Читать книгу Alte Rechnung - Erich Szelersky - Страница 16
Innsbruck
ОглавлениеTiroler Landeskrankenanstalten, 12. Dezember 2010
Hauptkommissar Gerstel schaltete das Licht in dem Zimmer an, da es draußen schon dämmerte.
»Eine E-Mail sagen Sie?«
»Ja, eine E-Mail. Ich war völlig überrascht, als ich sie erhielt. Sie kam von Helmut Sikorra. Der war einmal einer meiner besten Kollegen gewesen. In Anlehnung an Frank Sinatra und ein paar weiteren Künstlern nannten wir uns nach einem feuchtfröhlichen Abend »The Rat Pack«.«
»Rat Pack?«
»Ja. Wie in den fünfziger Jahren als Frank Sinatra, Sammy Davis Jr., Dean Martin, Joey Bishop und Peter Lawford so genannt wurden.«
»Und das fanden Sie gut?«
»War nur ein Scherz. Sie wissen ja wie das ist, wenn man etwas getrunken hat. Da kommt man auf die ulkigsten Ideen. Jedenfalls hielten wir uns für unzertrennlich. Das Geschäft hatte uns zusammengeschweißt. Wir hatten gemeinsame Interessen.
In den zwölf Jahren zwischen neunzehnhundertachtzig und neunzehnhundertzweiundneunzig entwickelten wir das Geschäft mit elektronischen Bauelementen und Rechnern in den verschiedenen Regionen der Welt und machten die MicroData zu einem der großen Fünf auf den globalen Märkten. Wir standen ständig im Wettbewerb zu den vier anderen, und je nach Region oder Branche war es meistens entweder die GlobalTech oder die DCL, gegen die wir uns behaupten mussten. Die ASC hatte ein starkes Geschäft mit der amerikanischen Rüstungsindustrie, für uns tabu, und die CIG trat neben Frankreich nur in Afrika, wo wir uns erst im Aufbau befanden, ernsthaft in Erscheinung. Neunzehnhundertachtundachtzig hatten wir es geschafft. Ein deutsches IT-Unternehmen war in die Championsleague aufgestiegen, und dies war unser Erfolg.
Aber das war lange her, als ich die E-Mail erhielt. Von Helmut Sikorra hatte ich seit der Fusion vor achtzehn Jahren nichts mehr gehört. Umso mehr war ich überrascht. Der Inhalt der Mail war abgefasst, als wenn sich seit damals nichts geändert hätte.«
Hallo Jungs, es ist wahrscheinlich ein Indiz für das Älterwerden, wenn man sich an alte Zeiten erinnert. Mir ging es letztens so. War damals eine tolle Zeit. Ich möchte Euch alle mal wiedersehen. Wenn Ihr könnt und Lust habt lade ich Euch für ein paar Tage auf den Wildspitzhof ein.
Wenn es Euch passt am 4. Dezember 2010. Bis dahin ist es noch lang hin. Ihr habt also genügend Zeit zu planen. Ich hoffe, Ihr könnt es einrichten.
Meldet Euch.
Viele Grüße.
Helmut
PS. Bringt Eure Skiausrüstung mit. Dann können wir auch mal in Sölden oder Obergurgel Skilaufen.
»Wann war da?«
»Was?«
»Wann haben Sie die E-Mail mit der Einladung erhalten?«
»Das war …, lassen Sie mich kurz nachdenken; das war im August.«
»Lange hin bis zum Termin für das Treffen.«
»Ja, aber Herbert Sikorra plante immer langfristig.«
»Ich wollte Sie auch nicht unterbrechen, Herr Jonsson. Erzählen Sie weiter.«
»Seit damals, als sich nach der Fusion mit der GlobalTech alles grundlegend geändert hatte, hatten wir nichts mehr voneinander gehört. In der MicroData waren wir noch ein Team gewesen, auch wenn es vereinzelt schon mal Meinungsverschiedenheiten gab. Die legten sich aber schnell wieder. Ernsthafte Spannungen zwischen einigen von uns gab es erst, als die Fusion mit unserem Hauptwettbewerber, der GlobalTech, auf die Agenda kam.«
»GlobalTech war Ihr stärkster Konkurrent, nicht wahr?«
»Ja. Ein amerikanisches Unternehmen, das in vielen Geschäftsfeldern mit seinen Produkten im Wettbewerb zu uns stand. Jede Ausschreibung, jedes Projekt war ein knochenharter Kampf mit GlobalTech. Wir entwickelten Strategien, Kunden von GlobalTech zu lösen und für uns zu gewinnen, und ich erinnere mich an Abwehrkämpfe, GlobalTech von unseren Kunden fernzuhalten. Es war so etwas wie eine Mischung aus Verfluchung und Hochachtung, was wir gegenüber GlobalTech empfanden. Verflucht haben wir sie, weil sie immer gegen uns standen, und geachtet haben wir sie, weil sie redlich um ihre Chancen kämpften. Klar; die Jungs von denen hatten den gleichen Ehrgeiz wie wir. Sie steckten halt nur in anderen Anzügen. Jahre später habe ich erfahren, dass sie vor uns vielfach Angst hatten. Wechsel von uns zu denen kamen kaum vor, wie auch Leute von GlobalTech fast nie den Weg zu uns fanden. Darum war es ja auch für keinen von uns zu begreifen, was sich neunzehnhundertzweiundneunzig plötzlich entwickelte.«
»Und was war das Besondere?«
»Die Fusion. Alles fing völlig harmlos an. Es war im Frühjahr. Der Vorstand hatte mich zu einem Gespräch geladen. Eine der Sekretärinnen führte mich aber nicht wie sonst in das Zimmer meines Vorstandes sondern in den großen Konferenzraum. Als ich den Saal betrat, waren meine Kollegen auch anwesend. Wir schauten uns erstaunt an.
Keiner wusste, welchen Grund es für die Sitzung gab. Aus den anderen Unternehmensbereichen waren noch weitere Kollegen im Raum. Insgesamt waren wir etwa dreißig Personen, die alle eines gemeinsam hatten. Wir berichteten alle an den Vorstand, und der hatte uns zusammengerufen.
Kurz darauf betraten die Vorstände den Konferenzsaal. Entgegen sonstiger Gepflogenheiten kam der gesamte Vorstand. Sie hielten sich auch nicht lange mit der Vorrede auf. Als das Unwort Fusion, und dann auch noch mit GlobalTech, gesagt war, trat eine gespenstische Ruhe ein. Auch die Vorstände verharrten einen Augenblick ausdruckslos in der Erwartung einer Reaktion von uns auf ihre Worte. Vielleicht wurde ihnen aber auch in diesem Moment mit unverhoffter Schärfe bewusst, dass Worte Flügel haben und sich nicht einfangen lassen. Sie hatten die bedeutungsvollen Worte gesagt. Jetzt ließ sich nichts mehr rückgängig machen. Ich hörte nur noch halb hin, als über die neuen Chancen als weltweit führendes Unternehmen der Branche, größer noch als ASC, und was man in solchen Situationen sonst noch alles so sagt, geredet wurde. Fest stand erst einmal, dass die MicroData verschwinden würde und mit ihr all das, woran wir gearbeitet und was wir aufgebaut hatten; und was uns wichtig war. Zumindest glaubte ich das damals noch. Später musste ich feststellen, dass die GlobalTech-Leute auch nicht ganz so dämlich waren, wie wir es ihnen immer unterstellt hatten.
Es war für mich eine interessante Erfahrung, dass unser Selbstverständnis auch ein gutes Stück auf Selbstbetrug basierte. Besonders bitter war für mich jedoch, dass jeglicher Anstand unter denen, die sich ein paar Wochen zuvor noch bei der Begrüßung umarmt und Freund genannt hatten, verloren gehen würde.«
»Was meinen Sie damit, dass jeglicher Anstand verloren gehen würde?«
»Nun, Herr Gerstel, es begann der Run um Positionen. Und soweit es den Vorstandssessel betraf traten fünf an und nur einer konnte ihn erobern. Also mussten vier weichen. Dies ging nicht immer einvernehmlich ab, und dann gab es Kämpfe wie bei Hyänen um die Beute.«
»Ist das nicht ein wenig übertrieben?«
»Eigentlich nicht. Wenn man mir prophezeit hätte, was alles passieren würde; ich sage es Ihnen Herr Hauptkommissar, ich hätte es nicht geglaubt.«
»Na gut; dann machen Sie mal weiter.«
»Also; wir erhielten vom Vorstand den Auftrag, mit unseren Gesprächspartnern von GlobalTech Sondierungsgespräche über die Auswirkungen des Unternehmenszusammenschlusses zu führen. Alles kam auf den Prüfstand. Welche Produkte würden weiter bestehen, welche würden vom Markt verschwinden. Welche Standorte wären zu schließen und nicht zuletzt, wie viele und welche Menschen würden das neue Unternehmen verlassen müssen. Manche Entwicklungsprojekte würden eingestellt werden. Riesige Budgets, die man für solche Projekte sicher zu haben glaubte, waren plötzlich nicht mehr gewiss. Es ging schließlich um viel Geld und um Macht und Einfluss. Schon bald kristallisierten sich die Produkte und Dienstleistungen heraus, in denen wir uns sinnvoll ergänzten. Aber es gab natürlich auch Bereiche, in denen wir redundant aufgestellt waren. Und da geht es dann ans Eingemachte. Ich will das mal an einem Beispiel klar machen. Wenn wir zum Beispiel entschieden, das Produkt X nicht mehr zu verkaufen, weil das Produkt Y besser war, dann konnte dies die Schließung des Werkes X bedeuten mit allem, was daran hing: Arbeitsplatzverlust, Versetzung und so weiter. Dasselbe galt natürlich auch für Bereiche, die ihre Leistung nicht kostengünstig genug erbrachten. Wenn man solche Verhandlungen führt, hat man diese Dinge ständig im Kopf. Du weißt genau, dass deine Leute auf der Straße stehen, wenn du dich mit deinen Produkten und Dienstleistungen nicht durchsetzt. Mit anderen Worten. Jeder kämpfte für seine Leute, für seine Produkte, für seine Company und, last but not least, selbstverständlich auch für sich, und darum sogar noch am härtesten. Es ging also auch um uns persönlich. Keiner sprach das offen aus, aber jeder wusste es. Das war bei den GlobalTech-Leuten natürlich genauso.
Keiner wusste wie die Angelegenheit ausgehen würde. Es war alles in der Schwebe. Unsere Gesprächspartner bei der GlobalTech waren unsere ersten Konkurrenten. Sie hatten exakt die gleichen Positionen wie wir und konnten entweder unsere Chefs oder unsere Mitarbeiter werden. Sie würden um ihre Ziele genauso kämpfen wie wir um unsere, aber letztendlich waren es dieselben. Das ist das Verrückte an diesen Dingen. Über die fachlichen Fragen lässt sich in den meisten Fällen ein Konsens finden. Erst durch die Personifizierung dieser Sachfragen nimmt die Diskussion an Härte zu, obwohl kein Wort über Personen verloren wird. Die Sachfragen werden vorgeschoben, um damit die Weichenstellungen für Personalentscheidungen zu schaffen.
Ich traf mich mit meinen Gesprächspartnern von der GlobalTech zweimal in den Staaten. Einmal waren wir in meinem Büro in Boston und einmal besuchte ich sie in Cupertino, ihrem Hauptsitz. Einmal kamen sie zu mir nach Deutschland. Das wäre nicht unbedingt nötig gewesen, aber sie wollten wohl einen Eindruck von unserem Headoffice in Frankfurt bekommen. Für mich verliefen die Gespräche ohne Komplikationen. Es herrschte eine angenehme Atmosphäre, und in der Sache schienen mir vertretbare Kompromisse möglich.
Als wir uns sechs Wochen später wieder mit unseren Vorständen trafen, um über unsere Gespräche und Eindrücke zu berichten, erhielten wir die Nachricht, dass in der neuen Unternehmung zwei der fünf Vorstandssitze von MicroData besetzt würden. Unser Produktionsvorstand würde seinen Sitz im Vorstand behalten. Da alle anderen MicroData-Vorstände ausschieden, blieb ein Sessel unbesetzt, der des Vertriebsvorstandes. Wieder so ein Wort, das sich nicht mehr einfangen lässt. Der Vertriebsvorstand wurde von MicroData gestellt. Jetzt waren wir gefordert, und jetzt ging der Kampf unter uns erst richtig los. Jeder kämpfte gegen jeden.
Ganz besonders Helmut Sikorra schien überhaupt keine Schwierigkeiten damit zu haben, unsere jahrelange, erfolgreiche Arbeit für seine weitere Karriere über Bord zu werfen. Dies führte insbesondere zu Spannungen mit Herbert Rensing, der als Deutschlandchef die besten Voraussetzungen in der neuen Gesellschaft hatte. Wir sprachen zwar offiziell von Fusion, doch im Grunde genommen übernahm die GlobalTech die MicroData, und dies vor allem wegen unserer marktbeherrschenden Stellung in Deutschland und den Wachstumsmärkten in Osteuropa.«
Ich wurde durch das Klingeln eines Telefons unterbrochen. Hauptkommissar Gerstel holte sein Mobiltelefon hervor.
»Ja, Gerstel hier.« Dann hörte er ein paar Minuten zu und legte wortlos auf.
»Entschuldigen Sie bitte die Unterbrechung, Herr Jonsson. Die Straße rauf zum Wildspitzhof ist noch nicht passierbar und die Bergwacht wird noch Zeit brauchen, um den Weg nach oben frei zu räumen. Erst dann werden wir sehen, was da oben passiert ist.«
Ich nickte stumm.
»Können wir eine kleine Pause machen, Herr Gerstel? Ich müsste mal zur Toilette.«
»Natürlich. Werden wir auch gleich. Nur eines noch. Erklären Sie mir das doch bitte einmal etwas genauer. Wie muss ich mir den Kampf jeder gegen jeden vorstellen?«
»So wie ich es sagte. Gnadenlos, beherrscht vom Egoismus. Manchmal kam es mir vor, als ob wir auf einem sinkenden Schiff wären und jeder um sein Leben kämpfte. Aber ich gehe gerne gleich näher darauf ein. Ich muss nur mal eben.«
»Ja, ja. Gehen Sie nur.«
Als ich von der Toilette zurückkam, telefonierte Gerstel wieder.
»Sie hatten eine Kugel Kaliber 7,65 im Oberarm. Das ist Munition wie sie bei Jagdgewehren verwendet wird.«
Ich nickte. Was sollte ich sagen, doch der Kommissar schwieg und forderte mich mit seinem fragenden Blick auf, mich dazu zu erklären.
»Was soll ich Ihnen dazu sagen? Helmut Sikorra war Jäger und hatte mehrere Waffen in seinem Waffenschrank.«
»Und aus diesem Schrank war die Waffe?
»Ja, muss wohl. Ich habe jedenfalls keine Waffe mit hierhergebracht und die anderen soviel ich weiß auch nicht.
»Na gut. Wir werden später noch darüber sprechen. Fahren Sie fort. Wie war das mit dem Kampf?«
»Wie ich schon sagte. Als feststand, dass der Vertriebsvorstand aus den Reihen des MicroData-Managements kommen würde, konnte jeder von uns, außer Dr. Theißen, gemeint sein. Das Schlimme war nur, dass keiner wusste, wer es denn werden würde. Jeder hielt sich natürlich für den Richtigen, und damit war natürlich jeder auch des anderen Konkurrent. Jeder von uns ging mit dem Thema auch etwas anders um. Immerhin waren wir ja auch völlig verschiedene Charaktere.
Nehmen Sie zum Beispiel Herbert Rensing. Herbert sah sich als Star, und mit der Zeit legte er sich auch diese Attitüden zu. Das missfiel natürlich Siegmund Wittenberg, der immer die erste Geige spielen wollte. Reinhard Saatkamp war link. Er sonnte sich gerne in Herbert Rensings Glanz, hatte aber keine Skrupel, sich abfällig über ihn zu äußern, wenn er nicht anwesend war. Reinhard Saatkamp versuchte in jedem Spiel mitzuspielen, und wenn es noch so schmutzig war. Auch Herbert Rensing hat er verraten, obwohl er gerade seine Freundschaft zu ihm immer besonders betonte. Im Grunde war Reinhard Saatkamp der Gegenentwurf zu Viktor Theißen, für den er ein Emporkömmling ohne Kultur war. Ende der achtziger Jahre wäre es um ein Haar zu einem Eklat gekommen. Wir hatten die Vorstände besonderer Kunden aus Nord- und Südamerika nach ihrem Besuch der CeBit zu einer Ausstellung über den deutschen Expressionismus in das Sprengel Museum in Hannover eingeladen. Bei der Führung machte sich Reinhard Saatkamp über die Bilder lustig. Unter uns nannten wir ihn danach jahrelang in Anlehnung an ein Gemälde von Franz Marc die gelbe Kuh. Ihn hat das nicht gestört. Uns war sein Auftritt damals sehr peinlich. Dr. Theißen hat die Situation gerettet, in dem er Saatkamps Aussagen als Zitate bezeichnete, die aus der Nazizeit herrührten, als diese Kunst in Deutschland als entartet galt.«
»Und trotzdem konnte er sich in seiner Position behaupten?«
»Ja, das schon. Heute frage ich mich manchmal auch, warum; aber er war nicht gefährdet. Wir nahmen ihn so wie er war; ungehobelt.
Reinhard Saatkamp suchte die Nähe zu Herbert Rensing. Der war auch nicht gerade das, was man einen Intellektuellen nennt. Sein Lebenshorizont reichte von seiner Arbeit bis zu einer Art von Lifestyle, die er für sich als wertvoll betrachtete. Rensing war ohne Zweifel sehr konsumorientiert. Er sprach von Dingen, die er nicht verstand, wie alle, die meinen, zu etwas ihren Kommentar abgeben zu müssen, ohne es wirklich zu verstehen. Mit anderen Worten, er plapperte mit schönen Worten nach, was er irgendwo aufgeschnappt hatte. Dazu las er auch entsprechende Magazine. Er schleppte immer ein paar Kataloge mit sich herum. Wenn ein Kunde sich für Uhren interessierte; Herbert hatte bestimmt einen Katalog über Chronometer dabei oder besorgte einen für das nächste Treffen. So ging es mit allen Dingen und insbesondere mit solchen, die zu der von ihm bevorzugten Lebensart gehörten. Als er erfuhr, dass meine Frau und ich ein Kind aus den Slums von Managua nach Deutschland geholt hatten, entdeckte er dies für sich als Thema, über das sich trefflich schwadronieren ließ. Nach ein paar Monaten verloren die Schicksale von Kindern in der dritten Welt für ihn ihren Reiz, und ein anderes Thema besetzte diese Position in Herbert Rensings Gesprächsthemenkatalog. Rensing beschenkte seine Kunden auch entsprechend. Keiner von uns hielt einen so großen Etat für Präsente bereit wie Herbert Rensing.
Helmut Sikorra verachtete sie alle. Für ihn waren die drei Papiertiger. Er schätzte Viktor Theißen, weil er über den Dingen stand. Das hinderte Helmut Sikorra aber nicht daran, ihn zu opfern, als es ihm opportun erschien. Er war aus einem völlig anderen Holz geschnitzt. Dieses oberflächliche Geschwätz war ihm lästig. Er mochte Gegenstände mit besonderem Wert, aber mehr für sich und protzte nicht damit herum. Wenn er etwas verschenkte wusste der Empfänger, dass es ein Ausdruck besonderer Wertschätzung war. Sikorra legte Wert auf Bodenständigkeit. Er wirkte in Gesprächen nicht so geschmeidig wie Rensing. Während Herbert Rensing zum Mittagessen in stadtbekannte Edelrestaurants ging besuchte Helmut Sikorra eine Trattoria oder eine Taverne in der Vorstadt, in der er die mediterrane Lebensart einsog und sich mit seinen Gästen von dieser Atmosphäre einfangen ließ.
Helmut Sikorra hatte etwas Naturburschenhaftes. Auf dem Wildspitzhof war er privat. Ich glaube, dort lebte er sein wahres Naturell.
In dieser turbulenten Zeit der Fusionsvorbereitungen wurde mir eines klar. Nur der gemeinsame Erfolg hatte uns zusammengehalten. Er hatte wie Klebstoff gewirkt, und alle Spannungen waren übertüncht; so wie Farbe Roststellen überdeckt. Dieser Rost kam nun unversehens hervor und brachte zu Tage, wie marode unser Gebäude angeblicher Freundschaft im Grunde war.
»Und wie war das mit Ihnen?«
»Ich? Ich war so etwas wie die graue Eminenz in der Runde. Der einzige Ausländer in dieser deutschen Runde in einer deutschen Firma.«
»Machen Sie es sich nicht etwas zu einfach. Sie gehörten zum inneren Führungszirkel. Da kommt man doch nicht nur mit Schönfärberei hin.«
»Sicher nicht. Aber wie ich schon sagte, ein bisschen exotisch war ich als Schwede in diesem Gremium schon. Das hatte auch mit meinem Hauptbetätigungsfeld Nordamerika zu tun. Dort hielt ich mich oft wochenlang auf. Ich hatte in Boston auch schon vor der Fusion und meiner Übersiedlung nach Massachusetts ein Büro und nicht nur in Frankfurt. Die anderen arbeiteten in Heimmärkten aus einer Position der Stärke heraus oder in Wachstumsmärkten wie Fernost oder die sich nach dem Mauerfall entwickelnden osteuropäischen Gesellschaften mit ihrem riesigen Nachholbedarf. Ich dagegen arbeitete in einer Region, die von amerikanischen Unternehmen mit der ihnen eigenen Kultur dominiert wurde. Die GlobalTech kam aus Cupertino im Santa Clara Valley.«
»Santa Clara Valley?«
»Ja. Oder sagen wir mal allgemeiner im Silicon Valley. Das sagt Ihnen was?«
»Ja. Dort konzentriert sich die Welt der Informationstechnologie, oder?«
»Richtig. Also, die GlobalTech kam aus diesem Zentrum amerikanischen Schöpfergeistes und verfügte in der amerikanischen Gesellschaft über ein außergewöhnlich gutes Image. Während in anderen Regionen der Vereinigten Staaten und in anderen Industriezweigen sowohl Innovationsfähigkeit und industrielle Leistung schwächer wurden, boomte die IT-Industrie. Wie ein Herzschrittmacher wurden ständig mit zunehmender Geschwindigkeit IT-Produkte kreiert. Dabei orientierten sie sich damals mehr noch als heute vornehmlich an den Wünschen amerikanischer Nutzer und übertrugen diese auf den Rest der Welt. Sie kennen diese etwas überhebliche Haltung: Was in Amerika gut war konnte in den übrigen Teilen Welt nicht falsch sein. Dagegen standen wir aus Deutschland. Wir hatten andere Konzepte, die mehr die Lösung und weniger die technischen Details in den Vordergrund stellten. Ich bewegte mich also in einem Markt, in dem die MicroData ein Außenseiter war. Als Schwede verband ich die deutschen Leistungs- und Handlungsprinzipien mit den überseeischen Vorstellungen, sich in einer von Elektronik bestimmten Welt zu bewegen. Wahrscheinlich war es sinnvoll, mit mir einen Mittler zu haben, der zwar nicht amerikanisch aber eben auch nicht deutsch war, obwohl er für deutsche Produkte, deutsche Werthaltigkeit und deutsche Verlässlichkeit einstand.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Nun, Herr Hauptkommissar, stellen Sie sich vor. Ein deutsches Luxusauto zu fahren ist für einen Amerikaner ein Statussymbol. Ein Haus ist besonders wertvoll, wenn es eine deutsche Einbauküche, möglichst von Miele, hat. Alle möglichen Gebrauchsartikel kommen aus Fernost. Sie überfluteten die Staaten, weil sie in den USA nicht mehr produziert wurden. Worauf kann man eigentlich stolz sein, wenn man Autos aus Deutschland oder Japan und Fernseher aus Korea hat; wenn die Raumfahrt nicht mehr als Alleinstellungsmerkmal amerikanischer Ingenieursleistung dient, und dies in einem Land wie Amerika, das seinen Patriotismus in einem Wettbewerb von Fahnen an jedem Einkaufscenter präsentiert und in dem keine Rede enden darf, ohne um Gottes Segen für das Land gebeten zu haben.
Die Informationstechnik war damals in den achtziger und neunziger Jahren einer der wenigen Wirtschaftszweige, der als Ikone amerikanischer Leistungsfähigkeit angesehen werden konnte. Amerikanische Hard- und Softwarehersteller gingen mit missionarischem Eifer in die Welt und vermarkteten ihre Produkte. Gleichzeitig stärkten sie ihren riesigen Binnenmarkt, in dem sie mit riesigem Marketingaufwand postulierten, dass es nur ein amerikanisches IT-Produkt sein konnte, das die immer komplexeren Aufgabenstellungen lösen konnte. Und in dieser Welt bewegte ich mich. Hier suchten wir als nichtamerikanischer Hersteller unseren Erfolg. Das war ein völlig anderes Geschäft als in den übrigen Teilen der Welt und ganz besonders als in Europa. In den Staaten war ich als Schwede ein unbefangener Repräsentant deutscher Leistungskultur. Die Amerikaner hatten auch eine Vision von Kultur, doch für uns bedeutete dies mehr eine moralische Orientierung der Mitarbeiter, für die Amerikaner eher eine funktionale.«
»Wie soll ich das verstehen, Herr Jonsson?«
»Das ist ganz einfach. Wenn man Verwendbarkeit und Persönlichkeit eines Mitarbeiters vergleicht, muss man sich entscheiden. Wir entschieden uns für die Persönlichkeit.«
»Und das soll ich Ihnen glauben, nachdem Sie Ihre Kollegen Hyänen genannt haben?«
»Ich weiß, es ist schwer zu verstehen, aber unser Führungsverständnis basierte auf Kommunikation, die jedem Mitarbeiter Bedeutung verlieh, und unser Handlungsverständnis bezog unsere Kunden darin mit ein. Wir wollten nie Egomane mit Motivationsobsession sein. Wissen Sie, kein intelligenter Mensch lässt sich auf Dauer für etwas begeistern, was er in seinem Innersten nicht einsieht. Das war eine anspruchsvolle Vision von Kultur, der wir über Jahre Realität verliehen haben.
Umso schlimmer war es für mich, als mir bewusst wurde, wie wir wirklich waren. Während der ganzen Zeit spielten einige von uns nur ein Spiel, und damit war es plötzlich aus, und der wahre Kern trat hervor. Da habe ich mich geschämt.«
»Haben Sie sich über sich selbst geschämt?«
»Auch, natürlich. Ich bin durchaus selbstkritisch. Aber am meisten war ich über einige meiner Kollegen entsetzt. Ich habe daraus meine Konsequenzen gezogen.«
»Und haben Ihr Bestreben um den Vorstandssessel eingestellt.«
»So können Sie es sagen, ja.«
»Sie zogen sich zurück, und Ihr Fluchtpunkt war Amerika.«
»Ja. Aber das fiel mir nicht schwer. Ich fühlte mich sehr wohl in den Staaten, mochte die Menschen, ihren Fleiß und ihren unerschütterlichen Optimismus. Das war wohltuend anders als hier.«
»Es war somit die richtige Entscheidung.«
»Ja. Unbedingt. Ich bemühte mich sehr darum, die beiden Unternehmenskulturen zu verschmelzen und mein Gedankengut in die neue Gesellschaft in den USA, in der drei Viertel der Beschäftigten aus der alten GlobalTech kamen, zu implantieren. Manchmal warfen mir meine schwedischen Landsleute missionarischen Eifer vor und dass ich deutscher sei als die Deutschen, was natürlich Quatsch war, aber wir in Schweden sind halt neutral. Neutral bis in die Knochen und sogar dann noch, wenn wir es besser wissen sollten. Sie sehen, Herr Gerstel, jeder hat sein Päckchen zu tragen.«
»Sehe ich das richtig, dass Sie froh über Ihre Entscheidung waren?«
»Ja. Das war ich. Als all diese Egoismen, die Empfindlichkeiten und ein mir unerträglicher Narzissmus aus der Verborgenheit oberflächlicher Kooperationsbereitschaft ungeschönt an das Tageslicht traten, wurde mir klar, dass alles, was wir verkörpert hatten, nur Schein gewesen war.
Das war eigentlich die größte Enttäuschung in meinem Leben. Wir waren alle parkettsicher und überall vorzeigbar, aber im Grunde unseres Herzens tief verfeindet und in Grabenkämpfen, Spartenegoismen und Ressortrivalitäten verstrickt.
Sicher. Es gab in der GlobalTech auch Stimmen, die mich im Vorstand der UniTech haben wollten, aber es gab natürlich auch die, die einen Deutschen für geeigneter hielten. Den Amerikanern in Cupertino war schon bewusst, was es bedeutete, zwei so unterschiedliche Unternehmenskulturen erfolgreich zu vereinen und sie haben auch schnell gemerkt, dass es mit totaler Unterjochung der MicroData nicht ging. Dazu waren wir auch zu groß und zu erfolgreich.«
»Aber Konkurrenten waren Sie doch vor der Fusion auch, oder?«
»Ja, sicher. Aber nur potentiell. Jetzt war es real. Wir würden fusionieren und einer von uns würde in den Vorstand kommen. Das war eine völlig andere Situation als vorher. Vor der Entscheidung zu fusionieren wusste jeder, dass unser Vertriebsvorstand in der MicroData noch zu jung war, um in den Ruhestand zu gehen. Gründe, ihn abzulösen, gab es nicht. Also mussten wir uns gedulden. Jetzt verließ er das Unternehmen. Fragen Sie mich nicht, warum. Fakt ist: Er ging. Damit war die Position des Vorstandes frei.«
»Und die strebte selbstverständlich jeder von Ihnen an.«
»Natürlich.«
»Wie war das denn bei Ihnen, Herr Jonsson?«
»Ich hatte Glück. Es wurde schnell klar, dass ich das Nordamerika-Geschäft auch in der neuen UniTech sowie Skandinavien und Großbritannien übernehmen würde. Die GlobalTech hatte diese Regionen anders strukturiert und schloss sich meinen Vorstellungen an, sie wie in der MicroData zu ordnen. Aber wichtiger war wohl noch, dass mein amerikanischer Kollege sein Alter hatte. Also konnte ich das ganze Geschehen sehr entspannt angehen.«
»Das war bei den anderen nicht so, nicht wahr?«
»Reinhard Saatkamp würde es sehr schwer haben, sich gegen seinen Kollegen von der GlobalTech durchzusetzen. Das war klar. Südamerika war eine erfolgreiche Region der GlobalTech gewesen, und ihr Chef war ein aufstrebender, noch recht junger Mann, dem man eine große Karriere voraussagte.
Sikorra und Wittenberg waren eigentlich ungefährdet, und Rensing wurde hinter verschlossenen Türen als der neue Vertriebsvorstand gehandelt.
»Wie lange hat es denn dann noch bis zur Fusion gedauert?«
»Etwa ein halbes Jahr. Im Herbst fand eine große Convention im Kongresszentrum von Las Vegas statt. Etwa achthundert Top-Führungskräfte aus der ganzen Welt waren geladen, und in Live-Video-Übertragungen konnte jeder Mitarbeiter überall auf der Welt die Veranstaltung mit verfolgen. Ziel war, alle auf die neue UniTech einzuschwören.«
»Zu dem Zeitpunkt war das Rennen um den Vorstandsessel aber schon gelaufen?«
»Ja. Helmut Sikorra hatte das Rennen gemacht. Er präsentierte sich in Las Vegas zum ersten Mal einem größeren Kreis.«
»Und was war mit Rensing?«
»Der war weg. Er hatte das Unternehmen verlassen. Ich wusste nicht warum, denn ich war im Herbst schon vier Monate in den USA. Er war eigentlich der Favorit. Nicht nur, dass er hervorragende Ergebnisse vorzuweisen hatte; er leitete auch die Region, auf die es die GlobalTech besonders abgesehen hatte.«
»Wie das?«
»Nun, sehen Sie, Herr Gerstel. In Deutschland hatten wir einen Marktanteil von über siebzig Prozent. GlobalTech zehn. In Österreich gab es die GlobalTech überhaupt nicht, und in der Schweiz waren sie nur eine kleine Nummer. Die GlobalTech wollte an die Entwicklungsbereiche der MicroData ran und das Deutschlandgeschäft übernehmen. Ich denke aber, dass die Amerikaner bereits wussten, wie sich die Welt in den kommenden Jahren verändern würde, und dass Deutschland dann in dem sich stetig vergrößernden Wirtschaftsraum Europa eine erheblich bedeutendere Rolle einnehmen würde.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Das liegt doch auf der Hand, Herr Gerstel. Mitte der achtziger, Anfang der neunziger Jahre zeigten sich die ersten Auflösungserscheinungen in der sozialistischen Wirtschaftszone. Ohne Milliardenkredit der Bundesrepublik zehn Jahre zuvor hätte die DDR damals schon nicht überleben können. Gorbatschow verkündete neunzehnhundertfünfundachtzig Glasnost und stieß damit die Türe auf für eine kritische und vor allem öffentliche Diskussion über die sowjetische Wirtschaft, die schon längst tief in der Krise steckte. Als wir die Fusion vorbereiteten, hatte ich mir das schon so gedacht, und Wittenberg erzählte mir mal halb im Scherz, dass er mit Südeuropa den falschen Teil Europas in den Händen hielt. Da hatte er Recht. Für uns gab es keinen Zweifel, dass alles auf Rensing zu lief. Das Ass war Osteuropa, und das hatte Herbert Rensing im Ärmel. Heute steht für mich fest, dass sich die Amerikaner mit der Zusammenführung der GlobalTech und der MicroData zur UniTech in Deutschland für die Öffnung des Marktes nach Osten in Stellung bringen wollten.«
Hauptkommissar Gerstel entnahm seiner Jacke eine Schachtel mit Zigaretten.
»Darf ich?«
»Von mir aus schon. Aber hier ist ein Krankenhaus. Da weiß ich nicht.«
Gerstel öffnete das Fenster und zündete die Zigarette an.
»Und was hat das jetzt mit der Besetzung des Vorstandspostens zu tun?«
»Nun, das liegt doch auf der Hand, und das war uns allen auch damals schon klar. Herbert Rensing leitete neben Deutschland auch Osteuropa. Das war damals ein nicht ganz unproblematischer Markt. Es war alles noch zwangsbewirtschaftet, und wir hatten durch die CoCom-Beschränkungen immer noch erhebliche Hindernisses zu überwinden.«
»CoCom? Was ist das?« Hauptkommissar Gerstel schloss das Fenster wieder, nachdem er die Kippe in den Garten geworfen hatte.
»Im Grunde genommen war dies ein Technologieboykott der westlichen Staaten gegenüber dem Ostblock. In einer Liste, der sogenannten CoCom-Liste, waren Produkte der Informationsverarbeitung und Technologien aufgelistet, die nicht in den Ostblock exportiert werden durften, weil sie zu militärischen Zwecken hätten genutzt werden können. Ältere Technologien waren freigegeben, doch auch das musste immer wieder gesondert von Fall zu Fall beantragt werden. Wir, als Produzent von Mikroelektronik, waren von diesen Beschränkungen, wie Sie sich sicher vorstellen können, maßgeblich betroffen. Würden die Ostblockstaaten sich uns gegenüber öffnen, was sich nach dem Mauerfall mit beschleunigtem Tempo abzeichnete, war klar, dass auch die Handelsbeschränkungen gelockert werden würden. So ist es ja dann auch kurz darauf gekommen. Wer hätte denn Ende der achtziger Jahre, als trotz der Öffnung des Eisernen Vorhangs immer noch der kalte Krieg herrschte, und das Klima zwangsläufig noch von gegenseitigem Misstrauen geprägt wurde, schon geglaubt, dass Länder wie Polen, Ungarn oder Tschechien fünfzehn Jahre später in der Europäischen Union sein würden.
Hier zeichnete sich ein riesiger Markt ab, und diesen Markt konnte man von Deutschland aus bestens bedienen. Deutschland als High-Tech-Land mit einer bestens funktionierenden Industrieinfrastruktur und einer Produktion auf höchstem Qualitätsniveau war als Operationsbasis ideal geeignet, und die MicroData war ein wesentlicher Teil davon.
Man musste sich nur rechtzeitig aufstellen, möglichst lange bevor die Öffnung nach Osten thematisiert würde, die Handelsschranken fielen und alle auf den Markt drängten. Und um auf den Märkten sofort präsent zu sein, wenn es dann losgehen würde, brauchte man die Menschen, die das Geschäft in diesen Ländern verstanden und die Kontakte hatten. Und bei uns war das Herbert Rensing. Deshalb hatte er das Ass im Ärmel.«
»Aber Russland gehörte auch dazu, und Russland wurde von Helmut Sikorra bearbeitet?«
»Ganz genau, Herr Hauptkommissar. Und deshalb gab es den Krieg. Sikorra versuchte, sich immer wieder in Stellung zu bringen, doch die Amerikaner betrachteten Russland skeptisch. Das Land taumelte dahin. Die ehemaligen Sowjetstaaten hatten sich von der Union losgesagt. Alles befand sich im Umbruch. Vorsicht war angesagt, denn dieses kurz nach dem Mauerfall unkalkulierbare Land war immerhin noch bis an die Zähne bewaffnet und eine Atommacht. Die Entwicklung der folgenden zehn Jahre in Russland konnte damals keiner genau vorhersehen, und es bestand große Sorge, dass Russland im Chaos versinken könnte, was ja dann auch tatsächlich in der Jelzin-Zeit mit galoppierender Inflation und Korruption eintrat. Mit solch einem Land, das instabil und unberechenbar ist, lassen sich schwer Geschäfte machen. Vor allem auch mit Dual-Use-Produkten.
»Womit?«
»Mit Produkten, die aufgrund ihrer Eigenschaften sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke genutzt werden können.«
»Und das waren Ihre Produkte natürlich.«
»Sicher, Herr Hauptkommissar. Das war und ist auch heute noch hochoffiziell im sogenannten Wassenaar-Abkommen festgelegt.
Also Russland war ein komplizierter Markt. Interessanter waren da die früheren Vasallenstaaten wie Polen, das seit Solidarnosz Demokratie versuchte, die Tschechoslowakei, damals hatte sich die Slowakei ja noch nicht abgespalten, die schon einen Versuch mit dem Prager Frühling hinter sich hatte und sich von Russland nachdrücklich abnabelte, oder auch Ungarn, deren Öffnungsversuch neunzehnhundertsechsundfünfzig blutig niedergeschlagen worden war, und die schon zu Zeiten der UdSSR ihren sogenannten Gulasch-Sozialismus praktizierten. Sie werden das als Österreicher sicher registriert haben.«
Der Hauptkommissar nickte.
»Diese Staaten strebten nach Anlehnung an oder sogar Integration in Europa. In diesen Gesellschaften herrschte ein unbeschreiblicher Nachholbedarf an mikroelektronischen Produkten, der einen Nachfrageboom auslösen würde.
Die Amerikaner verfolgten die Strategie, das Geschäft allmählich von Deutschland aus nach Osten zu verschieben, und das war Rensings Geschäft.«
»Und warum ist dann Sikorra in den Vorstand gekommen?«
»Ja, warum? Rensing brauchte nur zu warten. Und er wartete auch. Sikorra sah das und wusste, wenn er auch warten würde hätte er verloren. Er musste handeln, und er handelte, und dies tat er so, wie es seine Art war. Kurz und schmerzlos. The first Cut ist the deepest.«