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2. Kapitel: Visitenkarte Dr. Karl May 1

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»Hat dich ein Bekannter gesehen gestern?«

»Nein, Vater. Bestimmt nicht.« Durch Gärten und Schluppen ist er vom Bahnhof gehetzt, die Mütze auf die Augen gedrückt, das Siebensachenbündel unter dem Arm. In vier Jahren sind Hose und Jacke in der Effektenkammer nicht ansehnlicher geworden, das Hemd war noch immer schmutzfleckig wie während der Untersuchungshaft. May rasiert sich mit dem Messer des Vaters; bleich ist er, als ob er aus dem Spital käme. Oder eben aus dem Zuchthaus. Jetzt, Anfang Mai, laufen die Kinder schon barfuß.

»Ziehst meinen Anzug an.«

»Den kennt der Doßt.«

»Wenn Herr Münchmeyer Vorschuß schickt …«

»Muß nach Dresden.«

»Aber Doßt?«

»Er muß mich fahren lassen. Notfalls …« Diesen Satz setzt er nicht fort.

»Vieles ist anders geworden bei uns.« In einer neuen Fabrik werde stündlich zentnerweise Garn gesponnen, zwei Verleger hätten Kapital zusammengeschossen und Aktien ausgegeben, kunstvoll bedruckte Papiere für 500 Mark, sagt man. Wie könne ein Handwerker sich da noch behaupten? Aus den Dörfern wanderten des Morgens Scharen von Mädchen herein, dreistöckige Mietshäuser würden aufgeschachtelt. Es sei in den Kneipen lauter geworden, die Beschaulichkeit der Stuben- und Brunnenkränzchen sterbe aus. Mehr Geld komme unter die Leute, dieser landweite Hunger wie vor dreißig Jahren, der Kinder und Alte umbrachte, sei vorbei. Dampfmaschinen stampften überall. »Nach Chemnitz müßtest du kommen! Nicht Weber sollte ich sein, sondern Maschinist, Mechaniker. Lokomobilist!« Der Vater spricht nicht aus, was er fürchtet: Und wenn Karl sagte: Morgen mache ich mich auf nach Hamburg, in ein paar Wochen bin ich in Amerika?

May fährt nun doch in den Anzug des Vaters. Die Mutter hat das Hemd noch am Vorabend gewaschen, es ist trocken geworden über dem Herd. Eine Krawatte, den Hut gebürstet, die Schuhe gewichst. Wieder steht er vor dem Spiegel. Wenn nur diese Blässe nicht wäre. Jetzt schlägt es neun, Prott und seine Hilfsteufel halten gerade ihre Kaffeeschüsseln dem Kalfaktor hin. May dreht eine Zigarre zwischen den Fingern. Soll er sie anzünden, bevor er aus dem Haus geht? Rauchend durch die Straßen? Oder in Brand stecken vor dem Rathaus, damit wenigstens eine Hand Halt findet, solange er mit Doßt spricht? Er steckt die Zigarre in die obere Tasche des Jacketts; zu einem Drittel ragt sie heraus.

Seine Knie sind ungelenk während des Gangs zum Rathaus. Eine Krämersfrau hinter einem Sauerkrautfaß, starrer Blick, weiter. Ein Schulkamerad – May tippt mit steifem Finger an den Hutrand. Schweiß auf der Stirn, er nimmt den Hut ab, Hut in der Hand – mit dem Hute in der Hand kommst du durch das. Den Hut wieder auf. In einer Gastwirtschaft hat er früher Kegel aufgesetzt: Halloh in der Küche, die Wirtin schüttelt ihm die Hand – wieder da, Karle? Dein Vater hat immerzu von dir erzählt – was willste nun anfangen? May nimmt einen Span, bückt sich zum Herdloch und zündet seine Zigarre an. Nach Lugau in die Kohle? Nein, er werde sich nach Dresden davonmachen. Nach Dresden? Das Staunen in den Augen der Frau läßt eine lockere Abschiedsgeste gelingen.

Er schreitet rasch, will Schwung nutzen. Ein Nicken in das Gesicht eines Alten hinein, der kam manchmal zum Vater. Stufen hinauf, an eine Tür geklopft, eingetreten, die Linke mit der Zigarre am Rockaufschlag. Eine Frau und Ratswachtmeister Doßt lehnen auf der hölzernen Balustrade, die Besucher und Amtsperson trennt. Also eine Anzeige, nuschelt Doßt, aber da muß ich Ihrn Nam’ mit aufschreim, sonst geht das nicht. Die Frau blickt sich um, er kennt sie nicht, sie kennt ihn nicht. Doßt sagt ungeduldig: Also wie nu?

Die Frau murmelt, sie wolle es sich noch einmal überlegen. May zieht an seiner Zigarre. »Guten Tag.«

Doßt wendet den Kopf. »Der May.« Das klingt überrascht, nicht einmal unfreundlich. »Gucke an. Wo kommste denn her?«

Eine Welle der Scham steigt in May auf, er weiß: Wenn er sich diese Anrede gefallen läßt, wird er tagelang das Gefühl der Erniedrigung nicht loswerden. »Für Sie immer noch Herr May.« Er zieht den Entlassungsschein aus der Tasche.

»Gestern noch Streifen am Arsch und heute den großen Rand.« Doßt kennt Exemplare wie May zur Genüge. Er wirft einen Blick auf den Schein. Vier Jahre, immerhin. Und zwei Jährchen Polizeiaufsicht. Den Blick hoch in Mays Gesicht, May hält stand, Doßt registriert kein fahriges, demütiges Lächeln wie bei den meisten entlassenen Ganoven – verzieht May nicht frech die Braue? »Wie lange soll’s denn diesmal dauern, bis du wieder drinne bist?«

»Ich verbitte mir …«

»Wenn du die Gusche aufreißt, guck ich jede Nacht um drei nach, ob du im Bette liegst.«

May pafft demonstrativ Rauch aus, Doßt liest: Gute Führung, der Delinquent hat das Verwerfliche seines Tuns eingesehen. Das übliche. Und ein halbes Jahr später schmoren die Scheißer wieder.

»Wo wirste arbeiten?«

»Ich bin Schriftsteller.«

»Was biste?« Doßt reißt den Mund auf: Das ist der Spaß überhaupt!

May zieht ein Heft aus der Tasche, »Das Schwarze Buch«, erschienen bei Münchmeyer in Dresden. »Diese Geschichte hier ist von mir.«

»Steht aber kein Name dabei.«

»Anonym. Lesen Sie mal, ein Brief vom Verleger Münchmeyer an meinen Vater.«

Doßt blättert und liest. Seine Verwunderung schlägt um: Da ist etwas nicht geheuer, wer weiß, wer hinter dem Kerl steht. Wer weiß, wem er im Zuchthaus zu Gefallen war und was hier für Verdienste belohnt werden. Ist er zum Spitzel geworden? Also Vorsicht, man kann nie wissen, und wer deckt schon einen Ratswachtmeister? Doßt murmelt: »Rauchst gutes Kraut.« Er liest: Gleich nach der Entlassung Ihres Sohnes werde ich mit ihm Verbindung aufnehmen. Mein Verlag … Unterschrift. Doßt schnieft. An einen Steckbrief erinnert er sich, den er vor Jahren verfaßt hat: May ist von freundlichem, gewandtem und einschmeichelndem Benehmen, er trägt einen schwarzen Tuchrock mit sehr schmutzigem Kragen. Unbehaglich fühlt sich Doßt bei alldem, es läuft entschieden außerhalb des Gewohnten. Schriftsteller: Also doch Hungerleider, warum unbedingt ein Spitzel? Wer in Not ist, stiehlt eher als der Satte. Aufwiegler sollen’s schwer haben hier herum, man wird ihnen beizeiten aufs Maul schlagen. May hat einen Satz doppelt so schnell heraus, wie Doßt es je könnte, vermutlich hätte er ein Schriftstück in der Hälfte der Zeit aufgesetzt. Doßt fühlt sich redlich, königstreu, gerade in seinen Gedanken, und vor ihm steht einer, der schlau ist, gerieben, ein Advokatengehirn, Federfuchser, vielleicht nächstens ein politischer Agitator. Er wird ihm in den Hintern treten. Dieser verfluchte Wahlkreis 17 ist genug ins Gerede gekommen, seit hier der erste Sozialdemokrat in den Reichstag gewählt worden ist. Affenschande. Das rote Glauchau, das rote Ernstthal. »Solltest in den Schacht gehen nach Lugau oder Ölsnitz.« Doßt mustert Mays Schultern und Brustkorb, er denkt: Na, das schmale Handtuch. »Meldest dich jeden Tag um neun, bis du Arbeit hast.«

»Aber ich …«

»Wenn du die Gusche aufreißt, Karle, weck ich dich heut nacht um drei. Da ist ’ne Uhr weg, ich muß unter deinen Strohsack gucken. Na?«

»Ich werde Ihnen baldigst einen weiteren Brief von Herrn Münchmeyer vorlegen.«

»Kannste, Karle. Morgen um neun. Wie gesagt: Gutes Kraut rauchste.«

Ein Stempel, eine Minute später steht May in der Sonne. Die Zigarre ist zu zwei Drittel aufgeraucht, sie hat ihre Pflicht getan. Sorgfältig drückt er sie aus. Hat er gesiegt? Durch Schluppen und Gärten flieht er aus der Stadt, an einem Dornbusch krümmt er sich auf das magere Frühlingsgras hinunter und preßt die Hand aufs Herz. Toben, Wüten und Schreien wie in einem Dorfwirtshaus ist in ihm, Stimmen gellen durcheinander: Du hast gesiegt, Doßt hat gesiegt, Doßt zerrt dich aus dem Bett, kommt jede Nacht, kommt nie. Einmal ein Häftling, immer ein Häftling, dein Leben lang werden der und die da und wer immer will mit Fingern auf dich zeigen: Dieb, Betrüger, Zuchthäusler! Ihm ist, als ob um ihn herum Hunderte von Bauernknechten mit Stuhlbeinen aufeinanderschlügen, Stimmengewirr, Zerren, Krachen. Er reißt die Jacke herunter und knöpft das Hemd bis zum Nabel auf, Wind kühlt die schweißige Haut.

Mittags hat er sich leidlich in der Gewalt. Zu Ehren des Sohnes stehen Pellkartoffeln mit Hering auf dem Tisch. Er malt aus, wie er es Doßt gegeben habe; die Augen habe Doßt aufgerissen und die Geschichte Wort für Wort gelesen! Andere Entlassene suchten Arbeit in den Bergwerken, Doßt habe wörtlich gesagt: Herr May, dafür sind Sie zu gebildet!

Die Mutter hängt an seinen Lippen. Dreizehn Kinder hat sie geboren, acht starben im ersten Jahr. Nur ein Junge ist groß geworden, Karle, Karlchen. Als er verstummt, setzt sie dagegen, daß ihre Wäschemangel hinten im Schuppen fast jeden Tag für zwei, drei Stunden vermietet werde. Zwei Pfennig nähme sie für die Stunde, sonnabends habe sie schon vierzehn oder sechzehn Pfennige verdient. Karli, ist das nicht fein?

Am Nachmittag schreibt er, er schreibt am Abend und die halbe Nacht hindurch. Einen Brief an Münchmeyer, danach den Beginn einer wilden Geschichte mit Mord und Brand, Nacht, Friedhof. Es ist dunkel, als er ans Fenster tritt. Totenruhig liegt die Stadt. Der Vater hat ihn mit in die Schenke nehmen wollen, um seinen Freunden den künftigen Schriftsteller zu präsentieren. Keine Zeit, Vater! Er nimmt sich vor: Jeden Tag zehn Seiten! An diesem Abend füllt er sechs.

»Danke, Herr May.« Doßt verbeugt sich, als May ihm eine Zigarre auf die Balustrade legt. »Schon Post aus Dresden?«

»So schnell geht’s nicht.«

»Also morgen wieder um neun, May!«

An diesem Vormittag streunt er zu der Höhle hinauf, in der er sich einmal verborgen hatte. Birken sind aufgewachsen, Brombeergestrüpp überzieht Steinbrocken; niedriger ist das Loch im Fels, als es die Erinnerung bewahrte. Er will die Dämonen von damals herüberlocken, will am Nachmittag beschreiben, wie sich der Förstersohn Brandt – welcher Vorname? – Gustav Brandt, in einer Höhle verbarg, des Doppelmords angeklagt. Dieser Karl May von damals in seinem Drang aus furchtbaren Zwängen heraus – ich brauche mich vor der Erinnerung nicht zu ängstigen, suggeriert er sich, ich kann sie fruchtbar machen für mein Geschöpf Gustav Brandt.

Auf dem Rückweg fühlt er sich taumlig vor Glück. Er vermag eine Welt zu erschaffen mit Schlössern, Bankierswohnungen und Hütten, kann sie bevölkern mit hochgestellten Schurken und buhlerischen Frauen, mit Förster und Hund, Wald und Kutsche, Mühlrad, Dolch und Lauscher unter dem Bett, mit Redlichen, Wucherern, Liebenden. Weiter hinauf im Gebirge hat er Schnitzern zugeschaut, die in ihren Stuben kunstreiche Gebilde bosseln an unzähligen Winterabenden, Weihnachtsberge genannt. Das sind Ausschnitte aus ihrem Leben, Bergwerk mit auf- und absteigenden Figuren, Wägelchen, Pferdchen, Häuschen mit Kühlein und Mägdlein am Brunnen; ausgetüftelter Mechanismus sorgt dafür, daß die Pferdchen die Wägelchen ziehen und das Mägdlein das Eimerchen in den Brunnen senkt. Wie diese Schnitzer, sinnt er, erschaffe auch ich eine zweite Welt; die Schnitzer brauchen Stunden für eine Figur, ich gebäre sie in Sekundenschnelle auf dem Papier.

Die Mutter schleicht, wenn der Sohn schreibt, auf Zehenspitzen durchs Haus. Vier Tage nach seiner Rückkehr bringt der Postbote Vorschuß von Münchmeyer: zwanzig Mark. Das ist enorm viel Geld in den Augen der Mutter. May hat das Doppelte erhofft. Er braucht einen Anzug, wenn er sich in Dresden präsentieren soll. Er braucht Schuhe, Hemden, Uhr. In Waldheim hat er sich das Zigarrenrauchen angewöhnt; in den Nächten fliegen ihm die Gestalten müheloser zu, wenn Rauch seine Phantasie beflügelt. An einem Nachmittag steht er am Rande der Stadt, wo die Straße nach Waldenburg über den Hügel biegt. Auf dieser Straße verließ er zum ersten Mal Ernstthal, er, der beste Schüler seiner Klasse, empfohlen vom Lehrer und vom Pfarrer ans Lehrerseminar. Der einzige Weg für mich, aus der Enge herauszukommen, erinnert er sich jetzt und versucht Kraft aus dem Gedanken zu schöpfen: Ich lernte müheloser als alle, mir flog das Wissen nur so zu, ich war der beste Schnellrechner der Klasse, und keiner lernte fixer ein Gedicht. Und ich hab dazugelernt in Waldenburg und in Plauen, Rechnen und Erdkunde, Historie und ein bißchen Latein, Stilkunde des Deutschen, Rechtschreibung, Klavier- und Orgelspielen sogar. Lehrer war ich in Chemnitz an einer Fabrikschule, wenn auch nur kurze Zeit. Ich brauche mich meiner Bildung wegen vor niemandem zu verstecken. Wie auf einer Federzeichnung: Zwischen diesen Pflaumenbäumen trug er Ranzen und Bündel, beneidet von allen Mitschülern, die Handwerker wurden oder Knechte oder Arbeiter an den neuen Maschinen. Er wurde Lehrer. Jetzt hat Münchmeyer geschrieben: »Herr May, sprechen Sie bitte baldigst in Dresden vor!«

Dem Ratswachtmeister Doßt zeigt er diesen Brief, zwei Zigarren ragen ein Endchen aus der Rocktasche. Der Polizist wiegt den Kopf und stöhnt, er sei ja kein Unmensch, habe aber eindeutige Vorschriften. Noch nicht eine Woche aus dem Zuchthaus zurück und schon in die Residenz? Wenn das ein Vorgesetzter erführe – man sei nicht allein auf der Welt. »Meine Existenz«, bittet May.

»Meldest dich am Dienstag mal nicht.« Doßts Stimme klingt, als murmle er vor sich hin, als sei niemand außer ihm im Raum. »Ich merk das nicht, klar? Aber wenn du was anstellst – erlaubt hab ich’s dir nicht. Und am Mittwoch biste wieder hier!«

May schiebt beide Zigarren zu Doßt hin. »Ich danke Ihnen verbindlichst. Ihre Güte …«

»Ach, halt die Gusche, May.« Leise, gefährlich setzt Doßt hinzu: »Das letzte Mal hattste vier Jahre, nächstes Mal kriegste zehn. Und laß die Pfoten von der Politik!«

Am Dienstagmorgen fährt May nach Chemnitz und steigt um in den Zug nach Dresden. Ein Bein hat er über das andere geschlagen und blickt rauchend aus dem Fenster: Öderan, Freiberg. In diesen Wäldern zum Kamm hinauf lebt sein Förster Brandt, Pascher huschen nach Böhmen hinüber, Klöppelspitzen tragen sie unter der Jacke um den Leib gewickelt. Er kennt diesen Landstrich mit seinen Schlössern und Städtchen: Marienberg, Olbernhau, Schloß Purschenstein. Von dort schleicht Brandt verkleidet nach Dresden.

Dresden! Auf dem Böhmischen Bahnhof steigt er aus, in die Gassen um Markt und Schloß taucht er ein. Offiziere reiten vorbei, er weicht aus in den Schmutz. Ihn erregt dieser Gedanke: Keiner weiß, daß er vor Tagen noch Zuchthäusler war, daß er Manuskripte bei sich trägt und ein Dichter ist. In Waldheim war während der Freistunde rasches Gehen verboten, die Hände mußten auf dem Rücken gehalten werden. Jetzt läßt er den freien Arm schwingen, er schreitet aus und genießt das Ziehen in den Wadenmuskeln. Könnte es nicht sein, daß Waldheims Direktor beim Justizminister vorzusprechen hätte und ihm entgegenkäme? Respektvoll, aber keineswegs untertänig zöge May den Hut. »Sein« Direktor ist er nicht mehr und wird er nie wieder sein.

Auf einer Kreuzung haben sich Fuhrwerke verkeilt, Hufeisen klirren auf Kopfsteinen. Hucker turnen Leitern hinauf, Ziegelstapel auf dem Rücken. Gebaut wird, der Direktor hat recht gehabt in seinen Ansprachen, daß es stürmisch aufwärtsgehe im Reich und daß für jeden Platz sei. Mein Platz, denkt May, mein Platz! Er preßt die Tasche an sich.

Das Haus, in dem Münchmeyers Büro liegt, ist schmuckloser, schmaler, als er es sich ausgemalt hat. Schäbig ist es nicht, versichert er sich, eher unauffällig, bescheiden. Das Treppenhaus ist dunkel, im zweiten Stock entdeckt er ein Türschild und klopft, niemand öffnet. Die Tür läßt sich schieben, ein dämmriger Gang liegt vor ihm. Auf Stimmen geht er zu, klopft wieder und wird hereingebeten. »Mein Name ist May.« Eine Verbeugung dazu, Blicke zwischen zwei Frauen hin und her.

»Jaaa.« In einer Stunde, hört er, werde der Herr Verleger kommen. Blicke spürt er auf sich, die voller Neugier sind und diese verbergen wollen: Einer, der die Kugel am Bein gehabt hat. Solche Blicke können niederdrücken oder Kraft geben, spürt er, man muß ihre Wirkung in die gewünschte Richtung drängen. Interessant – dieses Wort fällt ihm in der rechten Sekunde ein, er ist für sie interessant.

Tee wird angeboten, die Damen sind nun geschäftig um ihn herum. Gegenseitig stellen sie sich vor, ein Name klingt an seinem Ohr vorbei, den anderen merkt er sich: Fräulein Ey, denn, so wird hinzugefügt, sie sei Herrn Münchmeyers Schwägerin. Wege zur Druckerei erledigen die Damen, sie haben sämtlichen Schriftverkehr in den Händen und, dabei lacht Fräulein Ey, die Honorarzahlungen an die Herren Dichter.

Da schiebt sich ein Mann in die Tür, er atmet rasch vom schnellen Gehen. May wischt im Aufstehen die Handflächen an der Hose ab.

»So, lassen Sie sich anschauen! Bißchen mager noch?« Münchmeyer probiert ein Cheflachen und bittet in sein Zimmer. Die Damen tragen Teetassen nach, Münchmeyer bietet Platz an und schiebt sich hinter seinen Schreibtisch. Augenpaare suchen einander; als sie sich gefunden haben, zwinkert Münchmeyer, das soll heißen: Hast allerhand hinter dir, Junge, Schwamm drüber, was sollen wir viele Worte machen. »Haben Sie etwas mitgebracht?«

Löffel klirren in den Teetassen, Münchmeyer überfliegt ein paar Zeilen. May schaut sich um: Regale mit Zeitschriftenbündeln, Stehpult, ein Stich der Hofkirche, ein Stich der Festung Königstein.

»Nicht allzu übel.« Münchmeyer weiß, daß von dieser ersten Begegnung allerlei abhängt. May ist eine Potenz, keine Frage, man muß ihm die Zusammenarbeit schmackhaft machen, aber er darf nicht den Eindruck gewinnen, er sei unersetzlich. Aufhelfen muß man ihm, aber nicht so, daß er übermütig wird. Von einem verschmähten Liebhaber, der seine Braut ermorden will, liest Münchmeyer flüchtig. »Wir werden’s schon irgendwie verwenden. Wieder eingelebt in Ernstthal?«

Er könne bei den Eltern wohnen, berichtet May, er müsse sogar. Der Ortspolizist mache Sperenzien.

Polizeiaufsicht? Münchmeyer hebt die Brauen – das höre sich wenig freundlich an. Da sei es gut, wenn man erst einmal nicht auffiele. Immer schön brav, die Obrigkeit einschläfern, nach einem halben Jahr könne er sich schon ein bißchen was leisten. Und was wolle Herr May schreiben?

»Geschichten aus meiner Gegend. Hab in Waldheim allerlei entworfen. Erzgebirgische Dorfgeschichten.«

»Und eine hübsche Moral am Schluß, so wollen das die Leute!«

May hat die Hände zwischen die Knie geklemmt, er sitzt vorgeneigt wie jemand, der nur den Schemel kennt und sich erst wieder an den Stuhl gewöhnen muß. Münchmeyer denkt: Ein Dorfschulmeisterlein, halb verhungert wie seine Kinder. »Bloß nicht zuviel Armut reinpacken.« Münchmeyer erinnert sich, mit seiner Frau auf diesen dürren Hecht eine Flasche Champagner getrunken zu haben. Vielleicht war’s voreilig, und Vorschuß hat er nun erst mal genug gekriegt. »Ranklotzen, hilft alles nichts. Dicke hat’s heute keiner. Die erste Nacht in Dresden werden Sie in ’ner Herberge unterkriechen müssen; wenn Sie öfter kommen, finden wir vielleicht ’ne Schlafstelle.«

»Verbindlichsten Dank, Herr Münchmeyer.«

Münchmeyer läßt eine Glocke scheppern, Fräulein Ey steckt den Kopf durch die Tür. »Nimm Herrn May unter deine Fittiche. Daß er was zu essen kriegt!«

Sie zeigt den Weg zu einer Herberge und verspricht, sich fürs nächste Mal nach einem Zimmer umzusehen, warnt aber gleich: Der Herr möge sich keine übertriebenen Hoffnungen machen, es sei schwierig, etwas zu finden.

In der Nacht schrickt er auf; Münchmeyers Lachen gellt durch seinen Traum: Ausgebrochen? May, so einer wie du bricht doch nicht aus! Fräulein Ey knickst: Eine Tasse Tee, Herr May? Keine Frau ist so, wie er sie sich in Zuchthausnächten erträumt hat, schon gar nicht Fräulein Ey.

Swallow, mein wackerer Mustang

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