Читать книгу Rocking The Wall. Bruce Springsteen - Erik Kirschbaum - Страница 10
Kapitel 2:
TRÄUME IN DER MAUERSTADT
ОглавлениеBaby this town rips the bones from your back It’s a death trap, it’s a suicide rap We gotta get out while we’re young ’cause tramps like us, baby we were born to run
Born to Run
Das Jahr 1988 war nicht nur für Springsteen eine Zeit des Umbruchs, das galt auch für die politische Lage in Europa. Die bevorstehenden revolutionären Umwälzungen sendeten überall ihre Vorboten. Der Kalte Krieg, der Europa, Amerika und die ganze Welt über Jahrzehnte in Atem gehalten hatte, steuerte auf sein unerwartetes und abruptes Ende zu. In vielen Staaten Osteuropas waren zu dieser Zeit evolutionäre Veränderungen zu spüren und es sollte nur wenig mehr als anderthalb Jahre dauern, bis auch das realsozialistische Experiment auf deutschem Boden nur noch Geschichte war.
Dennoch: Als die „Tunnel of Love Express“- Tour am 6. Januar 1988 angekündigt wurde, war der Kalte Krieg noch frostig und folglich fand sich unter den 66 Konzertstationen keine einzige in einem osteuropäischen Land. Auch das Konzert in Ostberlin schwebte zu diesem Zeitpunkt allenfalls als vage Hoffnung in den Köpfen einiger Visionäre. Der Europa-Teil der Tour sollte zunächst 25 Konzerte umfassen. Die Tournee startete am 11. Juni in Turin und sollte am 3. August in Barcelona zu Ende gehen. Dazwischen waren Konzerte in Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Schweden, Irland, der Schweiz, der Bundesrepublik, Dänemark und Norwegen geplant.
Mitten in der Europa-Tournee kündigte Springsteen am 3. Juli in Stockholm an, dass die Band sich der Kampagne von Amnesty International anschließen und bei einer Reihe von „Human Rights Now“-Konzerten gemeinsam mit anderen Künstlern auftreten werde. Dies war Teil der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Ausrufung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und sollte helfen, auf das Thema auch jenseits feierlicher Veranstaltungen in Parlamenten und auf Kongressen aufmerksam zu machen. Geplant war eine sechswöchige Benefiz-Tournee mit zwanzig Konzerten. Neben Springsteen und der E Street Band nahmen auch Sänger wie Sting, Tracy Chapman und Peter Gabriel an der Tournee teil.
Für Springsteen war es nicht das erste Mal, dass er sich in den Dienst einer guten Sache stellte. Schon 1985 nahm er an der „We Are the World“-Kampagne zugunsten der Hungerbekämpfung in Afrika teil. Er gehörte zu den wichtigsten Unterstützern der Hilfskampagne für amerikanische Vietnam-Veteranen, und 1979 beteiligte er sich an einem „Musiker-gegen-Atomkraft“-Konzert der Initiative „Musiker für sichere Energie“. Etwa zur selben Zeit, in der er die Teilnahme an der Menschenrechts-Tournee von Amnesty International bekanntgab, arbeitete eine weitere Idee in Springsteen. Seit Jahren hatte er den Gedanken gehegt, nun schien ihm die Zeit zu seiner Verwirklichung gekommen: Wie wäre es, nicht nur in Westberlin, in Frankfurt oder München zu spielen, sondern auch jenseits des Eisernen Vorhangs, im Ostteil Berlins?
Springsteen trug die Idee einige Tage mit sich herum, bevor er den Menschen ins Vertrauen zog, der den Wunsch wohl besser verstand als die meisten anderen: seinen Freund, Manager, Produzenten und Ratgeber Jon Landau. Springsteen und Landau arbeiteten schon seit 1975 zusammen und die Geschichte ihrer Freundschaft ist mittlerweile Legende in der Rockgeschichte. Der damalige Musikkritiker Landau, damals schon ein bebrillter Mann mit dünnem Haar und nur zwei Jahre älter als Springsteen, hatte 1974 ein Konzert des jungen Musikers in einem Club in Massachusetts besucht und danach eine der mittlerweile berühmtesten Kritiken der Musikgeschichte geschrieben. „Ich habe die Zukunft des Rock and Roll gesehen und ihr Name ist Bruce Springsteen“, lautete der zentrale Satz in Landaus Kritik im Bostoner Alternativblatt The Real Paper. Ein solch hymnischer Aufschrei des renommierten Musikkritikers – Landau war auch Autor des legendären Magazins Rolling Stone – kam einem Ritterschlag für den jungen Springsteen gleich. In Landaus Text heißt es weiter: „In einer Nacht, in der ich mich danach sehnte, jung zu sein, gab er mir das Gefühl, als hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben Musik.“
Die Sentenz von der „Zukunft des Rock and Roll“ war für Springsteen, der gerade seine zweite Platte bei CBS produziert hatte, der Durchbruch. Trotz seines zweiten Plattenvertrages war der Musiker zu dieser Zeit alles andere als ein großer Star. Und diese wohl wichtigste Konzertkritik in der Geschichte der Rockmusik sollte nicht nur das Leben Springsteens verändern. Auch für ihren Urheber Jon Landau war danach nichts mehr so wie zuvor: Die Kritik in dem Alternativblatt brachte beide Männer zusammen. Springsteen entschied sich, Landau anzubieten, an seiner nächsten Platte mitzuarbeiten.
Born to Run machte aus dem talentierten Jung-Rocker aus New Jersey endgültig einen Star. Und nach Springsteens eigenen Worten war der Beitrag Landaus zu dem Album so wesentlich, dass er ihm anbot, weiter mit ihm zu arbeiten. Aus dem anfänglichen Co-Produzenten und Ratgeber wurde in den kommenden Jahrzehnten der Manager, Produzent und Weggefährte. Beide verbindet eine sehr enge und langjährige Freundschaft. Landau wird ein großer Einfluss auf das Schaffen Springsteens nachgesagt, und dieser erfüllte seinem Freund und Manager vor einem Jahrzehnt einen Lebenstraum, indem er ihn bei mehreren Konzerten mit in der Band auftreten ließ. Nach einer schweren Operation, infolge derer Landau 2011 die Sehkraft auf einem Auge verlor, verbrachte Springsteen fast jeden Tag mit seinem Freund.
An diesen engen Mitstreiter wandte sich also Springsteen während der Europa-Tournee von 1988, um auszuloten, ob ein Konzert in Ostberlin möglich sei. Landau erinnert sich noch gut daran: „Bruce kam und fragte, ‚Wie stehen die Chancen, dass wir nach Ostberlin können?‘.“ Und in seiner typischen Art, effizient zu arbeiten und nicht allzu viele Worte zu verlieren, antwortete Landau lediglich: „Ich sagte, ich finde das raus.“
Landau überlegte nur kurz und wandte sich dann an den Organisator ihrer Tournee-Auftritte in Westdeutschland, Marcel Avram. Ob er Erfahrungen mit Konzerten in Ostberlin habe, wollte Landau zunächst wissen. „Und er hatte welche. Also organisierte er alles. Mit der Debatte um die Menschenrechts-Tournee und dem Organisieren zusätzlicher Termine im Kopf war es Bruce wirklich wichtig, in Ostberlin aufzutreten“, sagt Landau. In der Woche nach dem Stockholmer Konzert spielte Springsteen am 12. Juli in Frankfurt, danach am 14. Juli in Basel und am 17. Juli in München. Vor dem nächsten Konzert am 22. Juli in Westberlin gab es eine fünftägige Pause. Das könnte die Lücke sein, dachte Landau. Die rasche und positive Antwort aus Ostberlin erstaunte nicht nur Springsteen, wie er sich in seinem Interview mit dem DDR-Fernsehen während einer Konzertpause erinnerte.
„Wir riefen an und die Antwort kam sofort. Es war wie: ‚Ja, kommt rüber.’“
Dass sich der Eiserne Vorhang so rasch für Springsteen öffnete, war ein weiteres Indiz dafür, wie weit der Wandel in den Staaten des Ostblocks bereits gediehen war. Das war die Zeit der Entspannung, als Michail Gorbatschow Glasnost und Perestroika ausrief, und damit sanken auch die Hürden für westliche Musiker, im Osten aufzutreten. Hinzu kam, dass die Machthaber in Ostberlin sich sehr wohl bewusst waren, dass sich vor allem junge Leute immer mehr von den Idealen des „real existierenden Sozialismus“ abwandten und sich die Unzufriedenheit rasch zu Protesten auswachsen könnte. Ein kleines Ventil schien durchaus im Eigeninteresse der DDR-Elite zu liegen, selbst wenn man in Ostberlin gegenüber Reformen deutlich reservierter als beispielsweise in Ungarn oder – unter Gorbatschow – selbst in der Sowjetunion war.
Born to Run
Springsteens Wunsch, in Ostberlin zu spielen, reichte bis 1981 zurück. Damals, im April, war er von Westberlin aus mit einem Tagesvisum als einfacher Tourist in den Ostteil der Stadt gekommen. Wie viele Amerikaner faszinierten auch ihn die Geschichte der deutschen Teilung und insbesondere das Leben in der seit dem Bau der Mauer 1961 nicht nur politisch, sondern auch faktisch geteilten Stadt. Dabei war es nicht die „große Politik“, für die er sich interessierte. Ihn fesselten die Geschichten aus dem Alltag der Menschen diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs, Geschichten von Trennungen und Flucht, aber auch weniger dramatische Erzählungen von den Mühen und auch Freuden des Alltags in der DDR. Schon bei seinem kurzen Ausflug 1981 hätte Springsteen gerne die Chance ergriffen und ein Konzert im Osten der Stadt gegeben. Doch zu dieser Zeit war der Kalte Krieg besonders frostig – erst wenige Monate zuvor war Ronald Reagan als 40. US-Präsident vereidigt worden und im Osten Deutschlands hatten Erich Honecker und seine nicht weniger ideologisch festgefahrenen Vertrauten die Fäden in der Hand. Wohl nichts hätte die ostdeutschen Behörden bewegen können, einen amerikanischen Rockstar auftreten zu lassen, möge dieser sich auch noch so kritisch mit den Schattenseiten des Lebens in den USA auseinandersetzen.
In den Jahren vor der Öffnungspolitik des KPdSU-Generalsekretärs Michail Gorbatschow hatte die Moskauer Führung die Staaten des Ostblocks, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter sowjetische Besatzung geraten waren, in ihrem eisernen Griff. Seit 1968 galt die so genannte Breschnew-Doktrin, benannt nach dem damaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Leonid Breschnew. Die Hinwendung eines sozialistischen Staates zum Kapitalismus galt der Doktrin zufolge als Gefährdung aller sozialistischen Staaten. Die Breschnew-Doktrin bildete die ideologische Grundlage für den sowjetischen Einmarsch in der Tschechoslowakei im Jahr 1968, bei dem russische Panzer zaghafte Bemühungen um einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ im Prager Frühling niederschlugen.
Aber auch zuvor hatte es bereits ein ähnlich hartes Vorgehen von russischer Seite gegeben. Erhebungen in den baltischen Staaten wurden niedergeschlagen und Aufständler nach Sibirien verschleppt. Der Volksaufstand in der DDR 1953 sowie eine Rebellion in Ungarn drei Jahre später wurden ebenfalls brutal unterdrückt, aus Furcht vor einem Übergreifen der Proteste auf weitere sozialistische Staaten. Die Breschnew-Doktrin wurde nur Wochen vor dem Fall der Mauer durch die so genannte „Sinatra-Doktrin“ ersetzt, die den einzelnen Ländern im kommunistischen Lager erheblich mehr Freiraum im Umgang mit Protesten, aber auch bei wirtschaftlichen Reformen gewährte. Den Namen bekam sie in Anlehnung an Frank Sinatras Song My Way. Es war ein Meilenstein auf dem Weg der Sowjetunion, die Staaten Osteuropas aus der Umklammerung zu entlassen und ihnen eigene Wege in die Zukunft zuzubilligen.
In der DDR verstanden die Machthaber – anders als in vielen anderen Ländern – die neu zugebilligte Freiheit weniger als Ermunterung, der Reformfreude und Experimentierlust eines Michail Gorbatschows zu folgen, als vielmehr als Erlaubnis, alles beim Alten zu lassen. „Wenn der Nachbar sein Haus renoviert, heißt das noch lange nicht, wir müssten auch unsere Zimmer tapezieren.“ Dieser Ausspruch Erich Honeckers noch 1989 ist zum Sinnbild der Verbohrtheit der alten SED-Herrschaft geworden. Zum Ende der 80er-Jahre war die DDR ein Land, das sich an Hartleibigkeit und Reformunwillen innerhalb des sozialistischen Lagers nur noch mit Staaten wie Kuba oder Rumänien messen konnte.
Von Freiheiten, derer sich die Bürger etwa der Tschechoslowakei, Polens oder Ungarns verstärkt erfreuen konnten, war in der DDR unter Honecker nicht viel zu spüren: An der innerdeutschen Grenze wurde weiter auf Flüchtlinge geschossen, die versuchten, in den Westen zu fliehen, und der DDR-Staatssicherheitsapparat bespitzelte und infiltrierte eifrig alle Bestrebungen, die auch nur nach Opposition rochen. Und auch die hoffnungslos hinter dem Westen Deutschlands hinterherhinkende wirtschaftliche Entwicklung mit den entsprechenden Mängeln bei der Versorgung der Bevölkerung trug dazu bei, dass viele – vor allem junge – Menschen frustriert waren und sich nach Veränderungen sehnten. Viele verfolgten mit einer Mischung aus Staunen, Begeisterung und Neid die Entwicklungen, die Gorbatschow in Gang gesetzt hatte – und von denen sie doch nur sehr beschränkt etwas in ihren eigenen Leben spüren konnten.