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2 Die Akte Dimitrios

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Latimer spürte, dass er rot wurde. Er, der herablassende Profi, stand plötzlich wie ein lächerlicher Amateur da. Er war leicht irritiert.

»Äh, doch«, sagte er stockend, »ja.«

Oberst Hakki spitzte die Lippen. »Wissen Sie, Mr Latimer«, sagte er, »Mörder in einem Kriminalroman sind mir viel sympathischer als echte Mörder. In einem Kriminalroman gibt es eine Leiche, etliche Verdächtige, einen Detektiv und den Galgen. Das ist Kunst. Ein echter Mörder ist kein Künstler. Ich, der ich so etwas wie ein Polizist bin, sage Ihnen das ganz ehrlich.« Er tippte auf den Aktenordner vor sich. »Hier haben Sie einen echten Mörder. Wir wissen seit zwanzig Jahren von seiner Existenz. Dies ist seine Akte. Wir wissen von einem Mord, den er verübt haben könnte. Es gibt bestimmt andere, von denen uns jedoch nichts bekannt ist. Dieser Mann ist exemplarisch. Ein mieser Typ, gemein, feige, asozial. Mord, Spionage, Rauschgift – voilà. Außerdem Beteiligung an zwei Attentaten.«

»Attentate? Das spricht doch eher für Mut, nein?«

Der Oberst lachte unangenehm. »Mein lieber Freund, Dimitrios würde bei der eigentlichen Schießerei nie in Erscheinung treten. Niemals! Typen wie er würden nie ihre Haut riskieren. Sie bewegen sich am Rand des Geschehens. Sie sind die Profis, sie vermitteln zwischen den Geschäftsleuten, den Politikern, die das Ergebnis wollen, aber vor der Tat zurückschrecken, und den Fanatikern, den Idealisten, die bereit sind, für ihre Überzeugungen zu sterben. Bei einem Attentat oder einem Attentatsversuch kommt es weniger darauf an, wer den Schuss abgegeben hat. Man muss vielmehr herausfinden, wer für die Kugel bezahlt hat. Ratten wie Dimitrios können einem das am besten erzählen. Sie sind immer bereit auszupacken, um sich die Unannehmlichkeiten einer Gefängniszelle zu ersparen. Dimitrios unterscheidet sich darin nicht von anderen. Mut! Dass ich nicht lache! Ich gebe zu, Dimitrios war ein wenig schlauer als die anderen. Meines Wissens hat ihn kein Staat je zu fassen gekriegt, und es gibt kein Foto in seiner Akte. Aber wir kannten ihn trotzdem, und in Sofia, Belgrad, Paris und Athen war er ebenfalls bekannt. Er ist viel herumgekommen, dieser Dimitrios.«

»Das klingt, als wäre er tot.«

»Ja, er ist tot.« Oberst Hakki zog verächtlich die Mundwinkel herunter. »Gestern Nacht wurde seine Leiche von einem Fischer aus dem Bosporus gezogen. Wir nehmen an, dass er erstochen und dann über Bord geworfen wurde. Und dann trieb er im Wasser, wie es sich für Abschaum gehört.«

»Jedenfalls ist er eines gewaltsamen Todes gestorben«, sagte Latimer. »Das sieht nach ausgleichender Gerechtigkeit aus.«

»Ah!« Der Oberst beugte sich vor. »Aus Ihnen spricht der Schriftsteller. Alles muss künstlerisch sauber sein, wie in einem Kriminalroman. Na schön!« Er zog die Akte zu sich heran und schlug sie auf. »Hören Sie gut zu, Mr Latimer. Dann können Sie sagen, ob es künstlerisch ist.«

Er begann vorzulesen.

»Dimitrios Makropoulos.« Er sah auf. »Wir haben nicht herausfinden können, ob das der Name der Familie war, die ihn adoptiert hat, oder ein Deckname. Er hieß überall nur Dimitrios.« Er wandte sich wieder der Akte zu. »Dimitrios Makropoulos. Geboren 1889 in Larissa. Findelkind. Eltern unbekannt. Mutter vermutlich Rumänin. Von einer griechischen Familie adoptiert, registriert als griechischer Staatsangehöriger. Straffällig geworden, Einzelheiten bei den griechischen Behörden nicht in Erfahrung zu bringen.« Er sah Latimer an. »Das war, bevor wir auf ihn aufmerksam wurden. Zum ersten Mal hörten wir 1922 in Izmir von ihm, nachdem wir die Stadt zurückerobert hatten. Ein Geldverleiher namens Scholem wurde mit durchschnittener Kehle in seinem Zimmer aufgefunden. Dieser Mann bewahrte sein Geld unter den Fußbodendielen auf. Diese waren herausgerissen, das Geld war verschwunden. Damals ging es drunter und drüber in Izmir, und die Militärbehörden konnten nicht überall gleichzeitig nach dem Rechten sehen. Die Tat konnte von einem unserer Soldaten verübt worden sein. Dann wies ein Verwandter von Scholem die Militärbehörden auf einen gewissen Driss Mohammed hin, der in Kaffeehäusern mit Geld um sich geworfen und geprahlt hatte, ein Jude habe ihm das Geld zinslos geliehen. Ermittlungen wurden aufgenommen, und Driss wurde verhaftet. Da seine Erklärungen das Militärgericht nicht überzeugen konnten, wurde er zum Tode verurteilt. Daraufhin legte er ein Geständnis ab. Er war Feigenpacker. Er sagte, einer seiner Arbeitskollegen namens Dimitrios habe ihm von Scholems Geld erzählt, das unter den Dielen versteckt sei. Sie hätten den Raub gemeinsam geplant und seien zu nächtlicher Stunde in Scholems Zimmer eingedrungen. Driss erklärte, dass Dimitrios den Juden umgebracht habe. Er vermutete, dass Dimitrios, der griechische Papiere besaß, an Bord eines der Flüchtlingsschiffe, die an versteckten Orten entlang der Küste warteten, nach Griechenland entkommen sei.«

Der Oberst zuckte mit den Schultern. »Das Gericht hat ihm diese Geschichte nicht abgenommen. Wir führten damals Krieg gegen Griechenland, und es war so eine Geschichte, wie sie ein Schuldiger erfinden mochte, um seinen Kopf zu retten. Man stellte fest, dass es tatsächlich einen Feigenpacker namens Dimitrios gegeben hatte, der bei seinen Arbeitskollegen unbeliebt und irgendwann verschwunden war.« Er grinste. »Ziemlich viele Griechen mit Namen Dimitrios sind seinerzeit verschwunden. Ihre Leichen lagen auf den Straßen und trieben im Hafenbecken. Die Geschichte von Driss Mohammed war unbewiesen. Er wurde gehängt.«

Er hielt inne. Während seines Berichts hatte er kein einziges Mal in der Akte nachgesehen.

»Sie haben ein ausgezeichnetes Faktengedächtnis«, sagte Latimer.

Der Oberst grinste wieder. »Ich war der Vorsitzende des Militärgerichts. So konnte ich Dimitrios’ Spur später verfolgen. Ein Jahr später wurde ich zum Geheimdienst versetzt. 1924 wurde ein Komplott zur Ermordung Atatürks aufgedeckt. Das war das Jahr, in dem er das Kalifat abschaffte, und das Attentat sollte nach außen hin das Werk einer Gruppe von religiösen Fanatikern sein. Tatsächlich standen Leute dahinter, die gute Kontakte zur Regierung eines befreundeten Nachbarstaates hatten und an einer Beseitigung Atatürks interessiert waren. Die Sache flog auf. Die Einzelheiten sind unwichtig, aber einer der Agenten, der entkommen konnte, war ein Mann namens Dimitrios.« Er schob Latimer das Zigarettenetui zu. »Bitte, bedienen Sie sich!«

Latimer schüttelte den Kopf. »Derselbe Dimitrios?«

»Jawohl. Also, Mr Latimer, mal ehrlich, finden Sie daran etwas Künstlerisches? Könnten Sie einen guten Kriminalroman daraus machen? Sehen Sie irgendetwas, was für einen Schriftsteller auch nur von minimalem Interesse sein könnte?«

»Die Arbeit der Polizei interessiert mich natürlich sehr. Aber was wurde aus Dimitrios? Wie ist die Geschichte ausgegangen?«

Oberst Hakki schnipste mit den Fingern. »Ah! Auf diese Frage habe ich schon gewartet. Ich wusste, Sie würden danach fragen. Und meine Antwort lautet: Sie ist noch lange nicht zu Ende.«

»Was ist passiert?«

»Ich werde es Ihnen erzählen. Das erste Problem war, dass festgestellt werden musste, ob der Dimitrios aus Izmir mit dem Dimitrios aus Edirne identisch ist. Wir haben daher den Fall Scholem wieder hervorgeholt, haben einen griechischen Feigenpacker namens Dimitrios wegen dringenden Mordverdachts zur Fahndung ausgeschrieben und ausländische Polizeibehörden um Mithilfe gebeten. Wir haben nicht viel erfahren, aber die wenigen Informationen reichten uns. Dimitrios war an dem versuchten Attentat auf Stamboliski in Bulgarien beteiligt, das vor dem Putsch der mazedonischen Offiziere im Jahre 1923 stattgefunden hatte. Die Polizei in Sofia wusste sehr wenig, eigentlich nur, dass er dort als Grieche aus Izmir bekannt war. Eine Frau, mit der er in Sofia ein Verhältnis hatte, wurde verhört. Sie gab an, kurz zuvor einen Brief von ihm ohne Absenderangabe erhalten zu haben; da sie aber dringend Kontakt mit ihm aufnehmen wollte, habe sie auf den Stempel gesehen. Der Brief war in Edirne abgestempelt. Die Polizei in Sofia ließ sich eine ungefähre Beschreibung von ihm übermitteln, die mit der übereinstimmte, die Driss Mohammed in Izmir gegeben hatte. Die griechische Polizei erklärte, er sei schon vor 1922 straffällig geworden, und teilte weitere Einzelheiten zu seiner Person mit. Der Haftbefehl besteht wahrscheinlich noch immer, er hat uns aber nicht geholfen, Dimitrios zu finden.

Erst zwei Jahre später hörten wir wieder von ihm. Die jugoslawischen Behörden erkundigten sich bei uns nach einem türkischen Staatsangehörigen namens Dimitrios Talaat, der offenbar wegen Raubes gesucht wurde; einer unserer Agenten in Belgrad meldete jedoch, dass es sich bei besagtem Raub um den Diebstahl von Militärdokumenten gehandelt habe und dass die Jugoslawen hofften, ihn wegen Spionage für Frankreich vor Gericht stellen zu können. Aufgrund des Vornamens und der von den Belgrader Behörden gelieferten Beschreibung vermuteten wir, dass es sich bei Talaat wahrscheinlich um unseren Dimitrios aus Izmir handelte. Etwa zur gleichen Zeit verlängerte unser Konsul in der Schweiz einen Pass, der in Ankara auf den Namen Talaat ausgestellt worden war. Talaat ist ein verbreiteter türkischer Name, aber als der Vorgang zur Registratur im Ministerium eintraf, zeigte sich anhand der Nummer, dass ein solcher Pass nie ausgestellt worden war. Der Pass war gefälscht.« Oberst Hakki breitete die Hände aus. »Verstehen Sie, Mr Latimer? Da haben Sie Ihre Geschichte. Unvollständig. Unkünstlerisch. Kein Detektiv, keine Verdächtigen, keine verborgenen Motive. Nur eine miese kleine Geschichte.«

»Trotzdem interessant«, warf Latimer ein. »Wie ist die Sache mit Talaat weitergegangen?«

»Noch immer neugierig, wie Ihre Geschichte ausgeht, Mr Latimer? Na schön. Nichts ist mit Talaat passiert. Es ist bloß ein Name. Wir haben nie wieder von ihm gehört. Ob er den Pass verwendet hat, wissen wir nicht. Es spielt auch keine Rolle. Wir haben Dimitrios. Als Leiche zwar, aber immerhin. Wir werden wohl nie herausfinden, wer ihn umgebracht hat. Die Polizei wird ihre Ermittlungen durchführen und uns mitteilen, dass keine Aussicht besteht, den Mörder ausfindig zu machen. Die Akte wird ins Archiv gehen. Es ist nur einer von vielen ähnlichen Fällen.«

»Sie haben etwas von Rauschgift gesagt.«

Oberst Hakki guckte gelangweilt. »O ja. Dimitrios hat vermutlich einen Haufen Geld verdient. Noch so eine unabgeschlossene Geschichte. Etwa drei Jahre nach der Sache in Belgrad hörten wir wieder von ihm. Es betraf uns zwar nicht, aber die Hinweise wurden routinemäßig in unsere Akte aufgenommen.« Er schlug die Akte auf. »1929 wurde der Rauschgiftkommission des Völkerbunds von der französischen Regierung mitgeteilt, dass an der Schweizer Grenze eine größere Menge Heroin beschlagnahmt worden sei. Der Stoff war in einem aus Sofia kommenden Schlafwagen versteckt. Als Verantwortlicher wurde ein Schlafwagenschaffner ermittelt, aber er konnte oder wollte der Polizei nicht mehr sagen, als dass die Lieferung in Paris von einem Mann in Empfang genommen werden sollte, der auf dem Bahnhof arbeitete. Den Namen des Mannes wusste er nicht, und er hatte auch nie mit ihm gesprochen, aber er beschrieb ihn. Der betreffende Mann wurde später verhaftet. Im Verhör legte er ein Geständnis ab, behauptete aber, nichts über den endgültigen Bestimmungsort des Rauschgiftes zu wissen. Einmal pro Monat erhalte er eine Lieferung, die von einem dritten Mann abgeholt werde. Die Polizei stellte diesem dritten Mann eine Falle und konnte ihn fassen, aber es zeigte sich, dass es noch einen vierten Verbindungsmann gab. Insgesamt sechs Personen wurden in diesem Zusammenhang festgenommen, und es ergab sich nur ein brauchbarer Hinweis, nämlich der, dass dieses Geschäft von einem Mann namens Dimitrios kontrolliert wurde. Über die Kommission erklärte die bulgarische Regierung dann, sie habe in Radomir ein geheimes Heroinlabor entdeckt und zweihundertdreißig Kilo transportbereites Heroin beschlagnahmt. Der Name des Empfängers lautete Dimitrios. Ein Jahr später konnten die Franzosen weitere größere Sendungen für Dimitrios abfangen. An Dimitrios selbst kamen sie aber nicht heran. Es gab Schwierigkeiten. Das Zeug nahm offenbar nie zweimal denselben Weg, und Ende 1930 hatte man nicht mehr vorzuweisen als ein paar verhaftete Schmuggler und unbedeutende Händler. Nach der Menge an beschlagnahmtem Heroin zu urteilen, muss Dimitrios ein Vermögen verdient haben. Etwa ein Jahr später zog Dimitrios sich dann ganz plötzlich aus dem Drogengeschäft zurück. Das Erste, was die Polizei davon hörte, war ein anonymer Brief, in dem die Namen der wichtigsten Bandenmitglieder standen, ihre persönlichen Daten und detaillierte Angaben, wie gegen jeden von ihnen Beweise zu beschaffen seien. Die französische Polizei hatte seinerzeit die Theorie, dass Dimitrios selbst rauschgiftsüchtig geworden sei. Ob das stimmt oder nicht, Tatsache ist, dass die Bande im Dezember aufflog. Nach einem der Mitglieder, einer Frau, wurde bereits wegen Betrugs gefahndet. Einige drohten damit, sie würden Dimitrios nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis umbringen, aber der Polizei konnten sie auch nicht mehr über ihn berichten, als dass er mit Nachnamen Makropoulos hieß und dass er eine Wohnung im siebzehnten Arrondissement hatte. Weder die Wohnung noch Dimitrios wurden je gefunden.«

Der Beamte war eingetreten und stand neben dem Schreibtisch.

»Ah«, sagte der Oberst, »hier ist Ihre Abschrift.«

Latimer nahm sie und bedankte sich zerstreut.

»Und das war das Letzte, was Sie von Dimitrios gehört haben?«, fragte er.

»O nein. Etwa ein Jahr später hörten wir zuletzt von ihm. Ein Kroate wollte in Zagreb einen jugoslawischen Politiker ermorden. In dem Geständnis, das er gegenüber der Polizei ablegte, erklärte er, Freunde von ihm hätten die von ihm benutzte Pistole in Rom von einem gewissen Dimitrios bekommen. Wenn es der Dimitrios aus Izmir war, muss er zu seinem alten Beruf zurückgekehrt sein. Ein mieser Typ. Es gibt noch so ein paar wie er, die im Bosporus treiben sollten.«

»Sie sagen, Sie haben nie ein Foto von ihm gehabt. Wie haben Sie ihn dann identifiziert?«

»Im Futter seines Mantels haben wir einen französischen Ausweis gefunden, der vor etwa einem Jahr in Lyon auf den Namen Dimitrios Makropoulos ausgestellt worden war. Es ist ein vorläufiger Ausweis, und als Beruf ist ›stellungslos‹ angegeben. Das kann alles Mögliche bedeuten. Der Ausweis war natürlich mit einem Foto versehen. Wir haben ihn den Franzosen ausgehändigt. Sie sagen, er ist echt.« Er schob die Akte beiseite und stand auf. »Morgen ist die amtliche Untersuchung. Ich muss mir die Leiche in der Leichenhalle ansehen. Mit solchen Dingen wie Dienstvorschriften brauchen Sie sich in Ihren Büchern nicht herumzuplagen, Mr Latimer. Eine Leiche treibt im Bosporus. Eindeutig ein Fall für die Polizei. Weil dieser Mann aber zufällig in meinen Akten vorkommt, müssen auch wir uns mit ihm beschäftigen. Mein Wagen wartet draußen. Kann ich Sie irgendwohin bringen?«

»Vielleicht könnten Sie mich vor meinem Hotel absetzen, wenn es kein zu großer Umweg ist.«

»Gewiss. Sie haben meine Notizen für Ihr neues Buch eingesteckt? Gut. Dann können wir gehen.«

Unterwegs sprach der Oberst ausführlich über die Qualitäten des Blutbefleckten Testaments. Latimer versprach, in Verbindung zu bleiben und ihn über den weiteren Fortgang seiner Arbeit auf dem Laufenden zu halten. Das Auto hielt vor seinem Hotel. Sie hatten sich schon voneinander verabschiedet, und Latimer wollte gerade aussteigen, doch er zögerte und ließ sich wieder auf seinen Sitz zurückfallen.

»Herr Oberst«, sagte er, »ich möchte Sie um etwas bitten, was Ihnen vermutlich sehr merkwürdig vorkommen wird.«

Der Oberst machte eine ausholende Handbewegung. »Nur zu.«

»Ich würde gern die Leiche dieses Dimitrios sehen. Wäre es Ihnen möglich, mich mitzunehmen?«

Der Oberst runzelte die Stirn und zuckte die Schultern. »Wenn Sie unbedingt wollen, bitte. Aber ich verstehe nicht ganz …«

Latimer sagte rasch: »Ich habe noch nie eine Leiche gesehen, und in einem Leichenschauhaus bin ich auch noch nie gewesen. Ich finde, jeder Kriminalschriftsteller sollte so etwas gesehen haben.«

Hakkis Gesicht hellte sich auf. »Aber sicher, mein Freund. Was man nicht gesehen hat, darüber kann man nicht schreiben.« Er gab dem Chauffeur ein Zeichen, weiterzufahren. »Vielleicht«, fügte er hinzu, »können wir eine Szene im Leichenschauhaus in Ihr neues Buch einarbeiten. Ich werde es mir überlegen.«

Die Leichenhalle war eine kleine Wellblechbaracke auf dem Gelände einer Polizeiwache unweit der Nuri-Osmanieh-Moschee. Ein Polizist, der unterwegs zu ihnen gestoßen war, führte sie über den Hof. Die Luft über dem Asphalt flimmerte in der Nachmittagshitze, und Latimer wünschte, er wäre nicht mitgekommen. Es war nicht das Wetter, um Leichenhallen aus Wellblech zu besuchen.

Der Beamte schloss auf und öffnete die Tür. Ein Schwall heißer, karbolgeschwängerter Luft schlug ihnen wie aus einem Ofen entgegen. Latimer setzte den Hut ab und folgte dem Oberst hinein.

Es gab keine Fenster in dem Raum, und die einzige Lichtquelle war eine starke Glühbirne mit Emailschirm. Beiderseits des Mittelgangs standen vier Platten auf hohen Holzgestellen. Einer der Tische war leer. Die drei übrigen waren mit steifen, schweren Tüchern abgedeckt, die sich leicht wölbten. Es war unerträglich heiß. Latimer spürte, wie der Schweiß sein Hemd durchnässte und an den Beinen hinunterrann.

»Eine Affenhitze«, sagte er.

Der Oberst sagte schulterzuckend und mit einer Kopfbewegung zu den Tüchern: »Die da beklagen sich nicht.«

Der Beamte ging zum ersten Tisch, beugte sich darüber und zog das Tuch weg. Der Oberst trat näher und sah hinunter. Latimer zwang sich, es ihm gleichzutun.

Die Leiche auf dem Tisch war die eines kleinen, breitschultrigen, etwa fünfzigjährigen Mannes. Von seiner Position am Fußende konnte Latimer sehr wenig vom Gesicht sehen, nur einen Teil des kittfarbenen Fleischs und eine graue Haarsträhne. Der Leichnam war in ein Gummituch eingewickelt. Neben den Füßen lag ein ordentlicher Haufen zerknitterter Kleidungsstücke: Unterwäsche, ein Hemd, Socken, eine gemusterte Krawatte sowie ein blauer Sergeanzug, der vom Salzwasser eine gräuliche Färbung angenommen hatte. Neben diesem Stapel lag ein Paar schmaler, spitzer Schuhe, deren Sohlen sich während des Trocknens gebogen hatten.

Latimer trat einen Schritt näher, damit er das Gesicht sehen konnte.

Niemand hatte sich die Mühe gemacht, dem Toten die Augen zuzudrücken, weshalb sie jetzt nach oben ins Licht starrten. Der Unterkiefer hing leicht nach unten. Es war nicht ganz das Gesicht, wie Latimer es sich vorgestellt hatte – es war viel runder und hatte dicke statt dünne Lippen, ein Gesicht, das bei innerer Anspannung und Bewegung vermutlich zitterte. Die Wangen waren schlaff und von tiefen Linien durchzogen. Doch jetzt war es zu spät, sich ein Urteil über den Menschen zu bilden, dem dieses Gesicht einmal gehört hatte. Es war kein Leben mehr darin.

Der Oberst hatte mit dem Beamten gesprochen. Jetzt hielt er inne.

»Getötet durch einen Messerstich in den Bauch, sagt der Doktor«, übersetzte er. »Schon tot, als er ins Wasser geworfen wurde.«

»Und wo sind die Kleidungsstücke her?«

»Aus Lyon, abgesehen vom Anzug und den Schuhen, die sind aus Griechenland. Armseliges Zeug.«

Er nahm seine Unterhaltung mit dem Beamten wieder auf. Latimer starrte die Leiche an. Das also war Dimitrios. Das war der Mann, der Scholem die Kehle durchgeschnitten hatte, der Mann, der Beihilfe zu Attentaten geleistet, für Frankreich spioniert hatte. Das war der Mann, der mit Rauschgift gehandelt, einem kroatischen Terroristen eine Waffe besorgt hatte und schließlich selbst eines gewaltsamen Todes gestorben war. Diese graue Masse war das Ende einer Odyssee. Dimitrios war zum Schluss in das Land zurückgekehrt, aus dem er viele Jahre zuvor aufgebrochen war.

So viele Jahre. Das kreißende Europa hatte für kurze Zeit neuen Glanz gesehen und war dann zusammengebrochen, hatte sich abermals der Agonie von Krieg und Schrecken ergeben. Regierungen waren an die Macht gelangt und gestürzt worden, Männer und Frauen hatten gearbeitet und gehungert, hatten Reden gehalten und gekämpft, waren gefoltert worden und gestorben. Hoffnungen waren gekommen und gegangen, flüchtige Erscheinungen am wohlriechenden Busen der Illusion. Die Menschen hatten gelernt, sich dem berauschenden Traum der Seele hinzugeben und untätig zuzusehen, während in den Fabriken die Kanonen zu ihrer Vernichtung hergestellt wurden. Und in all diesen Jahren hatte Dimitrios gelebt und geatmet und sich mit seinen merkwürdigen Göttern arrangiert. Er war ein gefährlicher Mann gewesen. Jetzt, in der Einsamkeit des Todes, konnte er einem nur noch leidtun.

Latimer beobachtete die beiden Männer, die eifrig diskutierend ein Formular ausfüllten, das der Beamte hervorgeholt hatte. Sie wandten sich den Kleidungsstücken zu und begannen, sie zu inventarisieren.

Irgendwann musste Dimitrios aber Geld verdient haben, viel Geld. Was war daraus geworden? Hatte er es ausgegeben oder verloren? »Wie gewonnen, so zerronnen«, sagt man. Aber war Dimitrios der Typ gewesen, der Geld, ganz gleich, wie er es verdient hatte, sofort wieder ausgab? Sie wussten so wenig von ihm. Ein paar merkwürdige Fakten im Zusammenhang mit ein paar merkwürdigen Ereignissen in seinem Leben, mehr gab die Akte nicht her. Immerhin, man erfuhr etwas. Beispielsweise, dass er skrupellos, brutal und ein Verräter gewesen war, dass er durchweg ein kriminelles Leben geführt hatte. Man erfuhr jedoch nichts über den Menschen, der Scholem die Kehle aufgeschlitzt und in Paris im siebzehnten Arrondissement gewohnt hatte. Und für jedes seiner Verbrechen, die in der Akte vermerkt waren, muss es andere, vielleicht noch üblere gegeben haben. Was war in den Zeiträumen von jeweils zwei, drei Jahren passiert, über die in der Akte so locker hinweggegangen wurde? Und was war seit seinem Aufenthalt in Lyon passiert? Auf welchem Weg war er gereist, um seine Verabredung mit der Nemesis einzuhalten?

All diese Fragen würde Oberst Hakki nicht zu beantworten suchen, ja nicht einmal stellen. Ihm, dem Profi, oblag nur die wenig berauschende Aufgabe, einen verwesenden Leichnam unter die Erde zu bringen. Aber es musste Leute geben, die Dimitrios kannten, seine Freunde (wenn er welche gehabt hatte), seine Feinde, Leute in Izmir, in Sofia, in Belgrad, in Edirne, in Paris, in Lyon, überall in Europa, Leute, die diese Fragen würden beantworten können. Wenn man diese Leute fand und die Antworten bekam, würde man das Material für eine der ungewöhnlichsten Biographien haben.

Latimer stockte das Herz. Das zu versuchen wäre eine ganz absurde Vorstellung. Völlig idiotisch. Falls man es aber versuchte, würde man in Izmir anfangen und den Weg eines Menschen von dort aus weiter verfolgen müssen, wobei die Akte als grobe Orientierungshilfe dienen würde. Im Grunde wäre es ein kriminalistisches Experiment. Man würde sicher nichts Neues entdecken. Aber selbst aus einem Misserfolg würden sich wertvolle Erkenntnisse ergeben. All die Routineermittlungen, über die man in seinem eigenen Roman so beiläufig hinwegging, würde man selber anstellen müssen. Nicht dass ein Mensch, der bei klarem Verstand war, auf eine derart verrückte Jagd gehen würde – um Himmels willen, nein! Aber es war doch eine amüsante Vorstellung, und falls es in Istanbul etwas langweilig würde …

Er sah auf. Sein Blick traf sich mit dem des Obersten, der das Gesicht vor Hitze verzog. Er hatte seine Besprechung mit dem Beamten beendet. »Haben Sie gesehen, was Sie sehen wollten?«

Latimer nickte.

Oberst Hakki wandte sich um und betrachtete die Leiche, als wollte er sich von seiner selbst angefertigten Handwerksarbeit verabschieden. Einen Moment stand er reglos da. Dann streckte er den rechten Arm aus, packte den toten Mann bei den Haaren, hob den Kopf hoch, sodass die leeren Augen ihn anstarrten.

»Hässlicher Teufel, was?«, sagte er. »Das Leben ist schon komisch. Ich kenne ihn seit fast zwanzig Jahren, aber jetzt sehe ich ihn zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht. Diese Augen haben Dinge gesehen, die ich gern sehen würde. Schade, dass er darüber nicht mehr reden kann.«

Er ließ den Kopf los, sodass er dumpf auf den Tisch fiel. Dann nahm er sein seidenes Taschentuch und wischte sich sorgfältig die Finger ab. »Je früher er im Sarg liegt, desto besser«, sagte er beim Hinausgehen.

Die Maske des Dimitrios

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