen und war stolz, im straßenkampferprobten Milieu der jungen sozialistischen Berliner Arbeiter Anerkennung gefunden zu haben, er »hatte [s]ich bewährt« in der »Zeit eines latenten Bürgerkriegs«, und er war »SA-Leuten und Polizisten nicht aus dem Wege gegangen«.1 Er machte mir jedoch nicht den Vorschlag, in den Kommunistischen Jugendverband (KJV) einzutreten, sondern in eine deutlich weniger proletarische Organisation, den Sozialistischen Schülerbund (SSB), der speziell Gymnasiasten aufnehmen sollte. Ich folgte seinem Vorschlag, und er ging seiner eigenen Wege. Ich habe ihn nie wiedergesehen, nachdem ich Berlin verlassen hatte. Er starb 1996.

Dennoch blieben unsere Lebenswege merkwürdig ineinander verwoben. Viele Jahre später entdeckte ich in einem westdeutschen Buch über Schriftsteller und den Kommunismus, daß ein ziemlich prominentes Mitglied des literarischen Establishments in der DDR, der Dichter Stephan Hermlin, eigentlich Rudolf Leder hieß. Wie ich später in seiner Autobiographie las, war er illegal in Deutschland geblieben, hatte das Angebot seiner Familie abgelehnt, ihn nach Cambridge zu schicken, und war mehrere Monate lang in einem Konzentrationslager inhaftiert. 1935 war er in Frankreich, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg und später in der französischen Résistance, bevor er 1946 in die Sowjetisch Besetzte Zone zurückkehrte. Hier, in der späteren DDR, machte er eine bemerkenswerte literarische Karriere. Nach dem zu urteilen, was ich von seinem Werk gelesen habe, war er wohl eher ein guter als ein herausragender Dichter, wahrscheinlich besser als Übersetzer und Bearbeiter anderer Dichter, und seine kurzen, unpräzisen Erinnerungen Abendlicht wurden von vielen bewundert. Andererseits benahm er sich als prominente Persönlichkeit auf der kulturellen Bühne unter einem spießbürgerlichen und autoritären System anständig, protestierte und beschützte und benutzte seine Freundschaft mit Honecker gegen die Stasi. Das ist einer der Fälle, wo die alte deutsche Redewendung »Guter Mensch, schlechter Musikant« nicht als Herabsetzung des Künstlers, sondern als Lob der Anständigkeit des Prominenten verstanden werden sollte. Ich schrieb ihm einen Brief, wahrscheinlich an die Adresse des Schriftstellerverbandes, in dem ich ihn fragte, ob er derselbe Rudolf Leder sei, den ich gekannt hatte, und erhielt eine kurze Antwort, in der er die Frage bejahte, aber hinzufügte, er könne sich an mich nicht mehr erinnern. Auch später reagierte er nicht, als Freunde in Berlin ihm gegenüber meinen Namen erwähnten. Doch die kurze Verbindung zwischen zwei Berliner Gymnasiasten 1932, die sich beide in unterschiedlicher Weise und in verschiedenen Ländern innerhalb der kulturellen Linken einen Namen gemacht haben, hat anscheinend sowohl Journalisten als auch Leser in der ehemaligen DDR fasziniert. Jedenfalls bin ich immer wieder darauf angesprochen worden.

Es gibt einen merkwürdigen Schluß zu der Episode mit Rudolf Leder. Kurz vor dessen Tod verfolgte Karl Corino, eine westdeutsche literarische Spürnase und Stephan Hermlin wenig freundlich gesinnt, die Spur seiner offiziellen Biographie und entdeckte, daß das meiste davon reine Erfindung war und nur gelegentlich und nur am Rande etwas mit der Wirklichkeit zu tun hatte.2 Es treffe nicht zu, daß er eine wohlhabende, kultivierte, dem Sammeln von Kunstwerken und der Liebe zur Musik frönende Familie des englisch-deutschen Großbürgertums zugunsten des Kampfs der Arbeiterklasse aufgegeben habe. Sein Vater sei ein rumänischer und später staatenloser Geschäftsmann gewesen, der eine galizische Immigrantin in England geheiratet (und damit die englische Staatsbürgerschaft erworben) und nach einer kurzen Periode materiellen Wohlergehens in der Inflationszeit Pleite gemacht habe. Der Vater habe weder im Ersten Weltkrieg gedient, noch sei er in einem Konzentrationslager gestorben, sondern habe sich 1939 nach London in Sicherheit gebracht. Hermlin selbst sei nie in einem Konzentrationslager gewesen, nicht einmal für kurze Zeit, er habe auch weder im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft noch in der französischen Résistance. Und so weiter. Es war ein überaus wirksamer und trotz der nicht zu übersehenden Einseitigkeit des Autors und einiger seiner Quellen ein überzeugender Verriß.

Natürlich ist Leder nicht der einzige autobiographische Autor, der sich in ein farbenprächtigeres oder bedeutenderes Kostüm auf der Weltbühne geworfen und das Szenario seines Lebens entsprechend zurechtgebogen hat. Das gilt in diesem Fall ganz besonders, wenn wir Corinos Belege dafür akzeptieren, daß das Leben Leders bis zu seiner Rückkehr nach Berlin 1946, einschließlich seiner Gymnasialjahre, überwiegend enttäuschend verlaufen war. Letztendlich hat er sein Leben nicht so sehr erfunden, als er es stilisiert oder bloße Absichten in Taten verwandelt hat. Er hatte tatsächlich seine Stelle in Tel Aviv aufgegeben (der »offizielle« Hermlin ließ die kurze Episode in Palästina unerwähnt) und erklärt, er wolle sich den Internationalen Brigaden in Spanien anschließen, und fast wäre es auch soweit gekommen, wenn er sich nicht einer Operation hätte unterziehen müssen, deren Folgen für ihn fast tödlich gewesen wären; und als er dann Palästina verlassen konnte, war seine Frau schwanger. Sein Vater war schließlich tatsächlich für kurze Zeit ein Millionär gewesen, der Kunst sammelte und seine Frau von Max Liebermann und sich selbst von Lovis Corinth malen ließ. Außerdem bietet der Lebensweg eines jeden deutschjüdischen Flüchtlings in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, der zwischen mehreren Ländern wechselte, eine Fülle von Gelegenheiten und guten Gründen, sich auf den unvermeidlichen Formularen und Fragebögen in ein etwas besseres Licht zu setzen. Und es steht außer Frage, daß Leder seit einer Zeit vor unserer Begegnung 1932 Kommunist und der Partei loyal verbunden war, bis sie mit dem Ende der DDR aufhörte zu existieren, und daß er für seinen Kommunismus einen Preis bezahlt hatte. Seltsamerweise führt dies unser beider Leben noch einmal zusammen. Denn wenn Corino recht hat, wurde Leder formell von seinem Gymnasium relegiert, weil er im Januarheft 1932 des Schulkampfs, einer Zeitung des Sozialistischen Schülerbunds, für den er mich anwerben wollte, einen aufrührerischen Artikel verfaßt hatte. Wäre er zu dieser Zeit Schüler des Prinz Heinrichs-Gymnasiums gewesen, so hätte ich davon auf jeden Fall gehört. Höchstwahrscheinlich mußte er von einem anderen Gymnasium abgehen und trat erst anschließend in das PHG ein. Somit waren wir beide Zugvögel an unserer Schule. Wie und warum er abging, weiß ich nicht.3 Auf jeden Fall hat er die Schule nicht mit dem Abitur verlassen.

Die Organisation, der ich mich anschloß, hat nur einen schattenhaften Platz in der Geschichte des deutschen oder des Kommunismus überhaupt, im Gegensatz zu der Person, der sie ihre Entstehung verdankte, Olga Benario. Diese dynamische junge Frau, die Tochter einer wohlhabenden bürgerlichen Familie in München, war nach der kurzlebigen Münchener Räterepublik von 1919 zur Revolution bekehrt worden. Einige Jahre war sie mit einem jungen Lehrer namens Otto Braun liiert, der in der Räterepublik eine Rolle gespielt hatte. 1928 stürmte sie an der Spitze einer Gruppe von Jungkommunisten in Berlin in den Gerichtssaal, in dem gegen Otto Braun ein Prozeß wegen Hochverrats geführt wurde, und befreite ihn. Beide tauchten mit Hilfe von Genossen unter, gingen in die Illegalität und schlossen sich dem Apparat der Komintern und der Roten Armee an. In Moskau wurde Benario als Beraterin von Luis Carlos Prestes abgestellt, einem brasilianischen Offizier, der mehrere Jahre lang eine Gruppe von Militärrebellen auf einem berühmten langen Marsch durch die Wälder seines Landes geführt hatte und jetzt im Begriff stand, sich der Kommunistischen Partei Brasiliens anzuschließen und sie zu führen. Sie heiratete ihn, half ihm bei der Planung und nahm an seiner Seite an dem katastrophal fehlgeschlagenen Aufstand von 1935 teil, geriet in Gefangenschaft und wurde von der brasilianischen Regierung an Hitlerdeutschland ausgeliefert. 1942 wurde sie im Konzentrationslager Ravensbrück umgebracht. Inzwischen war Otto Braun von Moskau aus statt nach Westen in den Osten gegangen und wurde der einzige Europäer, der (sichtlich ohne besondere Begeisterung für Mao Zedong) von Anfang bis Ende am Langen Marsch der chinesischen Roten Armee teilgenommen hat. In den achtziger Jahren veröffentlichte er als Rentner in Ostberlin seine Erinnerungen. Als ich in den SSB eintrat, um der Weltrevolution zu dienen, hatte ich keine Vorstellung davon, welche historischen Bande diese Organisation mit einigen ihrer aufregendsten Kämpfe verbinden sollten, auch wenn ich mir nicht im Zweifel war, daß diejenigen, die in Berlin zu Beginn der dreißiger Jahre Kommunisten wurden, einer Zukunft voller Gefahren, Verfolgungen und Aufstände entgegengingen.

Ein weniger dramatischer Aspekt von Olga Benarios Hingabe an die Revolution war der SSB selbst.4 Diese Organisation hatte ihren Ursprung anscheinend in Neukölln, einem der radikalsten Stadtteile der Arbeiterviertel Berlins mit politisch organisierten sozialistischen und kommunistischen Arbeiterkindern in den sogenannten Aufbauschulen – Schulen, die von der preußischen Regierung gefördert wurden und mit denen ausgewählten Kindern der Übergang zu einer weiterführenden Schule bis hin zum Abitur ermöglicht wurde. Als sie 1926 in Neukölln als energischer neuer Agitpropkader eintraf, regte Olga Benario die Jungkommunisten an der Schule an, nach dem Vorbild der bereits bestehenden »Kommunistischen Studenten-Fraktion« (Kostufra) eine »Kommunistische Pennäler-Fraktion« (Kopefra) zu bilden. Da sich an diesen Schulen Schüler befanden, die in der SPD organisiert waren, wurde beschlossen, einen umfassenderen Verband zu gründen, dem beide Gruppen angehörten, den SSB. Als die Sozialdemokraten für die Kommunistische Internationale zu »Sozialfaschisten« wurden, blieb natürlich von diesem Geist der Einheit nicht viel übrig. Der SSB war zu einem Ableger der Kommunistischen Partei geworden. Bis 1928 hatte er sich auch über die roten Stadtteile Berlins hinaus ausgedehnt und hatte Gruppen im Zentrum und im Westen – also in bürgerlichen Schulen wie der meinen – sowie in anderen Teilen Deutschlands. Außerdem brachte er den neugegründeten Schulkampf heraus.

Zu der Zeit, als ich mich dem SSB anschloß, im Herbst 1932, lag er bereits in den letzten Zügen, hauptsächlich wohl deshalb, weil finanzielle Einschnitte das Leben für die Aufbauschulen, wo er am stärksten vertreten war, immer schwieriger machten. Einige Gruppen existierten in der zweiten Jahreshälfte 1932 schon nicht mehr oder trafen sich nur unregelmäßig. Ein koordiniertes Handeln war nicht mehr möglich. Selbst in den Hochburgen unserer Sache, etwa in der Karl-Marx-Schule in Neukölln, war die Atmosphäre Ende 1932 gedrückt und resigniert. Es hieß, der Schulkampf habe ab Mai 1932 sein Erscheinen eingestellt, doch ich nehme an, damit war die gedruckte Form gemeint, da ich noch ein später erschienenes Exemplar besitze, das offenbar von Genossen vervielfältigt wurde, die im Umgang mit dem Matrizendrucker nicht sehr geübt waren. Meine kleine Westberliner Zelle des Schülerbunds zeigte jedoch keine Anzeichen der Entmutigung.

Anfangs trafen wir uns in der Wohnung der Eltern eines unserer Mitglieder, später regelmäßig im Hinterzimmer eines kommunistischen Lokals in der Nähe von Halensee. Die »Geschichte von unten« der deutschen und der französischen Arbeiterbewegung, die beide keine starke Fraktion von Alkoholgegnern hatten, läßt sich in weiten Teilen als Geschichte der Kneipen schreiben, in deren vorderen Räumen die Genossen sich trafen, um ein Glas Roten oder (wie in Berlin) Bier zu trinken, während ernsthaftere Treffen im Hinterzimmer um einen Tisch abgehalten wurden. Natürlich konnte man vorn Getränke bestellen und nach hinten mitnehmen, doch wurde das nicht gern gesehen. Als richtige Organisation hatten wir einen Orglei (Organisationsleiter), einen Jungen namens Wolfheim – Vorname Walter, wenn ich mich recht erinnere – und einen Polei (politischen Leiter oder Kommissar) namens Bohrer, den ich als pummelig in Erinnerung habe. Deutsche und russische kommunistische Organisationen zogen Abkürzungen aus Silben denen aus Einzelbuchstaben vor wie in Komintern, Kolchos und GuLag, und der Gebrauch der Nachnamen verlieh den Treffen etwas Formelles. Das einzige weitere Mitglied unserer Zelle, das mir im Gedächtnis geblieben ist, war ein hübscher und eleganter Russe namens Gennadi (»Goda«) Bubrik, der bei den Treffen in einem Russenhemd erschien und dessen Vater für eine der russischen Agenturen in Berlin arbeitete. Ich glaube, wir haben über die Lage an den verschiedenen Schulen und über unsere potentiellen neuen Mitglieder oder »Kontakte« diskutiert, doch Ende 1932 war die Reichspolitik im Vergleich weitaus dringlicher als die Probleme beispielsweise mit einem reaktionären Lehrer in der Unterprima des Bismarck-Gymnasiums. So beherrschte die politische Lage zweifellos unsere Tagesordnung, wobei Bohrer »die Linie« vorgab, der wir zu folgen hatten.

Was haben wir damals gedacht? Es gilt heute allgemein als ausgemacht, daß die Politik, die von der KPD verfolgt wurde und auf der Linie der Komintern lag, in den Jahren des Aufstiegs von Hitler und seiner Partei zur Macht von einer selbstmörderischen Dummheit war. Ihr lag die Annahme zugrunde, daß eine neue Phase des Klassenkampfs und der Revolutionen bevorstehe, wenn der in der Mitte der zwanziger Jahre vorübergehend stabilisierte Kapitalismus zusammenbrechen werde, und daß das Haupthindernis für die notwendige Radikalisierung der Arbeiter unter der Führung der Kommunisten die Beherrschung der meisten nationalen Arbeiterbewegungen durch die Sozialdemokratie sei. Diese Annahmen waren an sich nicht völlig unplausibel, doch vor allem nach 1930 grenzte die Auffassung, aus dem genannten Grund sei die Sozialdemokratie gefährlicher als der Aufstieg Hitlers oder man könne sie sogar als »Sozialfaschismus« bezeichnen, an politischen Wahnsinn.* Und es ging gegen die instinktiven Gefühle, den gesunden Menschenverstand sowie gegen die sozialistische Tradition der sozialdemokratischen wie der kommunistischen Arbeiter (oder Schüler), die sehr gut wußten, daß sie mehr miteinander gemein hatten als mit den Nazis. Damit nicht genug, als ich nach Berlin kam, pfiffen es die Spatzen von den Dächern, daß die politische Hauptaufgabe in Deutschland darin bestand, wie man Hitlers Aufstieg zur Macht verhindern könne. Tatsächlich machte sogar die ultrasektiererische Parteilinie ein wenngleich leeres Zugeständnis an die Realität. Auf unserem Revers trugen wir nicht das Emblem von Hammer und Sichel, sondern die »Antifa«Nadel – eine Aufforderung zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen den Faschismus, allerdings selbstverständlich nur mit den Arbeitern und nicht mit ihren von der Macht korrumpierten und klassenverräterischen Führern. Die Sozialisten wußten ebensogut wie die Kommunisten, und sei es auch nur durch das italienische Beispiel, daß ihre Vernichtung das Hauptziel eines faschistischen Regimes war. Konservative oder selbst Teile der politischen Mitte mochten mit dem Gedanken spielen, Hitler in eine Koalitionsregierung einzubinden, weil sie ihn dort zu kontrollieren hofften – eine fatale Fehleinschätzung. Sozialdemokraten und Kommunisten wußten nur zu gut, daß ein Kompromiß und eine Koexistenz mit dem Nationalsozialismus für beide Seiten ein Ding der Unmöglichkeit war. Unsere Methode zur Bagatellisierung der von den Nationalsozialisten ausgehenden Gefahr – die wir ebenso wie alle anderen sträflich unterschätzt hatten – war eine andere. Wir glaubten, wenn die Nazis an die Macht kämen, würden sie nach kurzer Zeit von einer radikalen Arbeiterklasse unter der Führung der KPD gestürzt werden, schon jetzt eine Armee aus drei- bis vierhunderttausend Kämpfern. Hatte sich die Zahl der Wählerstimmen für die Kommunisten seit 1928 nicht ebenso schnell erhöht wie die für die Nationalsozialisten? Ging sie Ende 1932 nicht noch immer steil weiter nach oben, als der Stimmenanteil der NSDAP bereits wieder zurückging? Dennoch zweifelten wir nicht daran, daß die Wölfe eines faschistischen Regimes gegen uns losgelassen würden. Und so kam es dann auch: Die ersten Konzentrationslager des Dritten Reichs waren primär zur Inhaftierung von Kommunisten gedacht.

Rechtfertigungen für den Wahnsinn der Kominternlinie lassen sich zweifellos finden, auch wenn es Sozialisten und kritische oder zum Schweigen gebrachte Kommunisten gab, die sich ihr widersetzten. Gut siebzig Jahre später und mit der Klugheit dessen, der als Fachhistoriker weiß, wie die Sache ausging, beurteilt man die Möglichkeit, Hitlers Machtübernahme damals durch ein Zusammengehen aller Antifaschisten zu verhindernn, weniger optimistisch, als wir es später in den dreißiger Jahren getan hatten. Jedenfalls war 1932 eine parlamentarische Mehrheit der Mitte-links-Parteien nicht mehr möglich, selbst nicht in dem doppelt unwahrscheinlichen Fall, daß die Kommunisten bereit gewesen wären, sich ihr anzuschließen, und daß die Sozialdemokraten oder gar das katholische Zentrum sie akzeptiert hätten. Die Weimarer Republik ging mit Brüning unter. Hitler hätte allerdings aufgehalten werden können – durch den Reichspräsidenten, die Reichswehr und die verschiedenen autoritären Reaktionäre und Wirtschaftsführer, die dann ans Ruder kamen und das, was auf den 30. Januar folgte, sicher nicht gewollt hatten. Hitler und die Dynamik des Aufstiegs der NSDAP wurden ja von ihnen nach dem Wahltriumph im Sommer 1932 gebremst. Es gab nichts Unausweichliches an den Ereignissen, die zu seiner Ernennung als Reichskanzler führten. Doch zu diesem Zeitpunkt gab es nichts, was die Sozialdemokraten oder die Kommunisten daran hätten ändern können.

Wie auch immer, in der Rückschau war die Kominternlinie sinnlos. Standen wir ihr in irgendeiner Hinsicht kritisch gegenüber? Sehr wahrscheinlich nicht. Ein radikaler, unumkehrbarer Wandel war das, was wir wollten. Nationalsozialisten und Kommunisten waren Parteien der Jungen und sei es auch nur, weil jüngere Männer von einer Politik der Tat, einer Loyalität und einem Extremismus, der unbefleckt ist von den niedrigen, unaufrichtigen Kompromissen derjenigen, die in der Politik eine Kunst des Möglichen sehen, keineswegs abgestoßen werden. (Der Nationalsozialismus ließ Frauen nur wenig öffentlichen Raum, und in dieser Phase zog die überwiegend männliche kommunistische Bewegung mit ihrem leidenschaftlichen Eintreten für die Rechte der Frauen leider nicht mehr als eine Minderheit außergewöhnlicher Frauen an.) Tatsächlich waren die militanten Verbände der Jungkommunisten die wichtigsten Werkzeuge der Komintern, um die häufig widerstrebenden älteren Führer der Parteien in die Extreme einer Politik von »Klasse gegen Klasse« zu treiben. Natürlich waren die Nazis unsere Feinde auf der Straße, aber das galt auch für die Polizei, und die Chefs der Polizei in Berlin, deren Leute am 1. Mai 1929 an die dreißig Arbeiter getötet hatten, waren Sozialdemokraten. Die KPD hatte diesen Zwischenfall zu einem Paradebeispiel für den Klassenverrat der Sozialdemokraten gemacht. Und wer konnte die Institutionen der Justiz und des Staates in Weimar achten, die im wesentlichen die des Kaiserreichs waren, nur ohne den Kaiser?

Wir hatten somit auffallende Ähnlichkeiten mit den jungen Radikalen von 1968, jedoch mit vier wesentlichen Unterschieden. Erstens waren wir keine Minderheit von radikalen Dissidenten in Gesellschaften, denen es wirtschaftlich noch nie so gut gegangen war und deren politische Systeme unstreitig stabil waren. Im wirtschaftlich sturmgepeitschten und politisch morschen Deutschland von 1932 bildeten diejenigen, die den Status quo radikal ablehnten, die Mehrheit. Zweitens, anders als die radikalen Studenten von 1968 waren wir – die Rechten wie die Linken – keine Protestierer, sondern an einem im wesentlichen revolutionären Kampf um politische Macht beteiligt, genauer gesagt disziplinierte Massenparteien, die nach der alleinigen staatlichen Macht strebten. Was immer danach kommen würde, die Eroberung der Macht war der erste, unverzichtbare Schritt. Drittens waren vergleichsweise wenige von uns auf der extremen Linken Intellektuelle, und sei es auch nur, weil selbst in einem Land mit einem so guten Schulwesen wie Deutschland über 90 Prozent der jungen Menschen nicht einmal eine weiterführende Schulbildung erhielten. Und innerhalb der intellektuellen Jugend waren wir auf der Linken eine bescheidene Minderheit. Der Löwenanteil der höheren Schüler befand sich mit ziemlicher Sicherheit auf der Rechten, wenngleich – wie an meiner Schule – nicht unbedingt auf der nationalsozialistischen Rechten. Unter den Studenten hatte Hitler eine bekanntermaßen starke Anhängerschaft.

Der vierte Unterschied war der, daß die kommunistischen Intellektuellen keine kulturellen Dissidenten waren. Anders als in der Ära der Rockmusik verlief die Haupttrennungslinie auf kultureller Ebene nicht zwischen den Generationen, sondern zwischen denen, die den von den Nazis so genannten »Kulturbolschewismus« bejahten, und denen, die ihn ablehnten – es war letztlich ein politischer Konflikt. Mit diesem Kampfbegriff war fast alles gemeint, was die vierzehn Jahre der Weimarer Republik zu einer solch außergewöhnlichen Ära in der Geschichte der Künste und Wissenschaften gemacht hatte. Zumindest in Berlin teilten wir diese Kultur mit den Älteren, denn der prästalinistische Kommunismus, der scharf unterschied zwischen Schriftstellern und Künstlern mit der »richtigen« und solchen mit der »falschen« Linie, lehnte noch nicht die Männer und Frauen der kulturellen Avantgarde ab, die so vorbehaltlos die Oktoberrevolution begrüßt und die Abneigung der KPD gegen die Republik Eberts und Hindenburgs geteilt hatten. Der »sozialistische Realismus« lag noch jenseits des Horizonts. Eine Bewunderung für Brecht, das Bauhaus und George Grosz zog keinen Strich zwischen Eltern und Kindern, wohl aber zwischen der Rechten und einer Art kultureller Volksfront, die sich von den sozialdemokratischen Behörden in Preußen und Berlin bis zu den äußersten Rändern einer anarchistischen Boheme erstreckte. Sie vereinte auch Liberale mit der Linken. Der Hauptgrund, warum die DDR zu ihrer Zeit eine weitaus liberalere Gesetzgebung zu Geburtenkontrolle und Abtreibung hatte als die Bundesrepublik, lag darin, daß für die KPD der Weimarer Republik die Forderung nach Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen eines der Hauptwahlkampfthemen war. Ich blicke auf mein Exemplar des Schulkampfs, und dort, neben Ankündigungen von Kampfreden bekannter sexual-emanzipatorischer Mediziner, findet sie sich noch.

Während ich meine Erfahrung der letzten Monate der Weimarer Republik rekonstruiere, wie kann ich meine Erinnerungen von dem trennen, was ich heute als Historiker weiß, was ich heute, nach einem Leben politischer Reflexionen und Debatten darüber denke, was die Linke damals hätte tun oder nicht tun sollen? Damals wußte ich über das, was zwischen dem Triumph der Nationalsozialisten bei den Wahlen vom 30. Juli 1932 und Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 geschah, nicht mehr als das, was ich in der Vossischen Zeitung las. Jedenfalls reagierte ich auf die Nachrichten nicht eigentlich politisch oder kritisch, sondern wie ein romantischer Parteigänger oder der Anhänger einer Fußballmannschaft. Der Streik bei der Berliner Verkehrs-Gesellschaft, zu dem es kurz vor den letzten demokratischen Wahlen der Republik Anfang November 1932 kam, war damals und auch später immer wieder Gegenstand von erbitterten Auseinandersetzungen. Er wurde gegen den Widerstand der offiziellen (sozialdemokratischen) Gewerkschaften von der kommunistischen RGO (Rote Gewerkschaftsopposition) erfolgreich ausgerufen, und da die Nationalsozialisten sorgsam darauf bedacht waren, nicht den Kontakt zu den Arbeitern zu verlieren, wurde er auch von der Gewerkschaftsorganisation der Nazis unterstützt. Es erstaunt nicht, daß diese vorübergehende gemeinsame Front zwischen Rot und Braun in den letzten Tagen der Weimarer Republik eine schlechte Presse hatte und bis heute gegen die Kommunisten von Weimar ins Feld geführt wird. Sie zeigt sicherlich die Irrationalität einer Partei, die in dem Wissen, daß der Eintritt Hitlers in die Regierung sehr wahrscheinlich kurz bevorstand, die Sozialdemokraten weiterhin als ihren Hauptgegner betrachtete. Wie die Dinge lagen, trug dieser Streik unmittelbar zwar zu einem steilen Anstieg der bei den Wahlen vom 6. November für die Kommunisten abgegebenen Stimmen bei, während die Nationalsozialisten einen starken Einbruch erlebten – doch beides spielte bald keine Rolle mehr. Trotzdem kann ich mich nicht erinnern, daß ich die Frage mit jemandem während des Streiks diskutiert oder daß sie mich in irgendeiner Form näher beschäftigt hätte. Es war »unser« Streik. Deshalb waren wir dafür. Wir wußten, daß wir der Hauptfeind der Nazis und ihr Hauptangriffsziel waren. Daher erschien uns die Idee, man könnte uns beschuldigen, wir würden Hitler in die Hände arbeiten, absurd. Es war doch alles in Ordnung?

Dennoch gab es ein Problem. Selbst als Jugendliche, die von der Unvermeidlichkeit der Weltrevolution überzeugt waren, wußten wir oder hätten es in den letzten Monaten des Jahres 1932 wissen müssen, daß sie im Augenblick nicht zu erwarten war. Wir waren uns sicherlich nicht bewußt, daß die internationale kommunistische Bewegung 1932 fast auf ihrem tiefsten Punkt seit der Gründung der Komintern angelangt war, aber wir wußten, daß wir kurzfristig eine Niederlage erleiden würden. Es waren ja nicht wir, die nach der Macht griffen. Weder die Rhetorik noch die praktische Strategie der KPD gingen von einer bevorstehenden Machtübernahme aus. (Im Gegenteil, die Partei traf Vorbereitungen für ein Abtauchen in die Illegalität, wenn auch, wie sich herausstellte, offenbar ungenügende: Ihr Führer Ernst Thälmann wurde in den ersten Monaten des neuen Regimes gefaßt und in einem der neuen Konzentrationslager inhaftiert.) Damit nicht genug, nachdem Hitler an die Macht gekommen war, gab es keinen Raum mehr für Illusionen. Welcher Art waren also die Gedanken, die solche heranwachsenden Möchtegern-Radikale wie mich damals bewegten?

Ganz sicher hat uns die Gewißheit, daß wir letztlich eine weltweite Bewegung waren, getröstet. Die triumphierende UdSSR des ersten Fünfjahresplans stand hinter uns. Irgendwo noch weiter im Osten befand sich die chinesische Revolution auf dem Marsch. Daß es einen Sturm über Asien gab (um den Titel von Pudowkins großartigem Film zu zitieren), rückte den Kommunisten von damals Asien vermutlich stärker ins Bewußtsein als jedem anderen. Es war die Zeit, als China für Bertolt Brecht und André Malraux zum Schauplatz der Revolution schlechthin wurde und zum Prüfstein dafür, was sie bedeutete. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, daß die einzige Schlagzeile in den Zeitungen von damals, an die ich mich erinnere (außer denen, die sich auf die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und auf den Reichstagsbrand bezogen), die Meldung von einer Meuterei war, auf einem holländischen Kriegsschiff, der Zeven Provincies, vor Java, wenige Tage nach Hitlers Machtantritt. Es war nicht das Drama des Aufstands, was wir erwarteten, sondern das der Verfolgung. Das Bild in unserer Vorstellung – zumindest in meiner – war das von Gefahr, Festnahme, Widerstand gegen ein Verhör, trotzigem Aufbegehren in der Niederlage. Zumeist versetzten wir uns in die Rolle, die innerhalb von weniger als einem Jahr im wirklichen Leben von Georgi Dimitroff gespielt werden würde, der Göring beim Reichstagsbrandprozeß die Stirn bot. Stets jedoch in der Zuversicht, die wir aus dem Marxismus bezogen, daß unser Sieg schon jetzt in den Text der Geschichtsbücher der Zukunft eingeschrieben war.

Soviel zu unserer Phantasie. Und was war mit der Wirklichkeit? Für die Zeit bis kurz vor dem 30. Januar 1933 kann ich mich an keine konkrete kommunistische Aktivität erinnern außer der Teilnahme an den Treffen der SSB-Zelle. Wie alle anderen hatten mich der deutliche Rückgang der Stimmen für die NSDAP am 6. November 1932 und der gleichzeitige starke Stimmenzuwachs für die KPD beflügelt – aber ich bin mir ziemlich sicher, daß ich keine Vorstellung davon hatte, was der Sturz der Regierung Papen bedeutete, die Aktivitäten der kurzlebigen Regierung unter General Schleicher, dem letzten Kanzler vor Hitler, oder die Dezemberkrise innerhalb der NSDAP, als Hitler den nach ihm wichtigsten oder zumindest prominentesten Parteigenossen, Gregor Strasser, aus der Partei ausschloß. Andererseits kam es durchaus nicht unerwartet, daß die Braunhemden eine immer aggressivere und gezielt provozierende Taktik verfolgten und daß ihr Treiben von der Obrigkeit stillschweigend geduldet wurde. Am 25. Januar 1933 organisierte die KPD ihre letzte legale Demonstration, einen Massenmarsch durch die dämmrigen Straßen Berlins zur Parteizentrale, dem Karl-Liebknecht-Haus am Bülowplatz (heute Rosa-Luxemburg-Platz), als Reaktion auf einen provozierenden Massenaufmarsch der SA auf demselben Platz. An dieser Demonstration habe ich teilgenommen, wahrscheinlich mit einigen Genossen vom SSB, auch wenn ich mich im einzelnen nicht an sie erinnern kann.

Neben der sexuellen Begegnung ist die Aktivität, bei der sich körperliches und seelisches Erleben in höchstem Maße verbinden, die Teilnahme an einer Massendemonstration in Zeiten starker öffentlicher Begeisterung. Im Unterschied zur sexuellen Intimität, die im wesentlichen individueller Natur ist, wird sie kollektiv erlebt, und im Unterschied zum sexuellen Höhepunkt, jedenfalls bei Männern, kann hier das Hochgefühl stundenlang anhalten. Andererseits ist auch hier eine körperliche Aktivität im Spiel – Marschieren, Skandieren von Slogans, Singen –, wodurch das Aufgehen des Individuums in der Masse, das eigentliche Wesen der kollektiven Erfahrung, seinen Ausdruck findet. Die Veranstaltung war für mich unvergeßlich, auch wenn ich mich an keine Einzelheiten mehr erinnern kann. Was mir im Gedächtnis geblieben ist, sind endlose Stunden, in denen wir marschierten oder uns abwechselnd vorwärts schoben und stehenblieben, alles in einer eisigen Kälte – die Berliner Winter sind streng – zwischen düsteren Gebäuden (und Polizisten?) auf den dunklen winterlichen Straßen. Ich kann mich nicht an rote Fahnen und Spruchbänder erinnern, aber soweit es sie gab, gingen sie in der grauen Masse der Demonstranten unter. Woran ich mich erinnere ist, daß wir gesungen haben, unterbrochen von tiefem Schweigen. Wir sangen – ich besitze noch immer das zerfledderte Flugblatt mit den Texten der Lieder, wobei ich meine Lieblingslieder angekreuzt hatte – die »Internationale«, das Lied aus dem Bauernkrieg »Wir sind des Geyers schwarze Haufen«, das sentimentale und ziemlich holprige Begräbnislied »Der kleine Trompeter«, das Erich Honecker sich angeblich für seine Beerdigung gewünscht hat, »Dem Morgenrot entgegen«, das Lied der sowjetischen Roten Flieger, Hanns Eislers »Der rote Wedding« und das langsame, feierliche, strenge »Brüder zur Sonne zur Freiheit«. Wir gehörten zusammen. Wie in Trance kehrte ich nach Halensee zurück. Als ich zwei Jahre später, isoliert in England, über die Grundlage meines Kommunismus nachdachte, war dieses Gefühl einer Massenekstase einer ihrer fünf Bestandteile – neben dem Mitgefühl für die Ausgebeuteten, dem ästhetischen Reiz eines vollkommenen und umfassenden intellektuellen Systems, dem »dialektischen Materialismus«, ein wenig von der Blakeschen Vision vom neuen Jerusalem und einer kräftigen Portion intellektueller Spießerfeindlichkeit.6 Doch im Januar 1933 habe ich meine Überzeugungen nicht analysiert.

Fünf Tage später wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt. Ich habe bereits das Erlebnis geschildert, als ich die Schlagzeilen las, irgendwo auf dem Heimweg von der Schule mit meiner Schwester. Ich sehe es immer noch vor mir, wie in einem Traum. Wir wissen heute, daß er sich dem Vorschlag der Konservativen widersetzte, die Kommunistische Partei sofort zu verbieten, zum Teil, weil dies einen verzweifelten Versuch der Partei zu einem öffentlichen Widerstand hätte auslösen können, in der Hauptsache jedoch, weil die weitere Präsenz der KP der Behauptung der Nationalsozialisten mehr Überzeugungskraft verlieh, nur die SA könnten das Land vor dem Bolschewismus bewahren, und um der gewaltigen Demonstration der Nationalsozialisten am Tag der Machtübergabe eher einen nationalen Charakter als den eines Parteiaufmarschs zu geben. (Man kann sich unmöglich vorstellen, daß irgend jemand, auch nicht sie selbst, den Aufruf zu einem Generalstreik ernst genommen hätte, den die KPD-Führung angeblich am 30. Januar 1933 erlassen hat, vermutlich damit später niemand behaupten konnte, sie habe nicht einmal eine Geste des Widerstands versucht.) Tatsächlich wurden die SA und die (damals noch wenig bedeutende) SS sehr bald als Hilfspolizei eingesetzt und begannen ihre eigenen Konzentrationslager einzurichten – vorläufig ohne offizielle staatliche Befugnis.

Die neue Regierung wollte um jeden Preis verhindern, daß der Reichstag oder irgend jemand im Reichstag auch nur die geringste Möglichkeit zu einer Meinungsäußerung hätte, als sie ihn unverzüglich auflöste und für den frühestmöglichen Termin, den 5. März 1933, Neuwahlen ansetzte. Innerhalb weniger Tage beschränkte eine Verordnung »zum Schutze des deutschen Volkes« die Pressefreiheit und stellte eine bald eingeführte »Schutzhaft« in Aussicht. Am 24. Februar wurden in Preußen die SA und die SS zu Hilfspolizisten ernannt. An diesem Tag führte die Polizei Razzien in den Parteizentralen durch und behauptete, dort befänden sich große Mengen an hochverräterischem Material, konnte jedoch nichts Belastendes von Bedeutung entdecken. Das waren die Umstände, unter denen die letzten nominell freien Wahlen unter Beteiligung aller Parteien der Weimarer Republik abgehalten werden sollten. Und dann, weniger als eine Woche vor dem Wahltermin, wurde ein völlig unerwarteter Joker in den Kartenstapel geschoben, der ohnedies bereits gegen die Opposition präpariert war. In der Nacht des 27./28. Februar wurde das Reichstagsgebäude angezündet und brannte völlig aus. Wer immer der Brandstifter war, die Nationalsozialisten nutzten unverzüglich die Gelegenheit, und zwar so spektakulär effizient, daß die meisten Antifaschisten überzeugt waren, sie hätten den Brand selbst gelegt.* Eine Notverordnung am nächsten Tag setzte die Meinungs-, Presse- und Vereinsfreiheit sowie das Briefund Fernmeldegeheimnis außer Kraft. Darüber hinaus wurden der Reichsregierung auch Eingriffe in die Länder erlaubt, um dort die Ordnung wiederherzustellen. Göring hatte bereits Anweisung gegeben, Kommunisten und andere unerwünschte Personen zu verhaften. Sie wurden in improvisierte Gefängnisse geschleppt, schwer mißhandelt und gefoltert und in manchen Fällen sogar umgebracht. Bis April 1933 befanden sich allein in Preußen 25.000 Personen in »Schutzhaft«.

Die unmittelbare Reaktion des SSB oder zumindest mein Anteil daran bestand darin, den Kopierer in die Wohnung meiner Tante zu bringen. Wahrscheinlich war es derselbe, mit dem die letzten Ausgaben des Schulkampfs gedruckt wurden. Die Genossen gelangten zu dem Schluß, da ich britischer Staatsbürger sei, befände ich mich weniger in Gefahr; vielleicht dachten sie auch, die Polizei werde unsere Wohnung nicht so schnell durchsuchen. Einige Wochen lang versteckte ich das Gerät unter meinem Bett, einen ziemlich breiten, braunen Holzkasten von jenem vorsintflutlichen Typ, bei dem Wachsmatrizen, auf die der Text ohne Farbband getippt wurde, auf eine eingefärbte durchlässige Fläche gelegt wurden und jedes Blatt einzeln gedruckt werden mußte. Irgendwann später kam jemand und nahm den Apparat wieder mit. Ich kann mich nicht erinnern, daß er während dieser Zeit benutzt wurde, sonst hätte selbst meine wenig pingelige Tante mit Sicherheit gegen die fast unvermeidlichen schwarzen Farbflecken in meinem Zimmer protestiert. Es war eben noch keine selbstreinigende Maschine.

Anscheinend wurde zur Herstellung der Flugblätter, die wir im nächsten Wahlkampf verteilen sollten, eine zweckmäßigere Druckmaschine benutzt. Mein Einsatz bei diesem Wahlkampf war vermutlich die erste wirklich politische Arbeit, die ich geleistet habe. Es war zugleich meine Einführung in eine charakteristische Erfahrung der kommunistischen Bewegung: etwas Hoffnungsloses und Gefährliches zu tun, weil man von der Partei den Auftrag dazu bekommen hatte. Zugegeben, wahrscheinlich hätten wir auch so den Wunsch verspürt, beim Wahlkampf mitzuhelfen, doch angesichts der Situation war das, was wir getan haben, eine Geste unserer Hingabe an den Kommunismus, das heißt an die Partei. Es lag auf derselben Linie, daß ich, als ich einmal allein mit zwei SA-Leuten in der Straßenbahn saß und natürlich Angst hatte, trotzdem nicht mein Abzeichen verdeckte oder aus dem Revers nahm. Wir gingen in die Mietshäuser und warfen, im obersten Stock beginnend, die Flugblätter in die Briefschlitze der einzelnen Wohnungstüren, bis wir vor Anstrengung keuchend aus der Haustür traten und uns umsahen, ob Gefahr drohte. Darin lag ein Element des Wildwestspielens – wir waren die Indianer und nicht die US-Kavallerie –, doch die reale Bedrohung war immerhin so groß, daß wir wirkliche Angst empfanden und zugleich eine Erregung darüber, daß wir eine Gefahr auf uns nahmen. Ungefähr ein Jahr später beschrieb ich es in meinem Tagebuch als »ein leichtes, trockenes Gefühl, als ob sich die Haut zusammenzieht, wie wenn man einem Mann gegenübersteht, der zum Schlag auf dich ausholt«. Was würde passieren, wenn hinter der Haustür auf der Straße ein feindseliges Gesicht wartete, wenn eine braune Uniform die Treppe herunterkäme, wenn unsere Ausgänge zur Straße blockiert wären? Das Verteilen von Aufrufen, die KPD zu wählen, war kein Spaß, schon gar nicht in den Tagen nach dem Reichstagsbrand. Auch nicht das Ankreuzen der KPD auf dem Wahlzettel am 5. März, auch wenn 13 Prozent der Wähler es taten. Wir hatten ein Recht darauf, Angst zu empfinden, denn wir setzten nicht nur die eigene Haut aufs Spiel, sondern auch die unserer Eltern.

Die Partei wurde offiziell verboten. Die bislang illegalen Konzentrationslager wurden legalisiert. Der Befehl zur Errichtung Dachaus, des ersten der neuen Lager, erging am 20. März 1933, demselben Tag, an dem der Reichstag (jetzt ohne die verbotenen Kommunisten) einem Ermächtigungsgesetz zustimmte, das alle staatliche Macht in die Hände Hitlers und seiner Partei legte und mit dem der Reichstag sich selbst abschaffte. Wenige Tage später erfuhren meine Schwester und ich, daß wir nach England gehen würden. Alle eventuellen Hoffnungen Onkel Sidneys auf Barcelona hatten sich zerschlagen. Hitler hatte Anfang April einen Boykott jüdischer Geschäfte ausgerufen, und als ich mich von meinen Freunden verabschiedete, verabredete ich mit einem von ihnen – wahrscheinlich Gerhard Wittenberg –, er solle mir Zeitungsberichte darüber nachsenden. (Er gab mir die Adresse der Kibbuzorganisation, der er sich anschließen wollte, wenn er nach Palästina auswanderte.) Dann reisten wir ab. Auch Tante Mimi wollte nicht länger in Berlin bleiben. Ihre Pension lief nicht besser als ihre früheren Unternehmungen, und unsere Abreise beraubte sie einer wichtigen Einkommensquelle. Ich erinnere mich undeutlich, daß Nancy zu Tante Gretl und dem kleinen Peter fahren sollte – war es in Barcelona? –, von wo aus sie Onkel Sidney und mir nach England folgen würden. Es war ein weiterer verwirrender Schritt im entwurzelten Leben eines landesfremden Kindes. Onkel Sidney holte mich ab. Auch wenn meine Leidenschaft inzwischen ganz der Politik galt, sorgte ich noch dafür, daß das alte Fahrrad mit dem verzogenen Rahmen, das Geschenk meiner Mutter, das mich so oft in Verlegenheit gestürzt hatte, verlorenging, als die persönliche Habe der Hobsbaums für die Unterbringung im Lagerhaus einer Spedition verpackt wurde.

Während der nächsten rund dreißig Jahre sollte ich nicht nach Berlin zurückkehren, aber ich habe es bis auf den heutigen Tag nie vergessen.

* Wie absurd diese Behauptung war, zeigt sich am Beispiel des Führers der italienischen Kommunisten, Palmiro Togliatti, der noch 1933 (!) genötigt wurde, »Selbstkritik« zu üben, weil er festgestellt hatte, zumindest im Italien Mussolinis könne man unmöglich behaupten, die Sozialdemokratie sei »die Hauptgefahr«.

* Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (2002) ist die allgemeine Meinung unter Historikern noch immer die, daß der Brand von einem jungen Holländer der Linken gelegt wurde, der mit dieser spektakulären Protestaktion die Arbeiter zu einer Reaktion veranlassen wollte, und also kein Manöver der Nationalsozialisten war.

Das Zeitalter der Extreme

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