Читать книгу Die vierzig Tage der Lagune - Erik Nolmans - Страница 10
4.
ОглавлениеMitten im Saal steht ein Tisch, er füllt die ganze Länge des Raums, und das Zimmer ist gross, mit Abstand das grösste im Haus. «Portego» nennen die Einheimischen den zentralen Prunksaal eines Palazzos, der sich durch die ganze Gebäudetiefe zieht und sich meist im ersten Stockwerk befindet.
Als Eingänge zum Saal dienen die beiden Portale an der Seite, vor denen punktgenau die geschwungenen Treppen enden. Ein abgewetzter Perserteppich, von verbogenen Messingstangen hoffnungsvoll am Boden gehalten, weist den Weg.
Der Saal ist bereits gerammelt voll, ein Teil der Gäste hat am Tisch Platz genommen, doch die meisten stehen herum, schwatzen und lachen.
Beleuchtet wird das Zimmer von einem riesigen Kronleuchter, der hoch über dem Tisch schwebt. Nur einzelne Lichter sind an, in unregelmässigen Abständen, offenbar wurden die defekten Glühbirnen schon seit Jahren nicht mehr ausgewechselt. Als Ausgleich für das spärliche Licht stehen überall brennende Kerzen, auf dem Boden, auf dem Tisch, auf den Fensterbänken.
Gleich nach dem Portal versperrt eine seltsame Skulptur den Weg: auf einem massiven Sockel prangt eine Figur aus grünem Stein, der man ebenfalls eine brennende Kerze auf den Kopf gepflanzt hat. Es ist eine massstabgetreue Abbildung von Meister Yoda aus den Star Wars-Filmen. Die grünen Ärmchen hat er ausgestreckt wie die Statue Cristo Redentor auf dem Berg hoch über Rio de Janeiro, als ob er uns allen – einem milden Priester gleich – den Segen erteilen wollte.
Der altehrwürdige Yoda ist von unten bis oben mit Schmuck behangen, filigrane Goldkettchen und schwere Silberungetüme, wie sie US-Rapper tragen, wetteifern um den Platz an seinem Hals, an den spitzen Fingern prangen unzählige Ringe. Anna lächelt erfreut, wie wir vor ihm stehen und nickt ihm gar zu, als ob sie einen alten Bekannten begrüssen würde. Aufgeregt packt sie mich am Arm: «Wir müssen ihm eine Opfergabe hinterlassen, das bringt Glück», tut sie mir kund, «komm, wir müssen ihm unbedingt etwas geben!» Was sie ihm anbieten will ist mir allerdings ein Rätsel, denn sie trägt keinerlei Schmuck. Doch sie blickt mich herausfordernd an, bückt sich und geht leicht in die Knie, um den Slip unter ihrem Kleid auszuziehen. Elegant manövriert sie das Ding an ihren High Heels vorbei, während sie sich locker mit der Hand auf meinen Arm stützt. Vorsichtig hängt sie den Slip dann an den rechten Arm des Jedi-Meisters, und als sie sich lachend zu mir umdreht, scheint es, als ob sich auch über den steinernen Mund unseres Yoda ein Lächeln zöge, doch dieser Eindruck ist wohl eher dem flackenden Licht geschuldet.
«Nun kann uns ja nichts mehr geschehen», urteile ich, und sie hängt sich lachend bei mir ein, damit wir wie ein altvertrautes Pärchen zur Tafel schreiten können.
Der Esstisch ist ein Ungetüm aus dunkelbraunem Holz, matt lackiert und an der Oberfläche rau, ja furchig, einzelne Gläser stehen bedrohlich schief. Umso edler ist das Geschirr: Kristallgläser vor jedem Platz, eins für Weiss- und eins für Rotwein, Teller aus Porzellan, Messer, Gabeln und Löffel aus Silber. Das Essen dampft in den Schüsseln, riesige Mengen von Risotto Nero, dem Reis, schwarz von der Tinte der Sepien, der unsere Zähne dunkel färben wird. Filiberto scheint solche Sachen zu lieben, nichts darf zu blank sein, schon gar nicht unser Mund, unsere Zunge, unsere Lippen.
Es gibt aber auch Töpfe mit Lammrücken und Huhn, Platten mit Fisch, etwa Sogliola oder Loup de Mer, dazu allerlei Beilagen wie Bohnen oder das lokale Gemüse Cima di Rapa.
Vitus sitzt bereits am Tisch, wir lassen uns neben ihm nieder. Mein Bruder versucht ein wenig mit einem Mädchen zu flirten, das ihm gegenübersitzt. Doch der Lärm im Raum vereinfacht die Konversation nicht eben; zudem spricht die Frau weder englisch noch italienisch, und so lässt er es bald bleiben.
Ich beuge mich vor, um eine der Rotweinflaschen zu ergattern, die auf dem Tisch herumstehen. Doch sie sind alle verschlossen, kein Flaschenöffner weit und breit. Als Vitus meinen ratlosen Blick sieht, schnappt er sich eine Flasche, geht damit zum Portal und beginnt sie rhythmisch an den Türrahmen zu schlagen. Und in der Tat: der hin und her schwappende Inhalt drückt den Zapfen nach und nach hinaus. Stolz kehrt Vitus mit seiner Trophäe zurück: «Habe ich von einem Clochard in Paris gelernt», sagt er und schenkt uns ein.
Links neben uns hat sich eine junge Französin niedergelassen, die eine Kette um den Hals trägt, an der winzige Glasfläschlein hängen. Da sei Absinth drin, verrät sie, sie braue das Getränk in der Badewanne ihrer Studentenbude. Anna wirft ein, das sei doch das Zeug von dem der Maler Vincent van Gogh wahnsinnig geworden sei und sich dann das Ohr abgeschnitten habe, doch die Französin verteidigt ihr Produkt mit Verve: Unsinn, Absinth werde nicht umsonst die «grüne Fee» genannt, denn wie ein Märchenwesen bringe das Getränk Glück und Wohlbehagen, man müsse nur mit der Dosis aufpassen, aber das sei ja bei allem so.
Wir bekommen je eine der Ampullen von ihr, zupfen den winzigen Zapfen vom Glas und nehmen einen Schluck. Viel mehr als ein paar Tropfen auf die Zunge gibt die Sache nicht her, aber immerhin: ein leicht bitterer Geschmack breitet sich im Gaumen aus, echt lecker.
Ich spüre, dass ich nun richtig Hunger habe und gehe ein paar Stühle weiter, um mir einen der sorgfältig filetierten Fische zu holen. Dazu etwas Reis und Gemüse, wunderbar. Anna deutet mit heftigen Handbewegungen an, ich solle viel auf den Teller laden, dann könnten wir zu zweit davon essen. Und so kehre ich mit einem reichlich überladenen Teller an meinen Platz zurück.
Das Dinner dauert mehrere Stunden, jeder kann essen wann er will, immer wieder werden neuen Schüsseln und Töpfe mit Essen aufgetischt, was kalt wird, wird zur Seite geschoben, halbvolle Teller werden auf dem Tisch liegen gelassen, in der Hoffnung, irgendjemand werde sie dann schon abräumen.
Einziger Fixpunkt des Abends ist die Tischrede von Filiberto, eine kurze Ansprache nur, aber die Leute lieben es, ihren Gastgeber sprechen zu hören. Er muss nicht umständlich mit dem Messer ans Glas schlagen, um die Aufmerksamkeit der Leute zu gewinnen, ein kleiner Wink mit der Hand genügt, und das Palavern und Besteckklimpern hört auf, links und rechts vom Kopfende des Tisches setzt sich ein Innehalten fort wie eine Reihe von fallenden Dominosteinen: die Leute verstummen und hören auf zu essen.
Filiberto steht auf, die Grissini-Stange, die er zum Salat knabberte, noch immer in der Hand. Im Aufstehen beisst er ein weiteres Stück ab, kauend lässt er den Blick schweifen über die Gästeschar am Tisch. Dann beginnt er zu reden, das Gebäck spitz in den Fingern wie ein Dirigent seinen Taktstock.
«Es freut mich, euch alle auch dieses Jahr wieder hier begrüssen zu dürfen», sagt er, macht eine kurze Pause, nimmt eine Serviette und wischt sich den Mund nochmals ab, um dann fortzufahren: «Ich hoffe, die Speisen stärken, beleben und erquicken euch. Mitternacht ist kurz vorbei, seit zehn Minuten ist Aschermittwoch und die Fastenzeit hat begonnen. In den kommenden vierzig Tagen bis zum Osterfest sind die Menschen dazu aufgerufen, Busse zu tun. Auch wir müssten unsere Festivitäten eigentlich nun beenden, doch ihr wisst, ich glaube nicht ans Fasten.» Wieder hält er kurz inne, diesmal um einen Schluck Wein zu nehmen. «Ich glaube aber an den Zucker, an die Eiweisse, an die Fette in diesen Speisen hier auf dem Tisch. Ich glaube an die Betriebsamkeit, die der Zucker auslöst, ich glaube an die Muskelmasse, die das Protein aufbaut, die euch die Kraft gibt zu tanzen, und ich glaube an das Fett, das eure Ärsche und Brüste formt. Ich wünsche euch guten Appetit meine Freunde. Der Winter war lang, lasst uns auf einen glühenden Sommer anstossen und darauf, dass wir uns nächstes Jahr alle hier wieder sehen.»
Er legt seinen Grissino nieder, die Leute klatschen, johlen, rufen: «Klar Filiberto» oder: «Mit dir immer». Anna schüttelt den Kopf, ein breites Grinsen im Gesicht: «Filiberto hat etwas den Hang zum Theatralischen», und greift in eine Schale mit Erdbeeren. Mit blossen Fingern tunkt sie die Leckerei in eine Tasse mit Sahne und will sie mir geben, doch ich schüttle den Kopf, ich hasse es, mich füttern zu lassen, doch das hat nichts mit Anna oder den Erdbeeren zu tun, ich mag ganz einfach keine unterwürfigen Gesten. Ich nehme mir selber eine Frucht aus der Schale. Anna ist wohl etwas beleidigt, denn sie stopft die Erdbeere meinem Bruder in den Mund, der sie annimmt, der elende Verräter.
Ich schaue betont lässig zur Seite, mustere etwas abwesend die Speisen und die Leute, doch plötzlich hält mein Blick inne, denn er fällt auf zwei weit aufgerissene Augen, Augen voller Angst. Sie gehören dem Asiaten, der uns am Eingang aufgefallen war, weil er so krank aussah. Inzwischen ist er noch bleicher, die fernöstliche Bräune ist völlig aus seiner Haut verschwunden, er ist weiss wie ein Nordländer – aber es ist ein ungesundes Weiss. Der Mann zittert am ganzen Körper, immer wieder richtet er den Oberkörper auf und saugt pfeifend die Luft ein, er scheint kurz vor dem Ersticken. Er verwendet seine ganze Kraft darauf zu atmen, seine Rückenmuskeln ziehen ihn bei jedem Zug nach oben, sein Adamsapfel zuckt am Hals, seine Adern an der Stirn stehen hervor.
Entsetzt schaue ich den Mann an, was hat er bloss, das sieht nicht gut aus. Auch die Gäste links und rechts von ihm werden auf das Schnaufen und Wimmern aufmerksam, der Mann neben ihm legt ihm den Arm auf die Schulter, er erntet den gleichen angstvollen Blick, den auch ich sah.
Ich suche Filiberto, der mustert ebenfalls die Szene, die Stirn gerunzelt, die Augen zusammengekniffen. Er steht auf und geht zu dem Mann hin, zusammen mit dem Tischnachbarn redet er auf den Unglücklichen ein. Nach einer Weile heben sie ihn aus seinem Stuhl, die Tischnachbarn rechts und links stützen den Kranken beim Aufstehen. Filiberto folgend tragen sie ihn aus dem Zimmer.
Die Episode scheint ansonsten keinen Eindruck hinterlassen zu haben. Die Leute essen weiter, lachen, lassen die Gläser klingen. Anna redet eifrig mit meinem Bruder, ich stehe auf, um aufs Klo zu gehen. Ich schlendere durch die Räume und Gänge; die Stimmung ist gut, die Leute vergnügen sich. Im Eckraum des ersten Stocks lässt sich eine Frau von drei Männern gleichzeitig bewundern, sie hat ihre Brüste entblösst und die Typen fingern abwechselnd an ihr herum. Auch die Schwulen sind guter Laune, im Korridor, der zur Küche führt, geben sie mir freundschaftliche Klapse auf den Hintern. Die Türe zum Badezimmer ist offen. Als ich eintrete sehe ich zwei Männer, sie sind nackt und küssen sich. Beide haben ein Piercing in der Eichel, breite Stahlringe, die Dinger schlagen metallen aneinander. Sie lassen sich nicht von mir stören, doch ich denke es ist besser, ich gehe ein Zimmer weiter. Ich muss wieder durch den Korridor zurück ans andere Ende, dort befindet sich noch ein Klo. Ich bin nicht der einzige mit diesem Vorhaben, sechs oder sieben Leuten stehen bereits in einer Warteschlange an. Das kann ein Weilchen dauern, ich setze mich im Flur auf den Boden. Ich lasse mich neben einer wunderschönen, braunhaarigen Frau nieder, die ebenfalls wartet. Sie zündet sich eine Zigarette an, ich frage sie, ob sie für mich auch eine habe, sie beugt sich zu mir und entschuldigt sich, sie verstehe mich leider nicht. Sie spreche nur katalanisch, sie komme aus Barcelona. Filiberto habe sie vor ein paar Tagen im Caffè Florian gesehen, zusammen mit ein paar Freundinnen, und habe sie eingeladen, so viel entnehme ich ihren wortreichen Schilderungen.
Ein Grossteil der Gäste hat auf ähnliche Weise den Weg hierher auf die Insel gefunden. In den ersten Tagen des Karnevals sammeln Filiberto und Maurizio – modernen Rattenfängern gleich –, die Jeunesse dorée Europas ein, in den Cafés der Stadt aber auch an den Festen in den Prunkpalazzi am Canal Grande.
Filiberto und Maurizio entstammen der altehrwürdigen venezianischen Patrizierfamilie Bertozzi – das öffnet ihnen viele Türen. Ihre Vorfahren waren mehrere hundert Jahre lang für die Verwaltung der griechischen Lehen der Republik Venedig zuständig. Ursprünglich stammt der Clan aus Torcello bei Burano. Doch der frühmittelalterliche Bischofssitz versumpfte nach und nach und wurde von den Bewohnern verlassen. Die Bertozzis zogen daraufhin nach Venedig selbst, überzogen aber die nahen Inseln in der Palude della Centrega und der Palude della Rosa mit zusätzlichen Prunkpalästen und Verwaltungsgebäuden. Heute ist davon eigentlich nur noch der Herrschaftssitz auf dieser Insel verblieben – und auch der wirkt etwas verfallen. An den Wänden hier im Flur lösen sich sogar schon die Seidentapeten von den Wänden, an der Decke hängen Fetzen herab – mit dem Reichtum der Familie kann es nicht mehr allzu weit her sein.
Die Spanierin leckt sich mit der Zunge über die Schneidezähne, streicht sich mit den Fingern durchs Haar und schaut dabei den Typen an der Spitze der Warteschlange an, einen wirklich gutaussehenden Mann mit schulterlangen, dunklen Haaren. Filiberto hat ein Auge für die Mischung aus Schönheit und Erlebnishunger, die den perfekten Gast für ihn ausmacht. Vielleicht ist es die Erfahrung aus vielen Jahren, die ihn die Leute so treffsicher auswählen lässt, er wittert die Getriebenheit, sieht es in ihren Augen, in den abwechselnd hetzenden und gehetzten Blicken. Leute aus Italien, Frankreich, Deutschland, England, Holland, der Schweiz, Ungarn oder Serbien – ihr gemeinsamer Pass ist der des Königreichs der Abgründe.
Ich stelle mich auf eine lange Wartezeit vor dem Klo ein. Die Leute in der Schlange vertreiben sich die Zeit, indem sie etwas zum Takt der Musik aus den Lautsprechern über uns tanzen, «This is my church, this is where I heal my hurts», gibt Faithless-Sänger Maxwell Fraser das Motto im gerade laufenden Song «God is a DJ» durch, und bald beginnen einige in die monotonen Wiederholungen der Liedzeile einzustimmen und mitzusingen. So vergeht die Zeit recht angenehm und bald ist die Spanierin an der Reihe, ihre Notdurft zu verrichten. Sie ist allerdings erstaunlich schnell wieder draussen, ihre Augen und Lippen zieht sie im Gang vor einem Spiegel nach.
Ich verstehe wieso: Die Toilette stinkt fürchterlich, es hat sich wohl kürzlich jemand übergeben. Ich beeile mich meine Blase zu entleeren, ich wasche die Hände und gehe wieder hinaus. In der Küche brennt Licht, leere Wein- und Wasserflaschen stehen zwischen Tellern mit Essensresten. Ich erblicke Luciano, bin erfreut, denn ich habe ihn vor Stunden aus den Augen verloren. Er hat eine der herumstehenden Flaschen an den Mund gesetzt und trinkt den Rest Wasser, der sich noch darin befindet. «Ich habe einen etwas trockenen Mund», sagt er. Er scheint mir ziemlich betrunken, seine Augen sind rot unterlaufen.
Filiberto kommt hinzu, einen besorgten Ausdruck auf dem Gesicht. Er ist überrascht, jemanden in der Küche anzutreffen, doch er scheint erfreut, seine Miene klart auf, er packt Luciano bei der Schulter und sagt: «Komm mit!»
Er führt ihn aus der Küche, ich eile hinterher, will meinen wieder gefundenen Freund nicht sogleich wieder verlieren.
«Du bist doch Arzt?», fragt er.
«Ja», sagt Luciano.
«Ich fürchte, der Mann stirbt», sagt Filiberto.
«Wer?»
«Einer meiner Gäste. Er kommt aus Singapur. Er ist der Freund eines Freundes.»
«Was fehlt ihm?»
«Er hat Fieber und ist völlig geschwächt. Und er hustet immerzu, er bekommt fast keine Luft.»
«Mit Lungen kenne ich mich nicht so gut aus», sagt Luciano zögernd.
«Was ist denn dein Gebiet?»
«Orthopädie. Ich arbeite in einer Privatklinik, die spezialisiert ist auf Handchirurgie.»
Filiberto nimmt abrupt seinen Arm von Lucianos Schulter: «Was ist denn das für ein Scheiss?», herrscht er ihn an, «wer braucht schon einen gottverdammten Orthopäden?»
«Lass mich den Mann einmal anschauen, mal sehen was sich tun lässt», erwidert Luciano erstaunlich ruhig.
Filiberto nimmt ihn wieder bei der Schulter und zieht ihn mit. Luciano blickt nach hinten und winkt mir zu. Ich schlurfe weiter hinterher. Wir steigen eine Treppe hinauf in den zweiten Stock. Am Ende des Ganges steht eine Türe offen, Licht fällt heraus, ich höre Stimmen.
Unter den Duvets eines Doppelbetts liegt ein Mann mit asiatischen Gesichtszügen, die Augen immer noch vor Schreck geweitet. Sein Atem geht in kurzen, asthmatischen Stössen. Auf dem Bettrand sitzt ein anderer Asiat und hält dem Kranken die Hand. Im Hintergrund, an die Wand gelehnt, steht Pedro Juan, er redet mit zwei gross gewachsenen Männern in Kostümen, ich glaube es sind die beiden, die den Kranken aus dem Festsaal getragen haben.
Filiberto setzt sich zum Kranken aufs Bett. «Ein Arzt ist gekommen», sagt er und winkt Luciano heran. Ich laufe langsam zu Pedro Juan, er und seine beiden Gesprächspartner nicken mir zu, dann drehen wir uns alle vier dem Bett zu.
Luciano hat sich neben den Kranken gesetzt, gibt ihm die Hand, stellt sich ihm auf Englisch vor.
«Was hast du?», fragt er.
«Ich bekomme keine Luft», japst der Angesprochene, «ich fühle mich so elend, ich kann kaum auf den Beinen stehen.»
Die eine Gesichtshälfte des Kranken ist geschwollen und violett-rot, sein Haar nass geschwitzt.
Luciano nimmt seinen Unterarm, um den Puls zu messen: «Leidest du an Asthma?»
«Nein», stammelt der Kranke.
«Allergien?»
Er schüttelt den Kopf.
«Hast du einen Fiebermesser?», fragt Luciano.
«Dort, auf dem Tisch», sagt Filiberto, «aber wir haben schon gemessen. Über 40 Grad.»
Luciano befiehlt dem Asiaten, das Hemd auszuziehen. Er setzt sein Ohr an die verschwitzte Brust, der Kranke muss auf seinen Befehl hin tief einatmen, er schafft es kaum, er hustet, japst, röchelt. Luciano schaut ihm in den Mund, unter die Augenlider.
«Du hast eine starke Infektion der Lungen oder Bronchien», sagt Luciano und streicht dem Kranken übers nasse Haar, «aber ich bin kein Spezialist. Es ist besser, die Sache genauer abklären zu lassen.»
Er steht auf und wendet sich an Filiberto: «Ich denke, wir müssen ein Ambulanzboot kommen lassen, er muss ins Spital.» Filiberto nickt. «Der Mann scheint mir ernsthaft krank», fährt Luciano fort, «diese Art von Lungenkrankheit ist etwas ungewöhnlich. Ich bin kein Fachmann, aber die Atemnot ist bei Lungenentzündungen in der Regel nicht derart akut.»
Filiberto winkt Pedro Juan zu sich, gemeinsam verlassen sie den Raum.
Langsam kommt Luciano auf mich zu, seine Stirn in Falten, er scheint über etwas nachzugrübeln. Unmittelbar vor uns bleibt er stehen und sagt, leise, damit es der Kranke nicht hört: «Sein ganzer Rachen ist voller Eiter. So etwas habe ich bisher noch nie gesehen.»