Читать книгу Die Maske des Dimitrios - Eric Ambler - Страница 4
1 Ursprung einer Obsession
ОглавлениеEin Franzose namens Chamfort, der es hätte besser wissen müssen, hat einmal gesagt, dass Zufall ein Spitzname für Vorsehung sei.
Dies ist einer jener bequemen, fragwürdigen Aphorismen, die geprägt wurden, um die unangenehme Wahrheit zu verschleiern, dass der Zufall eine wichtige, wenn nicht die Hauptrolle im Leben der Menschen spielt. Ganz abwegig ist Chamforts Gedanke jedoch nicht. Der Zufall kommt manchmal so unsicher daher, dass man ihn leicht mit dem Ergebnis bewusster Vorsehung verwechseln kann.
Ein Beispiel dafür ist die Geschichte von Dimitrios Makropoulos.
Dass jemand wie Latimer von der Existenz eines Mannes wie Dimitrios erfährt, ist an sich schon grotesk. Dass er die Leiche dieses Dimitrios zu sehen bekommt, kostbare Wochen darauf verwendet, Licht in die dunkle Geschichte dieses Mannes zu bringen, und sein Leben schließlich der eigenwilligen Wohnungseinrichtung eines Verbrechers verdankt – das alles ist von atemberaubender Absurdität.
Gleichwohl, wenn man diese Umstände zusammen mit den anderen Fakten dieses Falles betrachtet, ist es schwer, nicht in abergläubischer Ehrfurcht zu versinken. Angesichts der ganzen Absurdität scheint sich der Gebrauch des Wortes ›Zufall‹ zu verbieten. Für den Skeptiker bleibt nur ein Trost: Sollte es so etwas wie ein übernatürliches Gesetz geben, so wird es außerordentlich stümperhaft angewendet. Die Entscheidung, Latimer zu seinem Instrument zu machen, konnte nur ein Idiot getroffen haben.
Charles Latimer hatte die ersten fünfzehn Jahre seines Erwachsenenlebens als Dozent für Volkswirtschaft an einer kleineren englischen Universität verbracht. Mit fünfunddreißig hatte er außerdem drei Bücher geschrieben. Das erste war eine Arbeit über den Einfluss Proudhons auf die politischen Theorien im Italien des neunzehnten Jahrhunderts. Das zweite trug den Titel Das Gothaer Programm von 1875. Das dritte war eine Untersuchung über die wirtschaftspolitischen Implikationen von Rosenbergs Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts.
In der Hoffnung, die schwarzen Gedanken zu vertreiben, die sich im Gefolge seiner zeitweiligen Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Philosophie und ihrem Propheten, Dr. Rosenberg, bei ihm eingestellt hatten, schrieb Latimer, unmittelbar nachdem er den Stapel Fahnen zu seinem dritten Werk korrigiert hatte, seinen ersten Kriminalroman.
Eine blutige Schaufel fand sofort großen Anklang. Es folgte »Ich«, sagte die Fliege und Tödliche Waffen. Aus der großen Schar von Professoren, die in ihrer Freizeit Detektivgeschichten schreiben, trat Latimer bald als einer der wenigen Verschämten hervor, die mit ihrem Hobby Geld verdienen konnten. Es war wohl unausweichlich, dass er die Schriftstellerei früher oder später zu seinem Hauptberuf machte. Drei Dinge beschleunigten diese Entwicklung. Erstens eine Meinungsverschiedenheit mit der Universitätsverwaltung in einer für ihn grundsätzlichen Frage. Zweitens eine Erkrankung, drittens der Umstand, dass er Junggeselle war. Wenig später veröffentlichte er Eine böse Überraschung, und nach seiner Krankheit, die seine Konstitution sehr geschwächt hatte, reichte er ohne großes Bedauern seine Kündigung ein und beschloss, seinen fünften Kriminalroman in einem wärmeren Klima zu beenden.
Sobald sein sechstes Buch fertig war, fuhr er in die Türkei. Er hatte ein Jahr in Athen und Umgebung verbracht und sehnte sich nach einer Ortsveränderung. Gesundheitlich ging es ihm schon viel besser, aber die Aussicht auf einen englischen Herbst erschien ihm nicht verlockend. Auf Vorschlag eines griechischen Freunds fuhr er mit dem Schiff von Piräus nach Istanbul.
Dort hörte er durch Oberst Hakki zum ersten Mal von Dimitrios.
Empfehlungsbriefe sind eine heikle Sache. Meist kennt der Schreiber den Überbringer nur flüchtig und den Empfänger womöglich noch weniger, und es besteht nur geringe Aussicht, dass die Übergabe alle drei zufriedenstellt.
Einer der Empfehlungsbriefe, mit denen Latimer in Istanbul eintraf, war an eine Madame Chavez adressiert, die in einer Villa am Bosporus wohnte. Drei Tage nach seiner Ankunft schrieb er ihr, woraufhin sie ihn zu einer viertägigen Party in ihre Villa einlud. Mit gemischten Gefühlen sagte er zu.
Für Madame Chavez, eine sehr attraktive Türkin, war der Weg von Istanbul nach Buenos Aires ebenso mit Gold gepflastert gewesen wie der Weg zurück. Sie hatte einen reichen argentinischen Fleischindustriellen geheiratet, sich scheiden lassen und mit einem Bruchteil ihres dabei erzielten Gewinns einen kleinen Palast gekauft, der früher einem Angehörigen der türkischen Herrscherfamilie gehört hatte. Die Villa lag, schwer zugänglich und abgelegen, an einer Bucht mit phantastischem Blick und war – wenn man davon absah, dass die Wasserversorgung nicht einmal für eines der insgesamt neun Badezimmer ausreichte – großzügig ausgestattet. Latimer, dem dieser grandiose Mangel an Komfort ungewohnt war, hätte sich wohlgefühlt, wären nicht die anderen Gäste gewesen und hätte seine Gastgeberin nicht nach türkischer Sitte ihre Angestellten ins Gesicht geschlagen, wenn sie, was oft vorkam, mit ihnen unzufrieden war.
Bei den anderen Gästen handelte es sich um zwei lärmende Franzosen aus Marseille, drei Italiener, zwei junge türkische Seeoffiziere mit ihren derzeitigen »Bräuten« und einige Istanbuler Geschäftsleute mit ihren Frauen. Die meiste Zeit trank man Madame Chavez’ scheinbar unerschöpfliche Vorräte an holländischem Gin und tanzte zu den Klängen eines Grammophons, während ein Diener pausenlos neue Platten auflegte, selbst dann, wenn nicht getanzt wurde. Der Hinweis auf seine angeschlagene Gesundheit diente Latimer als Vorwand, sich vor dem Trinken und dem Tanzen weitgehend zu drücken. Niemand beachtete ihn.
Am frühen Abend seines letzten Tages dort, während er draußen auf einer weinumrankten Terrasse saß, wo das Grammophon nicht zu hören war, sah er eine große Limousine den langen, staubigen Weg zur Villa heraufkommen. Der Wagen rollte in den Innenhof, und noch ehe er hielt, stieß die Person, die im Fond saß, die Tür auf und sprang hinaus.
Es war ein hochgewachsener Mann mit hagerem, muskulösem, leicht gebräuntem Gesicht, zu dem die grauen Stoppelhaare sehr gut passten. Das schmale Stirnbein, die lange Nase und die dünnen Lippen gaben ihm etwas Raubtierhaftes. Latimer schätzte ihn auf mindestens fünfzig, und neugierig musterte er die Taille unter der elegant geschnittenen Offiziersuniform, in der Hoffnung, die Andeutung eines Korsetts zu entdecken.
Der schlanke Offizier zog ein seidenes Taschentuch aus dem Ärmel, wischte ein paar unsichtbare Stäubchen von seinen glänzenden Reitstiefeln, setzte sich die Mütze verwegen auf den Kopf und verschwand mit langen Schritten aus dem Blickfeld. Irgendwo in der Villa läutete eine Klingel.
Oberst Hakki – so hieß der Mann – war sofort Mittelpunkt der Party. Eine Viertelstunde nach seinem Eintreffen kam Madame Chavez mit ihm auf die Terrasse und stellte ihn vor, wobei ihr Ausdruck schüchterner Verwirrtheit den Gästen offensichtlich signalisieren sollte, dass sie sich durch die unerwartete Ankunft des Obersts hoffnungslos kompromittiert fühlte. Dieser schlug die Hacken zusammen, küsste Hände, verbeugte sich lächelnd, erwiderte den Gruß der Marineoffiziere und warf den Frauen der Geschäftsleute galante Blicke zu. Dieses Schauspiel fand Latimer derart faszinierend, dass er zusammenfuhr, als die Reihe an ihn kam und sein Name genannt wurde. Der Oberst schüttelte ihm jovial die Hand.
»Wirklich schön, Sie kennenzulernen, mein Freund«, rief er.
»Monsieur le Colonel parle bien anglais«, erklärte Madame Chavez.
»Quelques mots«, sagte Oberst Hakki.
Latimer sah in ein Paar hellgraue Augen. »Sehr erfreut.«
»Habe die Ehre«, antwortete der Oberst förmlich und wandte sich dann einer drallen Schönheit im Badeanzug zu, um ihr die Hand zu küssen und sie bewundernd zu taxieren.
Erst am späten Abend sprach Latimer wieder mit dem Oberst, der mit seinen Witzen, seinem dröhnenden Lachen, den humorvoll frechen Avancen gegenüber den Ehefrauen und den eher verstohlenen gegenüber den unverheirateten Damen Leben in die Gesellschaft gebracht hatte. Von Zeit zu Zeit traf sich sein Blick mit dem Latimers, und dann grinste er entschuldigend. ›Ich muss hier den Clown spielen – das wird von mir verlangt‹, sagte das Grinsen, ›aber glauben Sie ja nicht, dass es mir gefällt.‹ Nach dem Essen, als die Gäste nicht mehr tanzen wollten, sondern ein gemischtes Spiel Strip Poker ihr Interesse erregte, nahm ihn der Oberst am Arm und ging mit ihm auf die Terrasse hinaus.
»Entschuldigen Sie, Monsieur Latimer«, sagte er auf Französisch, »aber ich würde mich gern einmal mit Ihnen unterhalten. Diese Frauen – puh!« Er hielt Latimer sein Zigarettenetui unter die Nase. »Zigarette?«
»Vielen Dank.«
Oberst Hakki sah sich um. »Der andere Teil der Terrasse ist ruhiger«, sagte er, und während sie schon losgingen, fuhr er fort: »Wissen Sie, ich bin eigentlich nur gekommen, um mit Ihnen zu sprechen. Madame hat mir erzählt, dass Sie hier sind, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Autor kennenzulernen, dessen Bücher ich so sehr bewundere.«
Latimer murmelte eine unverbindliche Antwort auf dieses Kompliment. Da er nicht wusste, ob der Oberst seine wissenschaftlichen Untersuchungen oder seine Kriminalromane meinte, war er etwas verunsichert. Einen liebenswürdigen alten Professor, der Interesse an seinem »letzten Buch« bekundet hatte, hatte er mit der Frage irritiert, ob ihm erschossene oder erschlagene Leichen lieber seien. Zu fragen, welche Sparte Bücher gemeint seien, erschien ihm albern.
Oberst Hakki fuhr ohnehin schon fort: »Ich bekomme die neuesten Kriminalromane aus Paris zugeschickt. Ich lese überhaupt nur Kriminalromane. Ich würde Ihnen gern einmal meine Sammlung zeigen. Besonders mag ich die englischen und amerikanischen. Die besten werden ins Französische übersetzt. Von den französischen Autoren halte ich nicht so viel. Aufgrund ihrer Kultur und Lebensart können sie keine erstklassigen Kriminalromane hervorbringen. Ich habe meiner Bibliothek gerade Ihr Une Pelle Ensanglantée hinzugefügt. Sehr bemerkenswert! Aus dem Titel werde ich allerdings nicht recht schlau.«
Latimer versuchte, das im englischen Titel enthaltene Wortspiel zu übersetzen, das einen Hinweis auf die Person des Mörders lieferte.
Oberst Hakki hörte aufmerksam zu, nickte mit dem Kopf und sagte: »Aha, ich verstehe«, noch ehe Latimer bei der Pointe angekommen war.
»Monsieur«, sagte er, als Latimer verzweifelt aufgab, »ich würde Sie gern an einem der nächsten Tage zum Mittagessen einladen«, und geheimnisvoll fügte er hinzu: »Ich glaube, ich könnte Ihnen helfen.«
Latimer hatte keine Ahnung, inwiefern Oberst Hakki ihm helfen konnte, nahm die Einladung aber an. Sie vereinbarten, sich drei Tage später im Hotel Pera Palace zu treffen.
Erst am Vorabend fiel Latimer die Einladung wieder ein. Er saß mit dem Chef seiner Istanbuler Bankfiliale in der Hotelhalle.
Collison war ganz nett, aber etwas langweilig. Sein Beitrag zur Unterhaltung bestand fast ausschließlich aus Klatsch über die englische und amerikanische Kolonie in Istanbul. »Kennen Sie die Fitzwilliams?«, fragte er. »Nein? Schade. Würden Ihnen gefallen. Also neulich …« Als Quelle von Informationen über die Wirtschaftsreformen unter Atatürk taugte er jedenfalls nichts.
»Übrigens«, sagte Latimer, nachdem er dem Bericht über die Frau eines amerikanischen Automobilverkäufers, eine gebürtige Türkin, gelauscht hatte, »kennen Sie einen gewissen Oberst Hakki?«
»Hakki? Wie kommen Sie denn auf den?«
»Ich bin morgen Mittag mit ihm verabredet.«
Collison zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wirklich? Donnerwetter!« Er kratzte sich am Kinn. »Ich kenne ihn vom Hörensagen.« Er zögerte. »Hakki ist einer dieser Leute, von denen man hier viel hört, aber nie Genaues. Einer der Akteure hinter den Kulissen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er hat mehr Einfluss als viele der Männer, die in Ankara das Sagen haben. War 1919 einer von Atatürks Vertrauten in Anatolien und Mitglied der provisorischen Volksversammlung. Ich habe damals schon Geschichten über ihn gehört. Soll ein blutrünstiger Hund gewesen sein. Es gab Gerüchte, dass Gefangene gefoltert wurden. Aber das haben schließlich beide Seiten gemacht, und ich behaupte, dass die Kerle des Sultans damit angefangen haben. Habe auch gehört, dass er an einem Abend ein paar Flaschen Whisky trinken kann und dabei völlig nüchtern bleibt. Glaube ich aber eher nicht. Wie sind Sie denn an ihn rangekommen?«
Latimer erklärte es. »Was für eine Stelle bekleidet er?«, fragte er dann. »Ich kenne mich mit diesen Uniformen nicht aus.«
Collison zuckte mit den Schultern. »Ich habe aus zuverlässiger Quelle gehört, dass er der Chef des Geheimdienstes ist, aber auch das dürfte nur ein Gerücht sein. Das ist das Problem hier. Von dem, was man im Club hört, kann man kein Wort glauben. Stellen Sie sich vor, erst neulich …«
Latimer ging tags darauf sehr viel neugieriger zu seiner Verabredung. Er hatte Oberst Hakki als ziemlichen Haudegen eingeschätzt, und Collisons vager Hinweis hatte ihn darin nur bestärkt.
Der Oberst, der unter einem Schwall von Entschuldigungen zwanzig Minuten zu spät kam, führte seinen Gast gleich in das Restaurant. »Wir müssen sofort einen Whisky Soda trinken«, sagte er und rief laut nach einer Flasche »Johnnie«.
Während des Essens sprach er fast nur über die Kriminalromane, die er gelesen hatte, was er von ihnen hielt, wie er die Figuren fand und dass er eine Vorliebe für Mörder hatte, die ihre Opfer erschossen. Schließlich, mit einer fast leeren Flasche Whisky neben sich und einem Erdbeereis vor sich, beugte er sich über den Tisch.
»Mr Latimer«, sagte er wieder, »ich glaube, ich kann Ihnen helfen.«
Latimer überlegte kurz, ob Hakki ihm eine Stelle im türkischen Geheimdienst anbieten würde, sagte dann aber: »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen.«
»Ich wollte immer schon mal einen guten Kriminalroman schreiben. Ich denke oft, dass ich es könnte, wenn ich nur die Zeit hätte. Das ist das Problem – die Zeit. Das ist mir inzwischen klar. Aber …« Er hielt inne.
Latimer wartete. Immer lernte er Menschen kennen, die glaubten, sie könnten Kriminalromane schreiben, wenn sie nur die Zeit hätten.
»Ich habe die Handlung skizziert«, fuhr der Oberst fort. »Ich würde Ihnen den Entwurf gern schenken.«
Latimer sagte, dass das sehr großzügig sei.
Der Oberst tat seinen Dank mit einer Handbewegung ab. »Ihre Bücher haben mir so viel Vergnügen bereitet, Mr Latimer. Ich freue mich, dass ich Ihnen die Idee zu einem neuen Buch liefern kann. Ich selbst habe nicht die Zeit, etwas daraus zu machen, und sowieso«, fügte er großmütig hinzu, »würden Sie etwas sehr viel Besseres daraus machen als ich.«
Latimer murmelte etwas Unverständliches.
»Die Geschichte spielt in England«, fuhr Oberst Hakki fort, die grauen Augen fest auf Latimer gerichtet, »auf dem Landsitz des reichen Lord Robinson. Es ist Wochenende, man feiert eine Party. Während der Party wird Lord Robinson an seinem Arbeitstisch in der Bibliothek aufgefunden – tot, mit einer Schusswunde an der Schläfe. Die Wunde weist Schmauchspuren auf. Eine Blutlache hat sich auf dem Schreibtisch gebildet und ein Blatt Papier getränkt. Es ist das neue Testament, das der Lord gerade unterzeichnen wollte. Dem alten Testament zufolge wäre sein Vermögen zu gleichen Teilen an sechs Personen gefallen, seine Verwandten, die bei der Party anwesend sind. Das neue Testament, dessen Unterzeichnung durch die Kugel des Mörders verhindert wurde, spricht alles einem der Verwandten zu. Also« – anklagend hob der Oberst seinen Eislöffel – »ist einer der fünf anderen der Täter. Ist doch logisch, oder nicht?«
Latimer öffnete den Mund, machte ihn dann wieder zu und nickte.
Oberst Hakki grinste triumphierend. »Das ist der Trick.«
»Was für ein Trick?«
»Der Lord wurde nicht von einem der Tatverdächtigen ermordet, sondern vom Butler, dessen Frau ebendieser Lord verführt hatte! Wie finden Sie das, hm?«
»Sehr raffiniert.«
Sein Gastgeber lehnte sich zufrieden zurück und strich sich über den Uniformrock. »Es ist nur ein Trick, aber ich freue mich, dass er Ihnen gefällt. Ich habe die ganze Handlung detailliert ausgearbeitet. Die Rolle des Detektivs spielt ein Kommissar von Scotland Yard. Er verführt eine der Angeklagten, eine bildschöne Frau, und ihretwegen löst er das Rätsel. Es ist ziemlich gekonnt. Aber wie gesagt, ich habe die ganze Sache ausgearbeitet.«
»Ihre Notizen würden mich sehr interessieren«, sagte Latimer ehrlich.
»Ich hatte auf diese Reaktion gehofft. Haben Sie’s eilig?«
»Keineswegs.«
»Dann könnten wir in mein Büro gehen, und ich zeige Ihnen meinen Entwurf. Er ist auf Französisch.«
Latimer zögerte nur kurz. Er hatte nichts Besseres vor, und vielleicht war es interessant, Oberst Hakkis Dienstzimmer zu sehen. »Ich komme mit«, sagte er.
Das Büro befand sich im obersten Stockwerk eines Gebäudes in Galata, das früher ein billiges Hotel gewesen sein mochte, jetzt aber unverkennbar als Sitz einer staatlichen Behörde diente. Das Büro war ein großes Zimmer am Ende eines Korridors. Als sie eintraten, beugte sich ein uniformierter Angestellter gerade über den Schreibtisch. Er richtete sich auf, schlug die Hacken zusammen und sagte etwas auf Türkisch. Der Oberst antwortete und entließ ihn mit einer Kopfbewegung. Latimer schaute sich um. Außer dem Schreibtisch standen mehrere kleine Stühle im Zimmer sowie ein amerikanischer Eiswasserspender. Die Wände waren kahl, auf dem Fußboden lagen Kokosmatten. Lange grüne Jalousien draußen vor den Fenstern hielten das Licht ab. Es war sehr kühl nach der Hitze in dem Auto, das sie gebracht hatte.
Der Oberst zeigte auf einen Stuhl, bot Latimer eine Zigarette an und begann, in einer Schublade herumzuwühlen. Schließlich holte er einige maschinenbeschriebene Seiten heraus und gab sie ihm.
»Hier, Mr Latimer. Das Blutbefleckte Testament habe ich es genannt, aber ich bin nicht sicher, ob das ein guter Titel ist. Die besten Titel sind ja alle schon verwendet worden. Aber ich werde mir etwas anderes einfallen lassen. Lesen Sie, und scheuen Sie sich nicht, mir offen Ihre Meinung zu sagen. Wenn Sie finden, dass irgendwelche Details geändert werden sollten, werde ich sie ändern.«
Latimer nahm die Notizen und las, während der Oberst auf einer Schreibtischecke saß und ein langes, glänzendes Bein schwingen ließ.
Latimer las ein zweites Mal und legte die Seiten dann wieder auf den Schreibtisch. Er schämte sich, weil er mehrere Male am liebsten gelacht hätte. Er hätte nicht mitkommen sollen. Da er aber doch mitgekommen war, sollte er möglichst schnell wieder gehen.
»Im Moment wüsste ich nicht, was man verbessern könnte«, sagte er langsam. »Natürlich muss man sich alles genau überlegen. Bei solchen Problemen macht man leicht Fehler. Es gibt so viel zu berücksichtigen. Fragen der englischen Prozessordnung, beispielsweise …«
»Ja, ja, selbstverständlich.« Oberst Hakki erhob sich von seiner Tischecke und setzte sich auf seinen Stuhl. »Aber Sie glauben, Sie können es verwenden, hm?«
»Sie sind wirklich sehr großzügig«, sagte Latimer ausweichend.
»Nicht der Rede wert. Sie werden mir ein Exemplar des fertigen Buches schicken.« Er drehte sich auf seinem Stuhl herum und griff zum Telefonhörer. »Ich werde eine Abschrift für Sie anfertigen lassen.«
Latimer lehnte sich zurück. Na gut. Lange konnte es nicht dauern, eine Kopie anzufertigen. Der Oberst sprach mit jemandem, runzelte die Stirn, legte dann den Hörer auf und wandte sich um.
»Gestatten Sie, dass ich zwischendurch eine Kleinigkeit erledige?«
»Natürlich.«
Der Oberst zog eine dicke braune Akte heran und begann zu blättern. Bei einem Dokument hielt er inne. In dem Moment klopfte es an der Tür, und der uniformierte Angestellte trat mit einem dünnen gelben Hefter unter dem Arm ein. Oberst Hakki nahm den Hefter und legte ihn vor sich auf den Schreibtisch, dann reichte er dem Beamten mit einer Anweisung das Blutbefleckte Testament. Der Mann salutierte und ging wieder hinaus. Es war ganz still im Raum.
Latimer tat, als sei er mit seiner Zigarette beschäftigt, während er über den Schreibtisch hinwegblickte. Mit einem Ausdruck, den Latimer jetzt zum ersten Mal an ihm bemerkte, blätterte Oberst Hakki langsam in der Akte. Es war der Ausdruck eines Profis, der seine Arbeit tut. Die konzentrierte Ruhe auf seinem Gesicht erinnerte Latimer an eine alte und erfahrene Katze, die eine junge und unerfahrene Maus beobachtet. In diesem Moment revidierte er seine Meinung über Oberst Hakki. Er hatte fast Mitleid für ihn gehabt, so wie man Mitleid für jemanden empfindet, der sich ungewollt blamiert hat. Jetzt erkannte er, dass der Oberst dieses Mitgefühls nicht bedurfte. Während jener mit langen, gelblichen Fingern den Hefter durchblätterte, fiel Latimer die Bemerkung von Collison ein: Es gab Gerüchte über Folter an Gefangenen. Plötzlich wusste er, dass er zum ersten Mal den wahren Oberst Hakki vor sich sah. Da blickte der Oberst auf, und seine hellen Augen ruhten nachdenklich auf Latimers Krawatte.
Für einen Moment hatte Latimer das unangenehme Gefühl, dass der Mann, der ihm gegenübersaß und auf seine Krawatte starrte, in Wahrheit in sein Innerstes sah. Dann hob der Oberst den Blick und grinste in einer Weise, dass Latimer sich vorkam, als hätte man ihn bei einem Diebstahl erwischt.
Der Oberst sagte: »Ich überlege gerade, ob Sie an echten Mördern interessiert sind, Mr Latimer.«