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4 Mr Peters

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Zwei Tage später fuhr Latimer aus Izmir ab. Er hatte Myschkin nicht wiedergesehen.

Wenn jemand glaubt, Herr seines Schicksals zu sein, tatsächlich aber Spielball von Umständen ist, auf die er keinen Einfluss hat, so ist das immer eine faszinierende Situation. Sie ist ein wesentliches Element bei den meisten guten Theaterstücken, von Sophokles’ Ödipus bis zu Boulevardkomödien. Ist man aber selbst diese Person und betrachtet die Situation im Nachhinein, so empfindet man diese Faszination mit einem leichten Grausen. Als Latimer später auf diese beiden Tage in Izmir zurückblickte, irritierte ihn daher weniger seine Ignoranz, mit der er seine Rolle gespielt hatte, als die Begeisterung, die damit einhergegangen war. Er hatte geglaubt, sich sehenden Auges auf die Sache einzulassen, dabei waren seine Augen fest geschlossen gewesen. Daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Ärgerlich war nur, dass er es so lange nicht bemerkt hatte. Natürlich tat er sich in gewisser Weise unrecht, aber sein Selbstbewusstsein war getroffen. Er, der distanzierte, neutrale Beobachter, war unwissentlich in die Rolle eines Mitwirkenden bei einem Melodrama geschlüpft.

Von dieser bevorstehenden Demütigung hatte er nicht die geringste Ahnung, als er sich am Morgen nach seinem Essen mit Myschkin mit Stift und Papier hinsetzte, um das Material seines kriminalistischen Experiments zu ordnen.

Dimitrios war Anfang Oktober 1922 aus Izmir verschwunden. Er hatte Geld gehabt und sich wahrscheinlich eine Überfahrt auf einem griechischen Dampfer gekauft. Zwei Jahre später hatte Oberst Hakki dann wieder von ihm gehört, und zwar aus Edirne. In der Zwischenzeit hatte die bulgarische Polizei in Sofia mit ihm zu tun gehabt, im Zusammenhang mit dem versuchten Attentat auf Stamboliski. Latimer wusste nicht genau, wann dieser Anschlag stattgefunden hatte, begann aber, eine ungefähre chronologische Übersicht aufzustellen.

Zeit Ort Bemerkungen Quelle
Oktober 1922 Izmir Scholem Polizeiarchiv
Anfang 1923 Sofia Stamboliski Oberst Hakki
1924 Edirne versuchtes Attentat auf Atatürk Oberst Hakki
1926 Belgrad Spionage für Frankreich Oberst Hakki
1926 Schweiz Reisepass Talaat Oberst Hakki
1929–31 (?) Paris Rauschgifthandel Oberst Hakki
1932 Zagreb kroat. Attentäter Oberst Hakki
1937 Lyon franz. Personalausweis Oberst Hakki
1938 Istanbul ermordet Oberst Hakki

Die nächste Frage war also eindeutig. Dimitrios war sechs Monate nach dem Mord an Scholem aus Izmir geflohen, hatte sich nach Sofia durchgeschlagen und an dem versuchten Attentat auf den bulgarischen Ministerpräsidenten mitgewirkt. Latimer wusste nicht, wie viel Zeit man brauchte, um in die Vorbereitungen zu einem Attentat auf einen Ministerpräsidenten einbezogen zu werden. Ziemlich klar war jedoch, dass Dimitrios bald nach seiner Abreise aus Izmir in Sofia eingetroffen sein musste. Wenn er tatsächlich an Bord eines griechischen Dampfers geflohen war, dürfte er über Piräus nach Athen gelangt sein. Von Athen konnte er Sofia auf dem Landweg via Saloniki erreicht haben oder auf dem Seeweg via Dardanellen, Goldenes Horn, Burgas oder Varna, den bulgarischen Schwarzmeerhafen. Istanbul stand seinerzeit unter Kontrolle der Alliierten, von denen er nichts zu befürchten hatte. Die Frage war nur: Was hatte ihn veranlasst, nach Sofia zu fahren?

Am sinnvollsten war es jetzt, nach Athen zu fahren und die Spur dort aufzunehmen. Das würde nicht leicht sein. Selbst wenn man jeden der Zehntausenden von Flüchtlingen, die dort angekommen waren, namentlich registriert hatte – die noch vorhandenen Namenlisten würden höchstwahrscheinlich unvollständig sein. Es hatte aber keinen Sinn, einen Misserfolg vorwegzunehmen. Latimer hatte mehrere gute Freunde in Athen, und wenn Namenlisten überhaupt existierten, so war es ziemlich sicher, dass er Zugang zu ihnen bekommen könnte. Er klappte sein Notizbuch zu.

Als das wöchentlich verkehrende Schiff nach Piräus anderntags in Izmir ablegte, befand sich Latimer unter den Passagieren.

In den Monaten nach der türkischen Eroberung von Izmir waren mehr als achthunderttausend Griechen in ihre Heimat zurückgekehrt, Schiff für Schiff, auf Deck und in den Laderäumen zusammengepfercht, viele von ihnen nackt und halb verhungert. Einige trugen in ihren Armen noch die toten Kinder, die zu begraben keine Zeit mehr geblieben war. Mit ihnen wurden Typhus und Pocken eingeschleppt.

Kriegsmüde und bankrott empfing sie das Vaterland, in dem es wenig zu essen und keine Medikamente gab. In den eilends errichteten Lagern starben die Flüchtlinge wie die Fliegen. Am Stadtrand von Athen, in Piräus, in Saloniki hausten sie im bitterkalten griechischen Winter. Der Völkerbund, der in Genf zu seiner vierten Vollversammlung zusammengetreten war, stellte dem Nansen-Flüchtlingskomitee einhunderttausend Goldfranken zur Soforthilfe in Griechenland zur Verfügung. Erste Maßnahmen wurden eingeleitet. Gigantische Flüchtlingscamps wurden errichtet, Lebensmittel, Kleider und Medikamente herangeschafft. Die Epidemien wurden eingedämmt. Die Überlebenden begannen, sich neu zu organisieren. Erstmals in der Geschichte war eine große Katastrophe durch guten Willen und Vernunft aufgehalten worden. Es schien, als entdeckte der Mensch sein Gewissen, als würde er sich endlich seiner Menschlichkeit bewusst.

All das und noch mehr hörte Latimer von einem Freund, einem gewissen Siantos, in Athen. Als er aber auf den entscheidenden Aspekt seiner Nachforschungen zu sprechen kam, verzog Siantos den Mund.

»Eine vollständige Namenliste der Flüchtlinge aus Kleinasien? Das ist ein bisschen viel verlangt. Wenn Sie gesehen hätten, wie sie ankamen … So viele und in einer solchen Verfassung …« Und dann folgte die unvermeidliche Frage: »Warum interessiert Sie das?«

Latimer wusste, dass diese Frage immer wieder auftauchen würde, und hatte sich entsprechend vorbereitet. Die Wahrheit zu sagen, zu erklären, dass er aus rein akademischen Gründen die Geschichte eines toten Verbrechers namens Dimitrios verfolgte, wäre langwierig und unsicher gewesen. Er wollte auch gar nicht hören, wie ein anderer seine Erfolgsaussichten beurteilte. Seine eigene Einschätzung war deprimierend genug. Was in einem türkischen Leichenschauhaus eine faszinierende Idee gewesen war, konnte in der hellen, warmen griechischen Herbstsonne einfach nur absurd erscheinen. Es war viel einfacher, überhaupt nichts davon zu sagen.

Er antwortete: »Es hat mit meinem neuen Buch zu tun. Ein Detail muss überprüft werden. Ich würde gern wissen, ob es möglich ist, nach so langer Zeit einen einzelnen Flüchtling aufzuspüren.«

Siantos meinte, dass er verstehe, woraufhin Latimer beschämt in sich hineingrinste. Mit dem Hinweis, dass man Schriftsteller sei, ließen sich die kuriosesten Dinge rechtfertigen.

Er hatte sich an Siantos gewandt, weil er wusste, dass der Mann in Athen einen einflussreichen Verwaltungsposten bekleidete. Aber die erste Enttäuschung wartete schon auf ihn. Nach einer Woche erfuhr er von Siantos nur, dass es ein Register gebe, dass es im Stadtarchiv untergebracht sei und dass unbefugte Personen dort keinen Zutritt hätten. Eine Genehmigung sei erforderlich. Es verstrich eine weitere Woche, in der er wartend in Kaffeehäusern saß und durstigen Herren vorgestellt wurde, die Beziehungen zur Stadtverwaltung hatten. Doch schließlich lag die Genehmigung vor, und gleich am nächsten Tag begab sich Latimer in das Gebäude, wo die Unterlagen aufbewahrt wurden.

Die Auskunftsstelle befand sich in einem schmucklosen, ausgefliesten Raum mit einem Holztresen. Der Beamte hinter dem Tresen zuckte bei Latimers Angaben nur mit den Schultern. Ein Feigenpacker mit Namen Dimitrios? Oktober 1922? Unmöglich. Die Unterlagen waren alphabetisch nach Familiennamen geordnet.

Latimer sank das Herz. Seine Bemühungen waren also umsonst gewesen. Er bedankte sich und wollte schon gehen, als ihm eine Idee kam. Es bestand ja eine winzig kleine Chance …

Er wandte sich wieder an den Beamten: »Mit Nachnamen könnte er Makropoulos geheißen haben.«

In diesem Moment merkte er, dass jemand hinter ihm eingetreten war. Die Sonne fiel schräg in den Raum und warf einen langen, verzerrten Schatten über den Fußboden, während der andere draußen am Fenster vorbeiging.

»Dimitrios Makropoulos?«, wiederholte der Beamte. »Schon besser. Wenn wir eine Person dieses Namens haben, werden wir sie finden. Es ist nur eine Frage von Geduld und Organisation. Bitte, hier entlang!«

Er klappte den Deckel hoch, sodass Latimer eintreten konnte. Dabei sah er über Latimers Schulter.

»Fortgegangen!«, rief er. »Ich habe niemanden hier, der mir hilft. Die ganze Arbeit liegt auf meinen Schultern. Trotzdem haben die Leute keine Geduld. Ich habe für einen Moment zu tun. Sie können nicht warten.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber was geht mich das an. Ich tue meine Pflicht. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

Latimer stieg auf einer steinernen Treppe in ein weitläufiges Kellergeschoss hinunter, in dem unzählige Reihen von Stahlschränken standen.

»Organisation«, murmelte der Beamte, »das ist das Geheimnis moderner Staatsführung. Organisation wird Griechenland groß machen. Ein neues Reich. Aber wir brauchen Geduld.« Er trat zu einem Schrank in einer Ecke, zog eine Schublade auf und begann, mit dem Fingernagel über eine Reihe von Karteikarten zu fahren. Schließlich hielt er inne und sah sich die Karte genau an, bevor er die Schublade schloss. »Makropoulos. Wenn es Unterlagen zu diesem Mann gibt, werden wir sie in Schrank Nummer 16 finden. Das ist Organisation.«

In Schrank Nummer 16 fand sich aber nichts. Der Beamte warf verzweifelt die Hände in die Luft und suchte ein zweites Mal, aber ohne Erfolg. Da kam Latimer eine Idee.

»Versuchen Sie es unter Talaat«, sagte er drängend.

»Das ist aber ein türkischer Name.«

»Ich weiß, versuchen Sie’s trotzdem.«

Der Beamte zuckte mit den Schultern. Wieder sah er im Hauptverzeichnis nach. »Schrank 27«, rief er etwas ungeduldig. »Sind Sie sicher, dass dieser Mann nach Athen gekommen ist? Viele sind nach Saloniki gegangen. Warum nicht auch dieser Feigenpacker?«

Genau das hatte Latimer sich auch schon gefragt. Er sagte aber nichts und beobachtete den Zeigefinger des Beamten, der abermals über eine Reihe von Karteikarten flog. Plötzlich hielt er inne.

»Haben Sie ihn?«, sagte Latimer rasch.

Der Beamte zog eine Karte heraus. »Hier ist einer«, sagte er. »Der Mann war Feigenpacker, aber er hieß Dimitrios Taladis.«

»Darf ich mal sehen?« Latimer nahm die Karte. Dimitrios Taladis! Da stand es schwarz auf weiß. Er hatte etwas gefunden, was Oberst Hakki nicht wusste. Dimitrios hatte vor 1926 den Namen Talaat benutzt. Kein Zweifel, dies war Dimitrios. Er hatte dem Namen bloß eine griechische Endsilbe angehängt. Latimer starrte auf die Karte. Und da standen noch ein paar andere Dinge, von denen Oberst Hakki nichts wusste.

Er sah dem strahlenden Beamten ins Gesicht. »Darf ich mir das abschreiben?«

»Selbstverständlich. Geduld und Organisation. Meine Arbeit ist für die Öffentlichkeit bestimmt. Aber die Karteikarte darf ich nicht aus den Augen lassen. Das ist Vorschrift.«

Unter den mittlerweile etwas irritierten Augen des Anwalts von Organisation und Geduld begann Latimer, den Wortlaut der Eintragung in englischer Übersetzung in sein Notizbuch zu schreiben.

N° T 53462

Staatliches Flüchtlingshilfswerk

Sektion ATHEN

Geschlecht: männlich

Name: Dimitrios Taladis

Geboren: 1889 (Saloniki)

Beruf: Feigenpacker

Eltern: tot

Dokumente: Personalausweis verloren, eigenen Angaben zufolge in Smyrna ausgestellt

Staatsangehörigkeit: griechisch

Ankunft: 1. Oktober 1922 aus Smyrna

Ärztl. Untersuchung: kräftig, keine Krankheiten

Mittellos. Dem Lager Tabouria zugeteilt. Provisorischer Ausweis ausgestellt.

PS: Verließ Tabouria am 29. November 1922 auf eigene Initiative. Wegen Raubüberfalls und versuchten Mordes zur Fahndung ausgeschrieben (Haftbefehl ausgestellt am 30. November 1922 in Athen). Vermutlich per Schiff entkommen.

Ja, das war Dimitrios. Das Geburtsjahr deckte sich mit der Information, die Oberst Hakki von den griechischen Polizeibehörden übermittelt worden war (und auf Angaben beruhte, die aus der Zeit vor 1922 stammten). Hier stand aber ein anderer Geburtsort. Laut türkischer Akte war er in Larissa geboren. Warum hatte Dimitrios diese Änderung für notwendig gehalten? Wenn er einen falschen Namen angab, musste er doch gewusst haben, dass die Gefahr eines Entdecktwerdens durch Vergleich mit dem Geburtsregister für Saloniki genauso groß war wie für Larissa.

Saloniki 1889! Warum Saloniki? Da fiel es Latimer ein. Natürlich! Es war ganz einfach. 1889 hatte Saloniki zum Osmanischen Reich gehört. Die griechischen Behörden würden höchstwahrscheinlich keinen Zugang zu den Geburtsregistern aus dieser Zeit haben. Dimitrios war nicht dumm. Aber warum hatte er sich den Namen Taladis ausgesucht? Warum nicht einen typisch griechischen Namen? Der türkische ›Talaat‹ musste eine besondere Bedeutung für ihn gehabt haben. Was den in Smyrna ausgestellten Ausweis anging, so war er natürlich verlorengegangen, denn vermutlich war er auf den Namen Makropoulos ausgestellt, und unter diesem Namen war er der griechischen Polizei bereits bekannt.

Das Datum seiner Ankunft deckte sich ungefähr mit der Zeitangabe, die vor dem Militärgericht gemacht worden war. Anders als die meisten anderen griechischen Flüchtlinge war er bei seiner Ankunft kräftig und gesund gewesen. Kein Wunder. Mit Scholems Geld hatte er sich eine Überfahrt nach Piräus leisten und in relativem Komfort reisen können, statt mit Tausenden anderen auf einem Flüchtlingsdampfer zusammengepfercht zu werden. Dimitrios wusste, worauf es ankam. Der Feigenpacker hatte genug Feigen verpackt. Der Mensch Dimitrios war aus seiner Verpuppung hervorgekrochen. Zweifellos hatte er bei seiner Ankunft noch einen großen Teil von Scholems Vermögen bei sich, auch wenn ihn das Flüchtlingskomitee als »mittellos« bezeichnete. Vernünftig von Dimitrios. Andernfalls hätte er Lebensmittel und Kleider für andere Dummköpfe kaufen müssen, die, anders als er, nicht vorgesorgt hatten. Er hatte ohnehin viel Geld ausgeben müssen, so viel, dass ein zweiter Scholem vonnöten war. Zweifellos bereute er schon, die Beute mit Driss Mohammed geteilt zu haben.

»Vermutlich per Schiff entkommen.« Mit dem Ertrag des zweiten Raubüberfalls und dem Rest des ersten konnte er zweifellos für die Überfahrt nach Burgas zahlen. Auf dem Landweg zu reisen wäre viel zu riskant gewesen. Er besaß nur provisorische Papiere und wäre an der Grenze aufgefallen, wohingegen er in Burgas mit denselben Papieren, ausgestellt von einem international anerkannten Hilfskomitee, durchgekommen wäre.

Die vielbeschworene Geduld des Beamten schien nachzulassen. Latimer gab ihm die Karte, drückte in geeigneter Form seine Dankbarkeit aus und fuhr nachdenklich in sein Hotel zurück.

Er war zufrieden mit sich. Er hatte Neues über Dimitrios herausgefunden, und zwar ganz allein. Gewiss, es war nur Routinearbeit gewesen, aber sie hatte, in bester Scotland-Yard-Tradition, Geduld und Beharrlichkeit verlangt. Und wenn ihm nicht der Einfall mit dem Namen Talaat gekommen wäre … Am liebsten hätte er sofort Oberst Hakki informiert, doch das kam nicht in Frage. Der Oberst würde wahrscheinlich nicht verstehen, in welchem Geist er dieses kriminalistische Experiment durchführte. Ohnehin würde Dimitrios inzwischen unter der Erde verrotten, seine Akte geschlossen im Archiv der türkischen Sicherheitspolizei liegen. Jetzt kam es darauf an, die Sache in Sofia anzugehen.

Latimer versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was er über die bulgarische Nachkriegspolitik wusste, und stellte bald fest, dass es herzlich wenig war. Er wusste, dass Stamboliski im Jahre 1923 Chef einer relativ liberalen Regierung gewesen war, aber wie liberal ihre Politik tatsächlich gewesen war, konnte er nicht sagen. Es hatte einen Attentatsversuch gegeben und später einen Militärputsch, der, wenn nicht direkt, so doch indirekt auf das Konto der IMRO ging, der Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation. Stamboliski war aus Sofia geflohen, hatte versucht, eine Gegenbewegung auf die Beine zu stellen, und war ermordet worden. Das war der Kern der Sache, dachte Latimer. Wo in dieser Affäre aber Recht und Unrecht lagen (wenn eine solche Unterscheidung überhaupt möglich war), wie die beteiligten politischen Kräfte zu beurteilen waren, das entzog sich seiner Kenntnis. Er musste sich sachkundig machen, und am besten tat er das in Sofia.

Am Abend lud er Siantos zum Essen ein. Latimer wusste, dass Siantos ein eitler, großzügiger Mensch war, der immer bereit war, sich die Probleme seiner Freunde anzuhören, und sich geschmeichelt fühlte, wenn er ihnen helfen konnte, indem er von seiner einflussreichen Position klugen Gebrauch machte. Latimer bedankte sich zunächst für die Unterstützung in Sachen Flüchtlingsregister und kam dann auf das Thema Sofia zu sprechen.

»Mein lieber Siantos, ich werde Ihre Freundlichkeit noch einmal in Anspruch nehmen müssen.«

»Umso besser.«

»Kennen Sie jemanden in Sofia? Ich hätte gern einen Empfehlungsbrief an einen klugen Journalisten dort, der mir Hintergrundinformationen über die politische Situation im Bulgarien des Jahres 1923 geben könnte.«

Siantos strich sich durch das graumelierte Haar und lächelte bewundernd. »Ihr Schriftsteller habt wirklich bizarre Ideen. Ich denke, es ließe sich etwas machen. Soll es ein Grieche oder ein Bulgare sein?«

»Lieber ein Grieche. Ich spreche kein Bulgarisch.«

Siantos dachte einen Moment nach. »Es gibt in Sofia einen gewissen Marukakis«, sagte er schließlich. »Er ist Korrespondent einer französischen Nachrichtenagentur. Ich kenne ihn nicht persönlich, aber ich könnte einen Freund von mir bitten, einen Brief an ihn zu schreiben.« Siantos sah sich verstohlen um und senkte die Stimme. »Aus Ihrer Sicht gibt es nur ein Problem. Ich weiß, dass er …« – die Stimme wurde noch leiser, und Latimer machte sich darauf gefasst, dass der Mann mindestens Lepra hatte – »den Kommunisten nahesteht«, schloss Siantos wispernd.

Latimer zog die Augenbrauen hoch. »Aus meiner Sicht ist das kein Manko. Die Kommunisten, die ich kenne, sind allesamt hochintelligente Leute.«

Siantos schaute entsetzt. »Wie das? Es ist gefährlich, solche Dinge zu sagen, mein Freund. In Griechenland ist es verboten, sich zum Marxismus zu bekennen.«

»Wann kann ich diesen Brief haben?«

Siantos seufzte. »Bizarr!«, sagte er. »Ich werde mich morgen darum kümmern. Ihr Schriftsteller …«

Eine Woche später lag der Empfehlungsbrief vor, und nachdem Latimer sich ein griechisches Ausreisevisum und ein bulgarisches Einreisevisum besorgt hatte, bestieg er den Nachtzug nach Sofia.

Der Zug war nicht sehr voll, und er hatte schon gehofft, ein Schlafwagenabteil für sich allein zu haben, doch fünf Minuten vor Abfahrt wurde Gepäck hereingeschafft und auf das leere Bett gelegt. Wenig später erschien der Besitzer des Gepäcks.

»Entschuldigen Sie bitte, dass ich hier eindringe«, sagte er auf Englisch zu Latimer.

Er war ein dicker, ungesund aussehender Mann von etwa fünfundfünfzig. Er hatte dem Träger gerade ein Trinkgeld gegeben, und das Erste, was Latimer an ihm auffiel, war seine Hose, die im Gesäß viel zu weit war, sodass er von hinten etwas Elefantenhaftes hatte. Dann sah Latimer sein Gesicht und dachte nicht mehr an die Hose. Es hatte die blässliche Unförmigkeit, die von zu viel Essen und zu wenig Schlaf herrührt. Über schweren fleischigen Wangen saßen zwei blassgraue, gerötete Augen, die ständig zu weinen schienen. Die Nase war wie aus Gummi und formlos. Es war der Mund, der dem Gesicht seinen Ausdruck verlieh. Die Lippen waren bleich und verschwommen, wirkten dicker, als sie wirklich waren. Zusammengepresst über unnatürlich weißen und regelmäßigen falschen Zähnen, waren sie zu einem süßen Lächeln erstarrt. In Verbindung mit den tränenden Augen entstand der Eindruck eines Menschen, der bei den größten Widrigkeiten die Ruhe nicht verliert, ein Eindruck, der in seiner Intensität sehr erstaunlich war. Dieser Mensch, schien der Mund zu sagen, hat gelitten, ist von einem schrecklichen Schicksal herumgestoßen worden wie kein anderer, aber er hat sich sein einfaches Vertrauen in die Güte der Menschen bewahrt. Hier, sagte der Mund, ist ein Märtyrer, der noch auf dem Scheiterhaufen lächelt – und gleichzeitig wegen des Elends der anderen weinen muss. Latimer fühlte sich an einen englischen Priester erinnert, der seines Amtes enthoben worden war, weil er den Altarschmuck verhökert hatte.

»Das Bett war ja noch frei«, sagte Latimer, »von Eindringen kann nicht die Rede sein.« Leise seufzend stellte er fest, dass der Mann schwer und laut durch verstopfte Nasenlöcher atmete. Wahrscheinlich schnarchte er.

Der andere setzte sich auf sein Bett und schüttelte langsam den Kopf. »Sehr freundlich von Ihnen! Heutzutage gibt es sehr wenig Freundlichkeit auf der Welt. Wenig Rücksichtnahme!« Die geröteten Augen fixierten Latimer. »Darf ich fragen, wie weit Sie fahren?«

»Nach Sofia.«

»Sofia! Eine wunderschöne Stadt. Ich fahre weiter nach Bukarest. Ich hoffe, wir haben eine angenehme Reise.«

Latimer sagte, dass er das ebenfalls hoffe. Der Dicke sprach korrektes Englisch, allerdings mit einem schauderhaften Akzent, den Latimer nicht einordnen konnte. Es klang leicht guttural, als kaue er ein Stück Kuchen. Manchmal ließ ihn das akkurate Englisch mitten in einem schwierigen Satz im Stich, und der Rest folgte in fließendem Französisch oder Deutsch. Latimer gewann den Eindruck, dass der Mann sein Englisch aus Büchern gelernt hatte.

Der Dicke drehte sich um und begann, ein kleines Aktenköfferchen auszupacken, in dem sich ein Wollpyjama, Bettsocken und ein abgegriffenes Taschenbuch befanden. Latimer konnte den Titel des Buches sehen. Er hieß Perlen der Weisheit und war auf Französisch. Der Dicke legte alles sorgfältig auf die Konsole und holte dann ein Päckchen dünne griechische Zigaretten heraus.

»Gestatten Sie, dass ich rauche?«, sagte er und hielt ihm das Päckchen hin.

»Bitte. Ich selbst werde im Moment nicht rauchen, vielen Dank.«

Der Zug fuhr jetzt schneller. Der Schaffner kam herein, um das Abteil für die Nacht herzurichten. Nachdem er gegangen war, zog Latimer sich halb aus und legte sich auf sein Bett.

Der Dicke nahm sein Buch und legte es dann wieder weg.

»Ich wusste«, sagte er, »dass ich eine angenehme Reise haben würde, als mir der Schlafwagenschaffner mitteilte, dass ein Engländer im Zug ist.« Da war sein Lächeln wieder, süß und vertraulich, als striche er Latimer in Gedanken über den Kopf.

»Das ist sehr nett von Ihnen.«

»Nein, nein, ich meine es wirklich so.« Seine Augen tränten vom Rauch. Er tupfte sie mit einer Bettsocke ab. »Es ist dumm von mir, dass ich rauche«, fuhr er kläglich fort. »Meine Augen sind etwas schwach. Der Allmächtige hat es in seiner Weisheit für richtig befunden, mir schwache Augen zu geben. Sicher hat er damit etwas bezweckt. Vielleicht sollte ich die Schönheit seiner Schöpfung noch dankbarer wahrnehmen – Mutter Natur in ihrem schönen Gewand, die Bäume, die Blumen, die Wolken, den Himmel, die schneebedeckten Berge, die wunderbare Aussicht, den goldenen Sonnenuntergang.«

»Sie sollten eine Brille tragen.«

Der Dicke schüttelte den Kopf. »Wenn ich eine Brille brauchte«, sagte er feierlich, »würde der Allmächtige schon dafür sorgen, dass ich mir eine zulege.« Er beugte sich ernst vor. »Glauben Sie nicht, mein Freund, dass es irgendwo über uns, in uns, eine Macht gibt, ein Schicksal, das unser Tun bestimmt?«

»Das ist ein weites Feld.«

»Aber nur, weil wir nicht einfach, nicht bescheiden genug sind, um zu verstehen. Der Mensch kann auch ohne Bildung ein Philosoph sein. Er muss nur einfach und bescheiden sein.« Er sah Latimer einfach und bescheiden an. »Leben und leben lassen – das ist das Geheimnis des Glücks. Überlassen wir es dem Allmächtigen, die Fragen zu beantworten, die wir nicht verstehen können. Man kann nicht gegen sein Schicksal kämpfen. Wenn der Allmächtige will, dass wir unschöne Dinge tun, dann können Sie sich darauf verlassen, dass er damit einen Zweck verfolgt, auch wenn uns dieser Zweck nicht immer klar ist. Wenn es der Wille des Allmächtigen ist, dass ein Mensch reich wird, während andere arm bleiben, dann müssen wir seinen Willen akzeptieren.« Er rülpste leise und blickte zu Latimers Koffer hoch. Sein Lächeln bekam etwas Wunderliches. »Ich finde«, sagte er, »dass man auf einer Zugreise viel Stoff zum Nachdenken hat. Finden Sie nicht? Ein Gepäckstück, beispielsweise. Fast wie ein Mensch. Auf seinem Weg durchs Leben wird es viele bunte Etiketten sammeln. Aber die Etiketten sind nur die Fassade, das Gesicht, das es der Welt zeigt. Es kommt auf den Inhalt an. Und so oft« – traurig schüttelte er den Kopf –, »so oft sind in dem Koffer keine schönen Dinge. Finden Sie nicht auch?«

Das war grauenhaft. Latimer brummte etwas Unverständliches. »Sie sprechen sehr gut Englisch«, fügte er hinzu.

»Englisch ist die schönste Sprache der Welt. Shakespeare, H. G. Wells – Sie haben große Schriftsteller. Aber ich kann nicht all meine Gedanken auf Englisch ausdrücken. Das Französische liegt mir näher, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben.«

»Und Ihre Muttersprache …?«

Der Dicke breitete große, weiche Hände aus, an denen ein ziemlich ordinärer Diamantring funkelte. »Ich bin ein Weltbürger«, sagte er. »Ich finde alle Länder, alle Sprachen schön. Wenn die Menschen nur als Brüder leben könnten, ohne Hass, und nur das Schöne sehen könnten. Aber nein! Überall gibt es Kommunisten und so weiter. Es ist sicher der Wille des Allmächtigen.«

Latimer sagte: »Ich glaube, ich werde jetzt schlafen.«

»Schlaf!«, rief der Dicke verzückt. »Die große Gnade, die uns armen Menschen zuteil wird. Mein Name«, fügte er urplötzlich hinzu, »ist Peters.«

»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Mr Peters«, sagte Latimer bestimmt. »Wir kommen so früh in Sofia an, dass ich mich nicht ausziehe.«

Er schaltete die Deckenbeleuchtung aus, sodass nur noch das kleine blaue Notlicht und die kleinen Leselampen über den Betten brannten. Dann zog er eine Decke vom Bett und deckte sich damit zu.

Mr Peters hatte diese Vorbereitungen mit versonnenem Schweigen beobachtet. Jetzt fing er an, sich auszuziehen und in den Pyjama zu schlüpfen, wobei er die schaukelnden Bewegungen des Zuges geschickt ausglich. Schließlich stieg er in sein Bett und blieb einen Augenblick reglos liegen. Der Atem ging pfeifend durch seine Nase. Dann drehte er sich zur Seite, griff nach seinem Buch und begann zu lesen. Latimer knipste sein Leselämpchen aus. Wenig später war er eingeschlafen.

Am frühen Morgen erreichte der Zug die Grenze. Der Schaffner weckte Latimer und bat ihn um seine Papiere. Mr Peters las noch immer. Seine Papiere waren von den griechischen und bulgarischen Beamten draußen im Gang bereits kontrolliert worden, sodass Latimer keine Gelegenheit hatte, die Staatsangehörigkeit des Weltbürgers herauszufinden. Ein bulgarischer Zollbeamter steckte den Kopf zum Abteil herein, warf einen prüfenden Blick auf die Koffer und verschwand dann wieder. Bald fuhr der Zug über die Grenze. Jedes Mal, wenn Latimer aus seinem Dämmerschlaf hochzuckte, sah er durch den Gardinenspalt den schmalen Streifen Himmel, dessen Schwarzblau langsam in Grau überging. Der Zug sollte um sieben in Sofia sein. Schließlich stand Latimer auf, um sich anzuziehen und seine Sachen zusammenzupacken. Mr Peters hatte seine Leselampe gelöscht und lag mit geschlossenen Augen da. Als der Zug über das Weichennetz vor Sofia ratterte, öffnete Latimer leise die Abteiltür.

Mr Peters rührte sich und schlug die Augen auf.

»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht wecken«, sagte Latimer.

Im Halbdunkel des Abteils sah das Lächeln des Dicken wie die Grimasse eines Clowns aus. »Machen Sie sich keine Sorgen um mich«, sagte er, »ich habe nicht geschlafen. Ich wollte Ihnen noch sagen: das beste Hotel in Sofia ist das Slavianska Besseda.«

»Sehr nett von Ihnen, aber ich habe von Athen aus ein Zimmer im Grand Palace bestellt. Es wurde mir empfohlen. Kennen Sie es?«

»Ja. Es ist ganz gut.« Der Zug bremste. »Auf Wiedersehen, Mr Latimer.«

»Auf Wiedersehen.«

In seinem Eifer, möglichst schnell zu einem Bad und einem Frühstück zu kommen, fiel es Latimer gar nicht ein, sich zu wundern, dass Mr Peters seinen Namen kannte.

Die Maske des Dimitrios

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