Читать книгу Alte Rechnung - Erich Szelersky - Страница 12
Innsbruck
ОглавлениеTiroler Landeskrankenanstalten, 12. Dezember 2010
Als ich wieder erwachte erkannte ich das spärliche Licht der Deckenlampen der Intensivstation des Krankenhauses in Innsbruck. Ich schaute mich um und suchte eine Uhr, fand aber keine. Es ist angsteinflößend, weder die Uhrzeit noch den aktuellen Wochentag zu kennen. Wie lange mochte ich hier schon gelegen haben? Zwei, drei Stunden; einen Tag; länger? Um mich herum standen Apparaturen. Auf einem Bildschirm konnte ich die rhythmischen Bewegungen meiner Herzstromkurve erkennen. Mein Herz schlug, also lebte ich noch.
Vorsichtig richtete ich mich ein wenig auf. Draußen schneite es nicht mehr. Durst quälte mich. Meine Zunge drohte mir am Gaumen festzukleben. Es musste doch hier irgendwo eine Klingel geben, mit der ich jemanden rufen konnte, der mich von meiner Qual befreite. Ich suchte nach dem Hilfe bringenden Knopf. Vergebens, es gab keinen Knopf. Ich ergab mich in mein Schicksal.
Wenn man hilflos irgendwo liegt, verliert man das Gefühl für die Zeit. Ich hatte den Eindruck, es müssten zwischenzeitlich Stunden vergangen sein, als sich die Türe öffnete und eine junge Frau herein kam.
»Hallo Herr Jonsson. Ausgeschlafen?« Ich schaute sie verständnislos an.
»Ich bin Schwester Andrea. Wie geht es Ihnen?«
»Ich habe Durst.« Die Schwester brachte mir ein Glas mit Wasser. Sie hob meinen Kopf und hielt mir das Glas an den Mund. Ich trank in hastigen Schlucken.
»Sie haben großes Glück gehabt, Herr Jonsson. Zwei, drei Stunden länger, und Sie wären erfroren.« Ich legte den Kopf zurück auf das Kopfkissen.
»Wo?«
»Wissen Sie nicht, was Ihnen passiert ist?«
»Nein.« Ich griff nach dem Glas, das Schwester Andrea noch in ihren Händen hielt. Es kam mir viel schwerer als früher vor. Als ich das Glas zum Mund führen wollte, zitterte ich und vergoss etwas Wasser.
»Dr. Bichler wird sich gleich um Sie kümmern. Dann sehen wir weiter.« Sie nahm mir das Glas aus der Hand und verließ das Zimmer. Kurz darauf trat der Arzt ein.
»Hallo Herr Jonsson. Ich bin Dr. Bichler. Wie fühlen Sie sich?« Mir war nicht danach, mit dem Arzt große Gespräche zu führen. Also redete er weiter.
»Die Gleisarbeiter der Staatsbahn haben Sie gefunden, als sie die Strecke vom Schnee frei räumen wollten. Sie lagen nur ein paar Meter neben den Gleisen.« Die Gleise, richtig. Ich hatte die Gleise gesehen und entschieden, ihnen zu folgen. Irgendwo würden sie mich zu einem Ort bringen, an dem ich Hilfe bekäme. Der Arzt bemerkte, dass ich mich zu erinnern versuchte.
»Sie haben großes Glück gehabt.«
»Ich war schon fast unten, oder?«
»Ja, fast. Wahrscheinlich haben Sie nur deshalb überlebt, weil Sie aus Ihrer Heimat Skandinavien kalte Temperaturen gewohnt sind. Trotzdem. Wir mussten Ihnen die Zehen des rechten Fußes und zwei vom linken abnehmen.« Mir wurde übel. Der Arzt sah wohl, dass mir die Farbe aus dem Gesicht entschwand und legte seine Hand auf meinen Arm.
»Es ging nicht anders. Wie gesagt, Sie hatten, als Sie hier eintrafen, sehr starke Unterkühlung und Erfrierungen. Zum Glück waren nur die Zehen nicht mehr zu retten.
Sie hatten mich im Schnee gefunden. Ganz langsam lichtete sich der Nebel, der mein Gehirn umgab. Der Wildspitzhof, die Schüsse und die Toten. Ich hätte die Einladung nicht annehmen dürfen. Warum ist das alles geschehen? Ich schloss meine Augen. Alles ist aus dem Ruder gelaufen. Ich fühlte mich wie nach einer durchzechten Nacht mit diesem Gefühl zwischen Hoffnung und Bangen, dass nach dem Filmriss nichts passiert ist, was unumkehrbar sein würde. Ein Blitz durchzuckte mein Gehirn und ich griff an meinen linken Oberarm.
Der Arzt, der mich unbewegt beobachtet hatte, nickte mit dem Kopf.
»Sie erinnern sich wieder. Das ist gut. Zuerst hatten wir Sorge, Ihnen den linken Arm abnehmen zu müssen.« Er machte eine kurze Pause.
»Wir haben ein Projektil aus Ihrer linken Schulter entfernt. Können Sie uns dazu etwas sagen?« Ich drehte meinen Kopf weg und signalisierte ihm, dazu eigentlich nichts sagen zu wollen.
»Die Polizei hat schon angefragt, wann Sie vernehmungsfähig sein werden. Mir müssen sie nichts erzählen; doch die Polizei wird schon eine Erklärung von Ihnen erwarten.« Ich nickte fast unmerklich, aber dem Arzt reichte es.
»Können Sie aufstehen? Wir werden Sie gleich auf Ihr Zimmer bringen. Dort finden Sie alles, was Sie brauchen.«
Ich konnte nicht aufstehen. Beim ersten Versuch fiel ich hin, und der Arzt musste mich auffangen.
»Keine Sorge. Sie werden sich daran gewöhnen, ohne Zehen zu laufen. Ich lasse Ihnen einen Rollstuhl bringen.«
Kurz darauf kam ein Pfleger mit einem Rollstuhl ins Zimmer. Noch etwas benommen ließ ich mich von ihm auf mein Zimmer bringen.
»Welchen Tag haben wir heute?« Der Pfleger schaute mich einen Augenblick erstaunt an. Dann schien ihm einzufallen, dass ich erst vor einer halben Stunde aus einem längeren Schlaf aufgewacht war. Er blickte auf seine Uhr.
»Heute ist Montag, der 12. Dezember 2010.«
Montag, der 12. Dann hatte ich zwei Tage geschlafen.
»Und wie spät ist es?«
»Gleich halb zwei.«
»Ich möchte gerne telefonieren.« Der Pfleger nickte wortlos. Als wir auf dem Zimmer angekommen waren, reichte er mir ein Telefon. Ich wählte meine Nummer in Malmö.
»Deborah Jonsson.«
»Hallo Debbie. Lennart hier.« Sie ließ mich nicht weiter reden.
»Was ist los, Lennart. Ich warte seit einer Woche auf eine Nachricht von Dir. Hast Du die vielen SMS nicht erhalten?«
»Nein, Debbie. Das ist eine längere Geschichte. Ich erzähle sie Dir, wenn ich wieder zu Hause bin.«
»Wo bist Du jetzt? Wie geht es Dir?«
»Ich bin im Krankenhaus in Innsbruck.«
»Im Krankenhaus? Was ist passiert?«
»Kann ich jetzt nicht sagen. Aber es geht mir gut. Ich sehe zu, dass ich morgen nach Hause fliegen kann.«
»Lennart! Sag mir, was passiert ist. Ich wäre fast gestorben vor Angst. Ich habe in meiner Sorge um Dich sogar Deine Kinder und Agneta angerufen.«
»Du hast was?«
»Ich habe Agneta angerufen.«
»Und?«
»Sie ist gekommen, doch sie ist nicht lange geblieben.«
»Was hat sie gesagt?«
»Nichts außer dass Du schon wieder auftauchen würdest.«
»Sonst noch etwas?«
»Nein, Lennart. Leider nicht.«
»Waren die Enkel da und haben sie nach dem Opa gefragt?«
»Nein, Lennart. Deine Enkelkinder haben sich nicht gemeldet.«
Ich hatte es nicht anders erwartet, war aber trotzdem enttäuscht. Aber dies war für mich ja nichts Neues. Seit achtzehn Jahren hielten sich meine Enkelkinder von mir fern. Ich konzentrierte mich wieder auf Debbie, die noch immer redete.
»Sag mir Lennart. Geht es Dir wirklich gut?«
»Ja. Es geht mir gut.«
»Nimmst Du Deine Tabletten, Lennart?«
»Ja, Debbie.«
»Sag mir doch, was geschehen ist?«
»Kann ich jetzt wirklich nicht, Debbie. Es gab ein paar Probleme auf der Hütte. Wir waren eingeschneit und von der Außenwelt abgeschnitten. Kein Telefon, nichts ging mehr. War heftig da oben. Wir hatten ein paar Unfälle.«
»Unfälle?«
»Ja. Aber ich kann jetzt wirklich nicht mehr erzählen. Alles weitere in ein, zwei Tagen, wenn ich wieder zu Hause bin.«
Ich hörte Deborahs Schweigen am anderen Ende der Leitung; aber was sollte ich ihr jetzt erklären. Es war einfach zu viel, um es am Telefon zu erzählen.
»Glaub mir, Debbie. Es geht mir gut, und das ist jetzt erst einmal das Wichtigste.«
»Gut, Lennart. Aber beeil Dich. Ich warte auf Dich.«
Dann war das Gespräch beendet. Debbie war meine zweite Frau; Amerikanerin. Ich habe sie in Boston kennengelernt. Eigentlich wollte ich nicht mehr heiraten, nachdem meine erste Frau, Agneta, mich verlassen hatte. Mit ihr hatte ich zwei Kinder und vier Enkelkinder. Die hingen früher einmal sehr an mir. Inzwischen waren sie schon erwachsen. Ich habe sie schon viel zu lange nicht mehr gesehen, aber ich kann es nicht ändern. Sie besuchten mich nicht. Es gab mal eine Zeit, da sah ich sie täglich. Aber das ist lange her. Das war in einem anderen Leben.
Meine Familie hatte sich von mir abgewandt und mir damit sehr wehgetan. Ich hatte immer wieder meine Unschuld beteuert, doch Agneta verließ mich. Vielleicht hatte sie nur einen Vorwand gebraucht. Ich weiß es nicht. Für mich war damals alles in bester Ordnung, aber so kann sich man irren.
Durch das Telefonat hatte ich nicht bemerkt, dass ein Fremder ins Zimmer eingetreten war. Er stellte sich mir vor.
»Guten Tag Herr Jonsson. Ich bin Hauptkommissar Anton Gerstel von der Polizei in Innsbruck. Ich möchte Sie gerne etwas fragen.«
Ich setzte mich. Wenn man eine Kugel im Oberarm hatte, musste man wohl damit rechnen, in einem zivilisierten Land gefragt zu werden, wie die da hineingekommen ist, und Österreich gehört sicherlich zu den zivilisierten Ländern auf dieser Erde.
Hauptkommissar Gerstel gehörte dem Landeskriminalamt in Tirol an. Da ein Ausländer unter etwas mysteriösen Umständen mit einer Schussverletzung und starken Erfrierungen halbtot aufgefunden worden war, hatte sich das Landeskriminalamt als Ermittlungsorgan des Landespolizeikommandos unmittelbar eingeschaltet und den Fall direkt an sich gezogen. Dies war ansonsten nur bei der Bearbeitung von Schwerkriminalität üblich.
»Wir haben Sie halb erfroren und mit einer Kugel in der Schulter aufgefunden. Können Sie mir das erklären?«
Anton Gerstel sprach ruhig und langsam, fast schon bedächtig. Sein Alter von sechsundfünfzig Jahren war ihm nicht anzusehen. Er war athletisch, sportlich, und er wirkte auf mich, als wäre er mit seinem Mountainbike ins Krankenhaus gekommen. Sein Haar war schon leicht ergraut, und mit seiner ungewöhnlichen Körpergröße von mindestens einmeterneunzig überragte er mich um mindestens einen Kopf. Als junger Mann verdiente er sich als Bergführer Geld zur Finanzierung seines Studiums hinzu, und es war ihm anzusehen, dass er bis heute sportlich aktiv war.
»Ich kann es mir auch kaum erklären, Herr Hauptkommissar.«
»Nun; Sie werden verstehen, dass mir das nicht reicht. Sie werden ja wohl wissen, wer auf Sie geschossen hat. Oder haben Sie selbst Hand an sich legen wollen und nur ein wenig daneben gezielt?«
So lange er seinen Humor noch hat, wird es so schlimm ja wohl nicht werden, dachte ich mir.
»Waren Sie schon beim Wildspitzhof im Ötztal, Herr Hauptkommissar?«
»Der Wildspitzhof? Das ist doch jetzt dieses Privathaus, das sich ein reicher Deutscher dorthin mitten in die Berge gebaut hat?«
»Ja genau. Diese Hütte meine ich.«
»Hütte ist gut. Das ist ja wohl eher ein riesiges Anwesen mit eigenem Hubschrauberlandeplatz. Wieso fragen Sie?«
»Das ist eine lange Geschichte, Herr Gerstel. Vielleicht sollten Sie zuerst einmal dort hinauffahren. Das macht vieles einfacher zu erklären.«
»Wir können da im Moment nicht hin. Extreme Lawinengefahr. Dort oben liegen drei Meter Neuschnee. Da geht nichts mehr. Aber warum fragen Sie? Waren Sie dort oben?«
»Ja.«
»Die Leute von der Bahn haben Sie aber hier unten im Tal neben den Bahngleisen gefunden. Das ist ein weiter Weg, besonders bei diesen Witterungsbedingungen.«
»Ich musste da oben weg und mein Auto ist stecken geblieben.«
»Das wundert mich nicht, Herr Jonsson. Es wäre wohl sinnvoller gewesen, dort oben besseres Wetter abzuwarten. Auch im Auto hätten Sie erfrieren können. In ein, zwei Tagen werden die Zufahrtswege zu dem Haus wieder frei sein. So viel Vorrat hat jeder, der dort oben wohnt, im Haus.«
»Ich konnte aber nicht im Haus bleiben.«
»Warum nicht. Was ist denn passiert?«
»Das ist, wie ich schon sagte, wirklich eine lange Geschichte.«
»Ich fürchte, es wird Ihnen nicht erspart bleiben, sie zu erzählen.«
Ich lehnte mich in meinem Rollstuhl zurück. So etwas hatte ich mir schon gedacht. Aber wenn ich bald nach Hause wollte, musste ich wohl da durch. Und im Übrigen, es würde ja auch dazu beitragen, Licht in die ganze Angelegenheit zu bringen.
»Ja, Herr Hauptkommissar. Also; alles fing mit einer E-Mail an…«