Читать книгу Swallow, mein wackerer Mustang - Erich Loest - Страница 11
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ОглавлениеDer Sommer bleibt heiß, Zeitungen berichten über Machenschaften des Zentrumführers Windthorst, der die Interessen des Katholizismus über die des Reiches stellt. Flammen in Mexiko, Indianerkämpfe zwischen Prärie und Felsengebirge, Kleinkrieg in Albaniens Schluchten. Stickig ist es in Dresden, Münchmeyers kutschieren gelegentlich im Mietwagen durch die Dresdener Heide; May merkt nichts vom Blühen und Reifen. Inzwischen kauft er von Honoraren und Vorschüssen bei einem anderen Kaufmann seine Zigarren, eine Mahnung des Dürren, Schuppigen hat er unbeachtet gelassen.
An jedem Montag meldet sich May, am Dienstag fährt er nach Dresden, mittwochs, spätestens donnerstags kehrt er zurück. Doßt warnt, droht manchmal: »Wenn du Zicken machst, ich hab dir die Fahrt nach Dresden nicht erlaubt!«
Der Sommer verfliegt, im Herbst sagt Münchmeyer: »Wie wär’s, Sie kämen am Sonntag mal zum Essen. Meine Frau würde sich freuen.«
Jähes Glück schießt in May hoch, er stammelt Dankesworte. Prott müßte das erfahren, Kochta, der Direktor, Doßt! »Richten Sie bitte Ihrer Frau Gemahlin …«
»Halb zwölf. Wir könnten bei dieser Gelegenheit überlegen, ob Sie die Redaktion meines Wochenblattes übernehmen. ›Der Beobachter an der Elbe‹ verliert Abonnenten. Sie mit Ihrer flinken Hand – na?«
»Ich danke für die Ehre, Herr Münchmeyer!«
»Wir reden am Sonntag drüber. Da dürfen Sie doch weg von Ernstthal?«
»Sonntags muß ich mich nie melden.«
Doßt, Doßt! Fünf Stunden braucht May von Dresden nach Ernstthal, vom Bahnhof eilt er manchmal direkt zum Rathaus; gelegentlich braucht er nur den Kopf durch die Tür zu stecken, und der Polizist winkt schon ab: In Ordnung! Auf der Rückfahrt streunt er in Chemnitz zur Brückenstraße, in einer Seitengasse liegt eine Druckwerkstatt. »Ich benötige Visitenkarten.« Eine Frau legt Muster vor, so, so, verschnörkelt oder nicht allzu sehr. Redakteur Karl May, Dresden, malt er auf einen Karton. Oder besser so: Karl May, Redakteur, Dresden und Ernstthal.
»Wir können’s auch mit Goldrand machen, Herr Doktor.«
Die Hand probiert: Dr. Karl May. »Gut, machen Sie’s so.« Schnell schreibt die Hand, als solle der Kopf nicht wissen, was sie tut: Dr. Karl May, Redakteur, Dresden und Ernstthal. »Zwei Dutzend bitte.«
»Wir drucken gewöhnlich fünf.«
»Also fünf. Bis Freitag?«
»Bittschön, Herr Doktor.«
Daheim malt er sich aus, wie er Münchmeyers Wohnung betreten wird, mit einer Verbeugung, Blumen in der Hand. Im Sessel sitzt er, ein Bein locker über das andere geschlagen – famoses Kraut, stört der Rauch nicht, gnädige Frau? Ja, ich hab mir Gedanken gemacht über die Zeitschrift, ich bedanke mich für die Ehre. Auf meiner Heimat lastet auch jetzt noch viel Not, besonders auf den Bergarbeitern. Der aufsässigste Winkel des ganzen Reiches, ja, leider! Ein gewisser Bebel. Also eine Zeitschrift speziell für die in Bergwerken und Hütten arbeitende Bevölkerung. Er denkt: Die halte ich Doßt hin! Während er durch die Fluren um Ernstthal schweift, sinnt er nach über die Möglichkeit, Bildung gepaart mit Frömmigkeit in die Häuser der Armen zu tragen, gewissermaßen nachzuholen, was die armselige Schule versäumt. Er war ja Lehrer, wenn auch nur kurze Zeit. Das wird er seinem Verleger sagen: Was vermag schon die Schule auszurichten, ich weiß es, ich hab in der Pädagogik von der Pike auf gedient!
Erdkundliche Predigten vielleicht. Geographie, Weltkunde für Erwachsene. Wer wissend ist, erliegt schwerlich der Demagogie. Er stellt sich vor, wie er die Zeitschrift dem Ratswachtmeister hinschiebt: Von mir. Er schaut sich um, Wolken fliegen hoch oben, das Gebirge liegt in Wellen vor seinem Blick von der Augustusburg bis zum Auersberg mit Keil- und Fichtelberg in der Mitte. Ein Satz bildet sich: Wenn in stiller Abendstunde der ernste Blick sich zu dem funkelnden Diadem des Himmels erhebt. Dies muß der Stil sein: Getragen, erhaben: Dort, wo der Orinoko seine Fluten dem Golf von Paria zuwälzt. Oder: Wahrlich, man muß dem kühnen Mann, der sich dem schwachen Bau seiner Hände anvertraut, um sich durch Not und Tod zum fernen Land zu ringen, wohl Bewunderung zollen. Wie in einer Predigt muß die Sprache klingen, um in den Herzen der Geplagten ein Flämmchen leuchten zu lassen. Dies könnten die Kapitel sein: Himmel und Erde, Land und Wasser, Berg und Tal, Wald und Feld. Weitere über das Tier, die Verkehrswege, den Menschen schließlich in seinem Heim und bei seiner Arbeit.
Am Abend schreibt er: »Mag der Denker auch über die Dürftigkeit seiner Erkenntnisse seufzen und unbefriedigt dem unerreichbaren Ziel nachspüren, bis der Tod ihn den Schritt ins Jenseits lehrt: Der Gedanke, der ihn erleichtert, lebt fort und geht auf andere Geister über, um unter Sturm und Drang immer weiter entwickelt und ausgebildet zu werden. Immer neue herrliche Schöpfungen werden geboren, die nach dem Gang der Wahrheit streben …« Die Feder fügt Wort an Wort, steil, ohne Korrektur, die Linke hält die Zigarre. Ruhe liegt über Ernstthal, er schreibt: »… hebt unfehlbar doch zuletzt den Blick empor zum Himmel und lenkt das forschende Auge auf die hellen Punkte, von denen jeder eine Welt bedeutet. Im Glanz der Sterne nun entfaltet die Wunderblume der Erkenntnis ihre schönsten Blüten.«
Der Tag müßte achtundvierzig Stunden haben. Wenn er in Ernstthal ist, schläft er bis sieben oder acht; die Mutter hat ihm Morgensuppe aufgehoben. Seinen Rundgang macht er durchs Städtchen, wie zufällig steckt er den Kopf in Doßts Amtsstube hinein. Der Mutter kauft er Stoff für einen Rock, dem Vater steckt er eine Mark für Bier zu, von der die Mutter nichts zu wissen braucht. Von Mittag an schreibt er, am Abend macht er eine Pause von zwei Stunden, dann arbeitet er weiter bis zwölf, zwei, drei in der Nacht.
Auf der Fahrt nach Dresden holt er die Visitenkarten ab. Als er sie in den Händen hält, probiert er im Geiste aus, wie das klingt: Herr Doktor May. Darf ich bekannt machen: Herr Doktor May. Dieser Artikel stammt vom Doktor. Bring mal die Druckfahnen rauf zum Doktor! Hat gewonnen, die Zeitschrift, seitdem Doktor May sie redigiert.
Er schaut in die Augen der Frau und sucht ein Zwinkern darin, Argwohn, verstecktes Lächeln. Doch sie erwidert unbewegt seinen Blick, sie ist an solche Kunden gewöhnt. Vielleicht ein kleiner Beamter oder ein Kontorfuchser, wer weiß, wem er imponieren will. Doktor, der doch nicht. »Wir können jederzeit nachdrucken.«
Er zahlt und flieht fast aus dem Laden. Nach hundert Schritten probiert er wieder: Guten Morgen, Herr Doktor! Fräulein Ey wünscht das mit einem Knicks. Nein, im Verlag wird er sich nicht als Doktor ausgeben. Überhaupt nicht so bald.
Eine Stunde lang bürstet er den Anzug, die Schuhe. Er hält Blumen in der Hand, als er an Münchmeyers Tür schellt. Ein Mädchen öffnet, Münchmeyer begrüßt seinen Gast im Korridor. Er amüsiert sich: May wirkt aufgeregt wie ein Lehrling, der zum erstenmal ein Mädchen zum Tanz holt. Mein Gott, zweiunddreißig ist der Mann, sieben Jahre war er hinter Gittern, und da sagt man nun, Knast zähle doppelt!
Das Speisezimmer hat sich May dreifach so groß vorgestellt, er prallt an der Tür fast auf die Damen, dahinter steht gleich der Tisch. Er hat Schritte tun wollen auf eine ausgestreckte Hand zu, jetzt findet er kaum Raum, Frau Münchmeyers Rechte zum ersten Handkuß seines Lebens hochzuziehen. Fräulein Ey kichert, das gilt nicht ihm, aber er münzt es auf sich, da er beim Handkuß der Dame des Hauses nicht gegenübersteht, sondern aus Raummangel im spitzen Winkel. »Ihr Gatte war so freundlich …«
»Nehmen Sie bitte Platz, Herr May!« Aber May weiß nicht wo, in seinen Geschichten locken die Damen die Herren, die den Salon betreten, mit bloßem, vollem Arm auf ein Sofa an ihre Seite. Er kann sich doch wohl nicht an den gedeckten Tisch setzen; zwischen ihm und einem Stühlchen hat Minna Ey einen Schrank geöffnet, Münchmeyer sagt: »Mit der Suppe haben wir noch ein bißchen Zeit. Na, kommen Sie rüber! Sagen Sie mal, spielen Sie eigentlich ein Instrument?«
»Klavier, ich hab’s auf dem Lehrerseminar gelernt. Aber ich hab’s vernachlässigt, leider.«
Vernachlässigt, diese Formulierung findet Münchmeyer urkomisch. »Ich spiele Geige. Vielleicht musizieren wir gelegentlich mal zusammen?« Münchmeyer erwähnt nicht, daß er als junger Mann auf Dörfern zum Tanz aufgespielt hat.
Am Rücken von Fräulein Ey vorbei bugsiert er May zu einer Seitentür, vor Ledersesseln stehen sie jetzt, vor einem Bücherschrank und einem Gemälde: eine weitgewandete junge Frau neigt sich zu einem verwundeten Soldaten, der in einem Korbstuhl auf einer Veranda ruht.
»Wissen Sie, Herr May, daß ich einmal mit meinem Mann in Waldheim war?«
Diese Stimme ist hinter ihm, die Stimme von Frau Münchmeyer klingt über seinem Kopf, da wird ihm bewußt, daß er sitzt, während die Frau steht, er drückt sich eilig hoch und wendet sich halb zu ihr. »Ich kenne nichts von Waldheim außer« – er will sagen: außer dem Zuchthaus, er fürchtet, es klänge erkältend in diesem Zimmer und zu dieser Stunde.
»Natürlich logierten Sie nicht im Gasthof.« Die Stimme Münchmeyers dröhnt halb unter May, ein Meckern folgt. May hat die Knie eingeknickt, da ruft Fräulein Ey: »Die Suppe, wollt ihr schon die Suppe?«
Er findet aus seiner halb stehenden, halb zur Seite gedrehten Haltung heraus und in den Sessel hinunter, er lächelt Münchmeyer an; als er sich dieses Lächelns bewußt wird, erschrickt er: Es gibt keinen Grund dafür. »Nach Waldheim bin ich zu Fuß«, dringt es von seiner Zunge, »von Mittweida.« An einen Gendarmen gekettet, ein zweiter ging hinterher, aber das erwähnt er nicht. »Und fort bin ich mit der Eisenbahn. Den Berg zum Bahnhof hinauf.« Von dort und vom Zug aus sah ich noch einmal das Zuchthaus – auch das bleibt ungesprochen.
»Also die Suppe!« Minna Ey ruft, Münchmeyer macht schnaufend eine Handbewegung: Was soll man tun gegen diese Diktatur!
Zwischen den Schwestern findet er Platz und plagt sich mit der Überlegung ab, wer von beiden seine Tischdame sei, wer er vorzulegen habe – hat er vorzulegen? Das Mädchen serviert Brühe mit Eierstich. »Nehmen Sie sich von den Croutons«, bittet Frau Münchmeyer. »Ich weiß nicht, ob Sie sehr verwöhnt sind.« So konversiert sie jedesmal, wenn sie Rebhühnercroutons serviert. »Nein, gar nicht«, er errötet und beugt sich über den Teller, um es zu verbergen. Sein rechter Unterarm bleibt auf dem Tisch liegen, während er den Löffel zum Mund führt, das merkt er und richtet sich erschrocken auf, kommt ins Husten, beinahe ins Prusten, von einer Sekunde auf die andere beginnt er zu schwitzen.
»Joi, joi, joi«, begütigt Münchmeyer. »Bißchen heiß vielleicht?«
»Nehmen Sie sich Zeit, Herr May.« Pauline Münchmeyer legt den Löffel auf den Tellerrand. Vielleicht sollte man sich gar nicht mehr um diesen Stiesel kümmern, irgendwie wird er sich durchwursteln. Was tut man nicht alles für die Firma! Für den hätte eine Kaffee-Einladung genügt. Diese Krawatte, mein Gott! Ob Minna ihn noch immer rührend findet? Ach, Schwesterchen, du mit deinem Männergeschmack!
May beißt in ein Crouton wie Münchmeyer, kaut langsam wie Münchmeyer, nickt schmeckerisch. »Wunderbar zur Suppe!« Münchmeyer hat schon zu Ende gelöffelt, May holt auf. Tischunterhaltung bröckelt: Frau Münchmeyer fühle sich noch immer beengt: Was jetzt in Strießen für herrschaftliche Wohnungen gebaut würden, sechs Zimmer, eine ganze Etage! Münchmeyer, der nicht möchte, daß May glaubt, der Verlag werfe Unsummen ab, brummt, die Miete für diese Wohnung hier sei happig genug. Neue Möbel kämen ja gar nicht in Frage. Wer in der Krise Sprünge mache, fliege aufs Kreuz, man kenne Beispiele. Wo der Verlag im Wandel sei. Frau Münchmeyer schwärmt: Ein orientalischer Salon mit Löwenfell und arabischem Segel, wie heißt es doch gleich? May weiß es, hat aber den Mund voll, und ehe er gekaut und geschluckt hat, redet Minna von Papierpreisen, Druckerlöhnen – Münchmeyer wiederholt nicht sonderlich freundlich: Bleibt auf dem Teppich! Zum Hammelrücken nimmt May zuviel Soße und quetscht die Kartoffeln hinein zu einem mißfarbenen Brei. Beim Aufblicken sieht er, wie Fräulein Ey belustigt seinen Teller mustert, da meint er, seine Schultern zögen sich wie im Krampf zusammen; wenn es schlimmer werden sollte, wird er die Arme nicht mehr bewegen können, dann fallen ihm Messer und Gabel aus der Hand und klirren gegen den Tellerrand, Frau Münchmeyer wird davonstürzen. Um dieser Furcht zu begegnen, muß er sich aufrichten, er streckt sich, daß Münchmeyer fragt: »Haben Sie sich verschluckt?« May schüttelt den Kopf, nein, gar nicht.
Über Käsestangen quält er sich dem Ende der Mahlzeit zu, eine Viertelstunde später weiß er schon nicht mehr, was er gegessen hat. Da ärgern sich in der Küche die Schwestern, diesen verklemmten Kerl zum Essen geladen zu haben. Man ist kein Nachhilfeinstitut für Zukurzgekommene. Das nächste Mal setzt man Bratwurst und Bier vor. Das Dienstmädchen kreischt. Minna Ey: »Aber er hat mir leid getan!«
»Lad ihn noch mal ein und gib ihm Unterricht, wie man das Messer anfaßt.« Das sollte ein Spaß sein, aber Minna lacht nicht.
Drin im Herrenzimmer verbreitet sich der Verleger indessen über die Krise, in die manche Unternehmen gestürzt sind. Viel zuviel Geld war im Umlauf durch die fünf französischen Milliarden, zu hektisch sind manche Aktiengesellschaften an den Ausbau gegangen. Wer nichts verdient, kauft keine Zeitschrift; wenn sich die Zusammenbrüche häufen, wird sich das auch für das Haus Münchmeyer bemerkbar machen. Also behutsam einen Schritt nach dem anderen. »Mal zur Sache: Was hielten Sie davon, Redakteur des ›Beobachters‹ zu werden?«
»Ich muß mich ja ständig in Ernstthal melden.«
»Vielleicht schaffen Sie die Arbeit an einem Tag.« Natürlich müsse sich May einige Praktiken aneignen im Umbruch, im Korrigieren der Satzfahnen und so weiter, aber das sei erlernbar. Man könne es einrichten, daß May dem jetzigen Redakteur, der sich verändern wolle, über die Schulter schaue. Münchmeyer weiß, daß er auf solche Weise einen Hilfsredakteur gewinnt, der umsonst arbeitet. »Vielleicht, daß Sie sich bis zum März eingewöhnen?«
May ringt sich durch: »Und das Gehalt?«
»Wird sich nach Ihrem Können richten.« Münchmeyer bietet eine Zigarre an und nimmt sich vor, wenn sie aufgeraucht ist, zu verstehen zu geben, daß damit die Einladung ihr Ende habe. Kein Likör, er hat sich großzügig genug gezeigt. Mitleid mildert seine Stimmungslage: Mein Gott, vor fünf, sechs Jahren haben seine Frau und er auch noch nicht von Porzellan gegessen, ihr Einkommen ist explodiert. Pauline übertreibt, keine Frage. May muß sich in dieser Umgebung doppelt als der arme Schlucker vorkommen, der er ist. Immerhin, er erkennt seine Grenzen.
»Vielleicht, daß wir so verbleiben: Sie machen sich mit der Redaktionsarbeit vertraut. Die letzte Entscheidung vertagen wir?« Münchmeyer legt Jahrgangsmappen auf den Tisch, zeigt, hier und da wird man verändern müssen. Gerichtsberichte, Marktberichte, Anekdoten aus dem Heer. Natürlich immer wieder Erinnerungen von Teilnehmern des Einigungskrieges. Schulter an Schulter mit Bayern und Preußen. Das hier ist superb: Ein sächsischer Füsilier rettet vor Paris einem Preußen das Leben und verliert dabei sein eigenes. Vorher erkennen beide: Vier Jahre vorher haben sie bei Königgrätz gegeneinander gefochten. »Übrigens, ein Kriegerverein braucht für seine Zeitschrift ein Gedicht über unseren König. Seine Schlachten, na eben ’n Heldenepos.«
»Ich könnt’s versuchen.«
»Ein Freund vom Stammtisch hat mich gefragt. Viel springt nicht dabei heraus, aber Kleinvieh – schaffen Sie’s bis nächste Woche?«
Ja, verspricht May, ja. Er hat aufgeraucht; über Münchmeyer hängt das Bild mit dem verwundeten Krieger, aus der Zimmerecke heraus biegt sich ein Palmwedel halb davor. Schwere überkommt May vom Essen und nervlicher Anspannung. Münchmeyer müßte sich auflösen, eine Frau müßte eintreten, sanft, mit weißen Armen. Wieder Schritte auf dem Korridor, da schrickt er auf. »Ich darf mich verabschieden, Herr Münchmeyer. Ihrer Frau Gemahlin …«
»Sie hat sich ein wenig hingelegt.«
»Dann darf ich bitten …«
Münchmeyer steht schon, ehe May aus dem Sessel findet. Auf dem Korridor setzt May noch einmal zu Dankessätzen an, aber Münchmeyer unterbricht: »Am Dienstag wie immer.«
Drei Tage lang quält sich May wegen seines mißlungenen Debüts, immer wieder fällt ihm ein, wie Minna Ey auf seinen Teller gestarrt hat. In einem Geographiebuch schlägt er nach und übernimmt, daß die Inder seit 3102, die Chinesen seit 2449 und die Babylonier seit 2107 vor Christi Geburt astronomische Beobachtungen anstellten. Er schreibt: Wer verspürte keine Demut angesichts dieser Zahlen!
Zum erstenmal schaut er zu, wie Druckseiten umbrochen werden. Ein Metteur redet ihn mit du an, May kontert scharf: »Ich bin kein Lehrling!«
Der Metteur blickt erstaunt über die Brillengläser. »Lehrlinge brauchen keinen Einstand zu geben.« Die Setzer brüllen vor Lachen.
Am Abend reimt er:
Horch, klingt das nicht wie ferner Schwerterklang?
Die Marsch bebt unter dampfenden Schwadronen.
Es jagt der Tod den weiten Plan entlang.
Und erntet unter brüllenden Kanonen.
Bei Düppel ist’s, des Dänen trotzger Sinn
will deutsches Recht in deutschen Landen beugen …
Erst das Reimpaar notieren: Mit goldnem Stift – Schrift. Jahren – Scharen. Grauen – Vertrauen. Weiter im Rhythmus:
Denn die Geschichte schreibt mit goldnem Stift
Und mißt Triumphe nicht nach kurzen Jahren.
Drum glänzt es fort in heller Flammenschrift:
»Der Löwe Sachsens ist’s mit seinen Scharen!«
Durch Böhmens Wälder wälzt sich wild die Flut,
Ein Einziger steht ohne Furcht und Grauen …
Die Niederlage bei Königgrätz sollte er nicht ausmalen, Albert focht auf der unterliegenden Seite. Doch den Rückzug, liest man allenthalben, soll er glänzend organisiert haben. Rasch zum Einigungskrieg: Scharen – Haaren – Paaren – waren – fahren. Er läßt sich einwiegen, die nächsten Strophen schwingen wie von selbst:
Wer sind die Helden, die mit Eisenarm
Die fränkischen Cohorten niederschlugen
Und in der Feinde dichtgedrängten Schwarm
Mit starker Faust die Fahnen Deutschlands trugen?
Dem Frager naht ein bärtiger Sergeant,
Des Tages Spur in den zerzausten Haaren.
»Die Leute, Herr, sind uns gar wohl bekannt:
Der Löwe Sachsens ist’s mit seinen Scharen!«
Abermals Schlachtgetümmel, Fanfaren, Sieg und deutsche Einheit, der Held kehrt in sein Land zurück, die Wogen der Siegesfreude schlagen über ihm zusammen. Friede nun: Gezückt – gerückt – entzückt – beglückt. Erst einmal den Schluß:
Nehmt den Pokal, das volle Glas zur Hand,
Erhebt den Blick zum freien deutschen Aaren,
Und hell und jubelnd schall es durch das Land:
»Der Löwe Sachsens hoch mit seinen Scharen!«
May überliest, Verwunderung überkommt ihn, wie rasch ihm dieses Poem gelungen ist. Unter den Titel schreibt er: »Rückblick eines Veteranen.«
Drei Tage später liest Münchmeyer das Gedicht. Kein Lob, kein Tadel. »Die Leute werden’s nehmen. Kommen Sie mit dem Umbruch zurecht?«
Ja, ja. Er fühlt Druck auf der Brust, der rührt nicht vom Rauchen, nicht vom krummen Sitzen in den Nächten her. Nur einer würde ihn jetzt verstehen: Kochta.
Münchmeyer schlägt eine Zeitschrift auf und mäkelt: Die paar Zeilen hier hätte May nicht umlaufen lassen sollen, so was kürzt man raus, hier meinetwegen: Weg mit dem Absatz, verstehen Sie? Also nächstes Mal!
Nachmittags umrundet er Häuserblocks in der Nähe seines Zimmers. Es ist diesiger Herbst, die Nebel der Elbe sind über die Ufer gedrungen und füllen die Stadt. An solch einem Tag, entsinnt er sich, an dem es nie richtig hell wird, hat sich in Waldheim ein Züchtling erhängt.
Eine Schankwirtschaft betritt er, kein Kunde ist darin, der Besitzer verbeugt sich. May läßt sich Kästchen zeigen, schnuppert. Etwas Besonderes suche er, nicht zu schwer, dennoch Format. »Eine Zigarre mit Charakter«, der Wirt wagt sich eine Preisstufe höher. May nennt Importfirmen aus Bremen, diese Namen standen auf den Ballen, die er in Waldheim auftröselte.
»Ich bekomme nächste Woche eine exquisite Sorte.«
»Schicken Sie mir bitte davon ein Dutzend zur Probe. Heute nehme ich zwei Dutzend von diesen.«
»Sehr gern, der Herr. Wohin darf ich …«
May überreicht eine Visitenkarte. Der Wirt liest. »Verbindlichsten Dank, Herr Doktor!«
An diesem Abend arbeitet er weiter an der Geschichte des Försterssohns Brandt, die Feder gleitet. Fünf Seiten, eine Zigarre, eine Pause während der ersten Züge. »Eine gewaltige, hoffnungslose Liebe lag zusammengepreßt in der Tiefe ihres Herzens. Die gewaltige Expansivkraft derselben bedurfte nur eines Funkens, um die Explosion, die Eruption hervorzubringen, welche in dieser Schicksalsstunde sich Bahn brach.« Sechs Seiten, vielleicht mit einem Ruck bis Seite zehn. Er kennt das füllende Mittel der direkten Rede:
»Wozu?«
»Fragt der Mensch auch noch dieses!«
»Nun, was denn?«
»Der Hausers Eduard ist futsch!«
»Ah! Sapristi!«
»Und die Engelchen ist futsch!«
»Oh!«
»Ja, aber zu Hause ist er nicht gewesen!«
»Ja, ich weiß es!«
»Was, Sie wissen es?«
»Ja.«
»Und das sagen Sie so ruhig?«
»Wie soll ich es denn sagen?«
»Brüllen Sie es! Hinausschreien!«
»Wo denn hinaus?«
»Aus dem Forsthaus hinaus!«
»So! Auch noch!«
»Ja, ja!«
Er braucht jetzt nicht das Belebende, Aufpeitschende des Tabakrauchs, er muß die Hand nicht zwingen, leserlich zu bleiben. Keinen Blick wirft er auf das Geschaffene, weiter! Ein Kind stirbt an den Blattern, weil Mund und Nase verkrustet sind – hat er in blinder Kindheit so etwas gehört? Die Großmutter sprach darüber mit einer Nachbarin? Ein Kind ist erstickt, bei den Geschwistern schneidet der Arzt durch die Blattern hindurch. Milch soll den Kindern eingeflößt werden, Bouillon. Aber es gibt keine Milch und kein Geld, die Kinder werden sterben. »Mit einem wilden Aufflackern riß der unglückselige Vater die schmutzstarrenden Bündel … Ein Schluchzen erstickt der Mutter die Stimme: Wenn der Waldkönig nicht hilft …«
In der Erinnerung taucht das Gesicht des Händlers auf, er hört diese Stimme: Herr Doktor May. Protts Lachen: He, May, schreibst die Bibel ab? Verbindlichsten Dank, Herr Doktor. Mörtelgeruch, Kübelgeruch, Strohgeruch. Swallow, mein wackerer Mustang. Der Direktor: Viel Glück in der Freiheit, Herr Doktor! Schriftsteller und Redakteur Dr. phil. Karl May. Kochta: Demut, wir alle müssen demütig sein vor dem Herrn. Das Flämmchen zuckt vor der Zigarrenspitze, Rauch auf der Zunge, über tausend Nervenbahnen wird das Hirn wachgehalten. Die Mutter in der Mangelstube, der Vater am Stammtisch: Mein Sohn, Doktor ist er jetzt! Zuchthausmauern stürzen, Waldheim ist von der Landkarte gelöscht. Aus staubüberhangener Einöde der Hilferuf des Direktors: Bitte, Herr Doktor May! Ein Diener: Gnädige Frau, darf ich Ihnen Herrn Doktor May melden! Eine Dame schreitet auf schwellendem Teppich. Ich habe unendlich viel von Ihnen gehört!
In dieser Nacht schafft er zwölf Seiten.