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Mau­e­r­ab­schnitt der East Side Gal­le­ry an der Müh­len­stra­ße

Foto: Erik Kisch­baum

Springs­teen war 1981, als er zum ers­ten Mal in die DDR reis­te, zwar be­reits eine in­ter­na­ti­o­na­le Be­rühmt­heit, aber den Auf­stieg zum Welt­star schaff­te er erst drei Jah­re spä­ter mit Born in the USA. In der Zeit sei­nes ers­ten Ost­ber­lin-Be­suchs war der Sän­ger auf sei­ner ers­ten gro­ßen Eu­r­o­pa-Tour­nee mit The Ri­ver. Den Auf­takt zu der Tour über 34 Sta­ti­o­nen mach­te ein Kon­zert in Ham­burg am 7. April. Es war ein vol­ler Er­folg. Es ge­lang Springs­teen und sei­ner Band, das als sto­isch be­kann­te Ham­bur­ger Pu­bli­kum nach nur kur­z­er Zeit in eine Men­ge be­geis­tert tan­zen­der und sin­gen­der Rock­fans zu ver­wan­deln. Von dort aus mach­te er sich auf der Tran­sit­stre­cke auf den knapp 300 Ki­lo­me­ter lan­gen Weg nach West­ber­lin, wo er am 8. April im In­ter­na­ti­o­na­len Con­gress Cen­trum (ICC) auf­trat, üb­ri­gens auch zum ers­ten Mal im West­teil der Stadt. Es war ein an­ge­nehm mil­der Mitt­woch im Früh­ling mit Tem­pe­ra­tu­ren von be­reits 15 Grad.

Das nur zwei Jah­re zu­vor er­öff­ne­te ICC mit sei­nen 5.000 Zu­schau­e­r­plät­zen wirk­te eher wie ein Raum­schiff denn wie eine Kon­zert­hal­le, aber das Kon­zert war ein Er­folg. Vor dem nächs­ten Auf­tritt in Zü­rich, am 11. April, hat­ten Springs­teen und sei­ne Band eine drei­tä­gi­ge Pau­se. Springs­teen leg­te im­mer Wert auf sol­che Zeit­fens­ter zwi­schen ein­zel­nen Auf­trit­ten, um Ge­le­gen­heit zu ha­ben, die Gast­län­der ken­nen­zu­ler­nen und mit den Men­schen dort zu spre­chen, und auch die Band­mit­glie­der nutz­ten die freie Zeit ger­ne für Er­kun­dun­gen auf ei­ge­ne Faust. Die „The Ri­ver“-Tour­nee war für den da­mals 31-jäh­ri­gen Mu­si­ker aus New Jer­sey eine ein­dring­li­che Er­fah­rung – auch jen­seits der Büh­ne. Er lern­te viel über Eu­r­o­pa, aber auch dar­über, wie man auf dem Kon­ti­nent die Ver­ei­nig­ten Staa­ten – im Po­si­ti­ven wie im Kri­ti­schen – sah.

Springs­teens ers­te Be­su­che in West- wie Ost­ber­lin fie­len in eine Zeit größt­mög­li­cher Vor­be­hal­te, so­wohl im Ver­hält­nis zwi­schen den USA und dem öst­li­chen Staa­ten­block als auch vie­ler Deut­scher ge­gen­über den USA. Es war die Zeit der Hoch­rüs­tung. Wenn ein US-Bür­ger mit ei­nem Deut­schen sprach, dau­er­te es meist nicht lan­ge, bis die Spra­che auf die in West­deut­sch­land sta­tio­nier­ten und sehr um­strit­te­nen Pers­hing-II-Mit­tel­stre­cken­ra­ke­ten kam, die von West­deut­sch­land aus die DDR be­droh­ten. Wie vie­le an­de­re Ame­ri­ka­ner auch, er­fuhr Springs­teen, dass vie­le West­deut­sche, aber auch Ost­deut­sche mehr über die Po­li­tik der Ver­ei­nig­ten Staa­ten zu wis­sen schie­nen, als so man­cher Ame­ri­ka­ner.

In die­ser At­mo­sphä­re also nutz­te Springs­teen den frei­en Tag nach dem Kon­zert im West­ber­li­ner ICC zu ei­nem Be­such in Ost­ber­lin, ganz so, wie es Hun­der­te West­ler je­den Tag ta­ten. Was er sah, war die graue und tris­te „Haupt­stadt der DDR“, ein Ab­klatsch der pul­sie­ren­den deut­schen Me­tro­po­le aus der Zeit vor dem Krieg und ein be­mer­kens­wer­ter Kon­trast zur In­sel West­ber­lin. Die Bun­des­re­gie­rung pump­te da­mals Mil­li­ar­den nach West­ber­lin, das „Schau­fens­ter des Wes­tens“, das mit sei­nen zwei Mil­li­o­nen Ein­woh­nern im­mer noch die größ­te Stadt Deut­sch­lands war. Vom Flug­ver­kehr über die Löh­ne und dem auf­ge­bläh­ten öf­fent­li­chen Dienst bis hin zu den Werk­bän­ken der In­dus­trie und der Re­no­vie­rung von gan­zen Stadt­tei­len wur­de al­les sub­ven­tio­niert. West­ber­lin war eine Stadt mit vie­len Ge­sich­tern: Ein Spi­o­na­g­e­pos­ten der West­al­li­ier­ten, vor al­lem der Ame­ri­ka­ner, eine glit­zern­de Kon­sum- und Kul­tur­me­tro­po­le, die mit der Ber­li­na­le die wich­tigs­ten deut­schen Film­fest­spie­le aus­rich­te­te und de­ren Knei­pen kei­ne Sperr­stun­de kann­ten, aber auch eine Stadt mit Miet­preis­bin­dung und Ein­schuss­lö­chern in den vie­len Alt­bau­ten mit Koh­len­hei­zung.

Und wäh­rend alt­ein­ge­ses­se­ne Ber­li­ner nach West­deut­sch­land fort­zo­gen, ka­men Hun­dert­tau­sen­de aus der Bun­des­re­pu­blik: Stu­den­ten, Künst­ler, Le­bens­künst­ler, Haus­be­set­zer und Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer, und auch Hun­dert­tau­sen­de von Gast­a­r­bei­tern aus der Tür­kei, Grie­chen­land und Ita­li­en. Sie alle fan­den eine Ni­sche in die­ser Stadt, wo der Kon­flikt der Welt­mäch­te all­ge­gen­wär­tig war. Die Angst, von den Trup­pen des Os­tens über­rollt zu wer­den – nahe Ber­lin wa­ren zeit­wei­se bis zu 300.000 rus­si­sche Sol­da­ten sta­tio­niert –, war da­mals nicht mehr so greif­bar wie in den 60er-Jah­ren, aber vor al­lem äl­te­re West­ber­li­ner emp­fan­den es als Rü­ck­ver­si­che­rung, dass Tau­sen­de Sol­da­ten der West­al­li­ier­ten, vor al­lem aus den USA, in der Stadt sta­tio­niert wa­ren.

Po­li­tisch war Ber­lin schon seit 1948 ge­teilt, wenn­gleich die Al­li­ier­ten, auch die So­wje­t­u­ni­on, noch bis zum Schluss im Al­li­ier­ten Kon­troll­rat zu­sam­me­n­a­r­bei­te­ten. Aber der Mau­e­r­bau vom 13. Au­gust 1961 trenn­te nun auch fak­tisch Ber­li­ner Fa­mi­li­en und Freun­de. Über Nacht wur­de das Le­ben ei­ner gan­zen Me­tro­po­le aus­ein­an­der­ge­ris­sen. Doch es dau­er­te ei­ni­ge Zeit, bis im Wes­ten eine ein­heit­li­che Li­nie im Um­gang mit der neu­en Si­tua­ti­on ge­fun­den wur­de. Selbst John F. Ken­ne­dy, der­je­ni­ge US-Prä­si­dent, der mit sei­ner be­rühm­ten „Ich bin ein Ber­li­ner“-Rede spä­ter zu den Iko­nen des frei­en Wes­tens wur­de, hat­te eine ziem­lich prag­ma­ti­sche Ein­stel­lung zur Mau­er oder dem „an­ti­fa­schis­ti­schen Schutz­wall“, wie sie im Os­ten of­fi­zi­ell ge­nannt wur­de. „Eine Mau­er ist ver­dammt viel bes­ser als ein Krieg“, sag­te Ken­ne­dy ein­mal. Er spiel­te da­mit auf eine Funk­ti­on an, die die Mau­er nach Mei­nung vie­ler Wis­sen­schaft­ler auch hat­te. Näm­lich, die Span­nun­gen ab­zu­fe­dern, die sich im Kal­ten Krieg zwi­schen den Sys­te­men be­sorg­nis­er­re­gend auf­bau­ten.

Ken­ne­dy stand mit sei­ner Mei­nung nicht al­lein. Zwei Wo­chen, be­vor die Bau­a­r­bei­ten für die Ber­li­ner Mau­er auf­ge­nom­men wur­den, wun­der­te sich sein au­ßen­po­li­ti­scher Be­ra­ter, der Se­na­tor des US-Bun­dess­taa­tes Ar­kan­sas, Wil­li­am Ful­b­right, in ei­nem In­ter­view öf­fent­lich, wie­so die Füh­rung des kom­mu­nis­ti­schen Ost­deut­sch­lands noch nicht auf die Idee ge­kom­men sei, eine Mau­er zu bau­en. Zu un­ver­meid­lich er­schien es Leu­ten wie Ken­ne­dy oder Ful­b­right, dass die DDR-Füh­rung et­was da­ge­gen un­ter­neh­men wer­de, dass eine wach­sen­de Zahl von Men­schen in den Wes­ten ab­wan­der­te. Eben­falls ver­ges­sen ist ein Aus­spruch des da­ma­li­gen bri­ti­schen Pre­mi­er­mi­nis­ters Ha­rold Mac­mil­lan, der er­klärt hat­te, er kön­ne nichts Il­le­ga­les dar­an ent­de­cken, dass die kom­mu­nis­ti­sche Füh­rung in Ost­ber­lin al­les dar­an setz­te, den an­schwel­len­den Strom von Flücht­lin­gen aus dem ver­meint­li­chen Ar­bei­ter- und Bau­ern­pa­ra­dies zu stop­pen. Für bri­ti­sche Po­li­ti­ker war dies in­des kei­ne un­ge­wöhn­li­che Hal­tung: Es war Mac­mil­lans Nach­fol­ge­rin Mar­ga­ret That­cher, die Gor­bat­schow noch nach dem Fall der Mau­er dräng­te, an der deut­schen Tei­lung fest­zu­hal­ten.

Die klaf­fen­de Wun­de der Tei­lung, die Stra­ßen, Plät­ze, Freund­schaf­ten und vie­le Fa­mi­li­en durch­zog, blieb noch lan­ge nach dem Fall der Mau­er spür­bar. Aber für vie­le aus­län­di­sche Be­su­cher mach­te ge­ra­de die Mau­er mit ih­ren Wach­tür­men, dem To­des­strei­fen und den Wach­hun­den einen Groß­teil der Fas­zi­na­ti­on der Stadt aus. Für Tou­ris­ten gab es da­mals höl­zer­ne Aus­sichts­tür­me, von de­nen aus sie über die Mau­er se­hen und sich gru­seln konn­ten. Auch der jun­ge Rock­mu­si­ker Bruce Springs­teen aus New Jer­sey, der so vie­le Ge­schich­ten vom Kal­ten Krieg ge­hört hat­te, fand das fas­zi­nie­rend. Denn: Es gab zu die­ser Zeit si­cher kei­nen ge­eig­ne­te­ren Platz in Eu­r­o­pa, eine Vor­stel­lung vom Kal­ten Krieg und dem Kon­trast zwi­schen Ost und West zu be­kom­men, als Ber­lin.

Springs­teen kam in ein Ost­ber­lin, das in der The­o­rie ein Ar­bei­ter­pa­ra­dies war. Mie­ten wa­ren im Ver­gleich zu west­deut­schen Groß­städ­ten wie Mün­chen oder Ham­burg spott­bil­lig, Ar­beits­lo­sig­keit exis­tier­te dank staat­lich ver­ord­ne­ter Voll­be­schäf­ti­gung nicht. Da war es egal, ob je­der Ar­beits­platz wirk­lich eine sinn­vol­le Be­schäf­ti­gung bot. Ein po­pu­lä­rer Slo­gan aus der DDR lau­te­te: „Ihr tut so, als ob ihr uns be­zahlt, und wir tun so, als ob wir ar­bei­ten.“ Auch die Ein­kom­mens­un­ter­schie­de wa­ren viel ge­rin­ger als im Wes­ten. Män­ner und Frau­en wur­den für glei­che Ar­beit gleich be­zahlt, wenn­gleich die Löh­ne ge­ne­rell nied­rig wa­ren. Springs­teen kam aber auch in ein Land, in dem es kei­ne grund­le­gen­den Rech­te wie Rei­se­frei­heit, Ver­samm­lungs­frei­heit und freie Wah­len gab, wo es schwie­rig war, Un­ter­hal­tungs­elek­tro­nik wie Fern­se­her, aber auch Ba­na­nen oder Oran­gen zu kau­fen und wo ein per­fekt ge­spann­tes Sys­tem aus Po­li­zei, Staats­si­cher­heit und in­for­mel­len Mit­a­r­bei­tern jede sys­tem­kri­ti­sche Re­gung im Keim zu er­sti­cken such­te.

Der Über­wa­chungs­wahn in der DDR ging so weit, dass selbst der Ge­brauch von Fo­to­ko­pie­rern streng über­wacht wur­de und der von Te­le­fo­nen so­wie­so. Men­schen sa­ßen we­gen po­li­ti­scher Ver­ge­hen im Ge­fäng­nis. Pro­pa­gan­da do­mi­nier­te fast alle Le­bens­be­rei­che. Vie­le Me­di­en un­ter­stan­den der SED, der So­zi­a­lis­ti­schen Ein­heits­par­tei Deut­sch­lands, und in den Schu­len der DDR wur­den be­reits die Kleins­ten ideo­lo­gisch auf die Über­le­gen­heit des kom­mu­nis­ti­schen Sys­tems ge­gen­über dem ver­dor­be­nen Ka­pi­ta­lis­mus ein­ge­schwo­ren. Auch Anti-Ame­ri­ka­nis­mus zähl­te zu den Grund­pfei­lern der ideo­lo­gi­schen Er­zie­hung in der DDR.

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