Читать книгу Die vierzig Tage der Lagune - Erik Nolmans - Страница 12
II. 1.
ОглавлениеAm fünften Tag der Quarantäne bricht das dünne Eis, auf dem wir seit der Nacht auf Aschermittwoch alle gehen. Es ist, als ob die Schritte auf den Holzböden anders zu klingen, die Räume im Palazzo anders zu riechen und die Menschen um uns herum anders auszusehen begännen – wir sinken ab in klamme Angst. Gevatter Furcht, der ungebetene Gast, die ersten Tage noch höflich geduldet, zieht jetzt eine Spur blanken Entsetzens. Man kann es deutlich spüren, wenn immer man die Haut eines anderen berührt, wie ich jetzt die von Anna. Ich drücke ihre Hand auf den Stein, sie lässt die Nagelschere fallen, diese fällt ins Wasser der Lagune.
«Du sollst mir die Haare schneiden!», fordert sie mich nochmals zischend auf.
«Ich soll dir mit einer Nagelschere die Haare schneiden, was ist denn das für ein Unsinn?», erwidere ich.
«Dann mache ich es selber», sagt sie, bückt sich und sucht im untiefen Wasser nach der Schere.
«Lass deine Haare wie sie sind, verdammt, lass deine Haare wie sie sind», herrsche ich sie an und ziehe sie an der Schulter zurück. Sie zittert unter meiner Hand, ich getraue mich nicht, sie anzusehen, starre hinaus in die Lagune. Ich spüre, dass mein fester Griff sie nicht zu täuschen vermag – mir fehlt die Kraft, ihr jene Ruhe und Sicherheit zu vermitteln, die sie jetzt braucht. Woher soll ich diese Kraft nehmen, ich, der ein Leben lang nie stark war? Wie schaffen es Leute bloss, sich zu verankern, wirklich Halt zu finden, ihren Platz zu wissen und hinzustehen, fest wie ein Fels? Wie erlangt man sie, diese Gravitas? Kraft verkörpert meine Hand nun wirklich nicht: auf ihrer Schulter liegt eine verkrampfte Klaue, mit knochigen, viel zu langen Fingern, und Adern, die sich blutleer unter der Haut zu verstecken versuchen.
Nach einer Weile hört das Zittern ihrer Schulter auf. Sie setzt sich aufrecht hin und blickt den immer kleiner werdenden Wellen nach, welche sie im Wasser erzeugt hat. Ich bin froh, dass ich sie loslassen kann, um meine Arme vor der Brust zu verschränken. Natürlich ärgert sie meine Geste und so dreht sie sich zu mir um und fummelt mit der geretteten Nagelschere, die sie zwischen Zeigefinger und Daumen baumeln lässt, vor meinem Gesicht herum. «Willst du mich hypnotisieren?», frage ich leise. «Das bist du doch schon», gibt sie schnippisch zurück.
Als sie mir länger in die Augen blickt, nimmt ihr Ärger aber ab, und sie hört mit der Bewegung auf. Sie legt die Schere auf den Boden und rückt näher an mich heran.
Ich lege meinen Kopf auf ihren Rücken. Ihr Haar ist voller Blätter. Keine Ahnung, woher die stammen, der Herbst ist längst vorbei, im Gegenteil, Frühling wird es, oder sollte es werden, unsere Insel scheint gelähmt, auch der Boden, die Bäume, das Gras scheinen es zu spüren, die Vegetation scheint angehalten, kein einziges neues Blatt zeigt sich an den Ästen, obwohl es inzwischen Anfang März ist.
«Nur herumsitzen und warten, das macht mich völlig fertig», sagt sie. Sie rückt von mir ab und steht auf: «Komm, wir gehen ein paar Schritte, dann kommen wir vielleicht auf andere Gedanken.»
Sie reicht mir die Hand, um mir beim Aufstehen zu helfen, doch ich nehme sie nicht. Ich mag es gar nicht, an der Hand genommen zu werden, das sollte sie doch langsam wissen. Ich stütze stattdessen meine Handballen auf die Knie und drücke meinen Oberkörper nach oben, etwas verkrampft und vor allem allzu langsam, denn Anna nützt die Zeit, um bereits loszulaufen.
Ich blicke ihr ein paar Sekunden lang nach, beschleunige dann meinen Aufbruch und hole sie mit ein paar schnellen Schritten ein. Wir gehen nebeneinander auf dem Weg Richtung Marmortreppe, schweigend, ich die Hände in den Hosentaschen, sie die Arme lose an den Seiten baumelnd.
Am Ufer bei der Treppe stehen die Holzstämme immer noch Spalier; sie sind vom Feuer ausgehöhlt, in unterschiedlichem Mass freilich, einige sind fast bis zum Boden abgebrannt, andere nur oberflächlich angesengt. Anna steckt die Hände in einen der Stämme und zieht sie schwarz vor Russ wieder heraus. Sie hebt die schmutzigen Klauen, streckt sie mir entgegen und stösst ein tiefes «Buh» aus. Das Monster, das sie darstellen will, schürzt die Lippen und kommt auf mich zu, bereit, die Krallen in mein Fleisch zu schlagen. Kurz vor mir bleibt sie stehen, lächelt und legt dann ihren schwarzen Zeigefinger auf meine Wange. Zwei Striche malt sie auf mein Gesicht, auf jeder Seite einen, der Russ dürfte auf meiner bleichen Haut einen besonders hässlichen Kontrast bilden.
Sie lässt mich stehen mit meiner Kriegsbemalung, schlüpft an mir vorbei und schreitet die Marmortreppe hinab bis ans Wasser. Auf der untersten Stufe geht sie in die Knie, senkt die Hände ins Wasser und wäscht den Schmutz ab.
Ich folge ihr bis zur Mitte der Treppe und setze mich auf eine der Stufen. Sie dreht sich um, sieht mich an und zottelt zu mir hin, im Näherkommen trocknet sie die Hände an ihren Hosen ab. Das Kleidungsstück gehört einem unbekannten Gast aus den Vorjahren, der Stoff riecht nach Mann, richtig muffig. Die Hose stammt aus einem der Schränke im obersten Stockwerk unseres Palazzo. Dort hat Filiberto die Kleider gesammelt, welche die Gäste nach den Carneval-Festivitäten der vergangenen Jahre jeweils zurückgelassen oder vergessen hatten.
Die Kleiderpracht wurde gestern verteilt, Filiberto stellte sich ans Geländer der Holztreppe und warf den Leuten Hemden, Blusen, Hosen, ja sogar Hüte und Schuhe zu – das Rudel hungriger Tiere nahm die Gaben gerne in Empfang. Er schien sein Tun zu geniessen, er macht aus allem ein Ritual, minutenlang segelten Kleidungsstücke hinunter, genüsslich langsam liess er sie aus seinen Händen gleiten. Es war für viele wie Manna in der Wüste, denn nicht wenige waren nur leicht bekleidet an das Fest gekommen, in der Überzeugung, der Wein und die Geselligkeit würden genügend Wärme spenden für die zu erwartenden paar Stunden bis zur Rückkehr ins behagliche Zuhause, weit weg von dieser vermaledeiten Insel der Bertozzis. Die Stadt hat uns zwar versprochen, Kleider zur Verfügung zu stellen, doch bis jetzt ist nur eine Lieferung von Armeematratzen und Wolldecken eingetroffen.
Anna scheint mit ihrer Wahl zufrieden – die Männerhose hat ein Sitzpolster, was ihr hier auf dem kalten Marmor vor dem Landungssteg zugute kommt. Ich lasse mich vom muffigen Geruch nicht aufhalten und lege den Arm um sie «Das Wasser sieht schmutzig aus», sagt sie während sie den Kopf auf meine Schulter bettet.
«Ja, ist wohl noch aufgewühlt vom gestrigen Sturm.»
«Wenn wir hier wegkommen, will ich an einen schönen Sandstrand. An eine dieser unendlich langen Küsten, an denen man stundenlang spazieren kann.»
«Die holländische Nordseeküste wäre schön.»
«Nein, ich will irgendwo hin, wo es heiss ist. Richtig schön tropisch heiss.»
Schweigend blicken wir auf das Wasser. Im Süden erkennt man die Festlandküste. Das muss Punta Sabbioni sein, der Landzipfel östlich des Lidos von Venedig, mit seinem kilometerlangen Sandstrand, der bis zum Ferienort Jesolo reicht. Im Herbst ist die Gegend dort fast menschenleer. Mit meiner Freundin Carla und ihren Kindern war ich dort, letztes Jahr. Wir haben Cappuccino in einem Strandcafé getrunken, die Kids haben uns den Schaum vom Kaffee stibitzt und Eis gelutscht. Wir haben alle im immer noch warmen Meerwasser gebadet und die Jungs haben im Sand mit den Plastiksoldaten gespielt, die sie von mir bekommen hatten.
Ich sammle für die Kinder auch die Spielzeug-Figürchen aus der chemischen Reinigung bei mir um die Ecke. Einmal die Woche bringt der Besitzer des Geschäfts, ein Chinese, meine gereinigten Hemden in dünnes Papier gehüllt zurück. Oben auf den Stapel legt er jeweils kleine Samurai-Kämpfer aus Plastik, einen pro Hemd, es gibt sie in fünf verschiedenen Farben. Ich sammle die Dinger bei mir zuhause in einer Dose neben dem Wäscheständer. Immer wenn sich die Figürchen darin häufen, weiss ich, dass es langsam Zeit wird, mich wieder einmal bei Carla zu melden. In letzter Zeit fruchtete dieses Mahnmal allerdings wenig – immer häufiger quollen die Figürchen aus dem übervollen Behälter.
Anna löst sich aus meiner Umarmung, beugt sich vor, streicht mit den Händen über den Marmor, pickt Steinchen vom Boden und sammelt sie in ihrer Hand. Dann beginnt sie die Kiesel ins Wasser zu werfen. Die meisten Würfe schaffen es nicht über die unterste Stufe hinaus, ich weiss nicht, ob sie nicht kräftig genug wirft, oder ob die Steine einfach zu klein sind.
«Ich habe das Bild immer noch vor Augen, wie sie Chang abgeholt haben», höre ich Anna sagen, «es war schrecklich. Das Ambulanz-Boot, die unheimlichen blauen Lichter, die Ärzte mit ihren Schutzmasken, das Entsetzen und der Ekel der Leute.»
Ich weiss genau, was sie meint, es gab einen Augenblick, in welchem die bildlichen Eindrücke derart stark waren, dass ich plötzlich nichts mehr hörte, ich war einen Moment lang absolut taub. Meine Augen beherrschten mein Empfinden, Signale drängelten von der Netzhaut durch den Sehnerv ins Gehirn und reihten sich ein in den Stau vor den Synapsen, es waren einfach zu viele Reize aufs Mal. Irgendein uralter Teil meines Gehirns beschloss wohl, es mache Sinn, die Ohren abzuschalten, doch ich hätte mir gewünscht, er hätte mir diese Bilder erspart, die mich im Schlaf einholen, seit vier Nächten nun schon. Das erste, was ich dann wieder hörte, war Luciano, der mich an der Schulter packte, mich schüttelte und fragte: «Alles okay?»
Ich weiss nicht, wo Anna in diesem Moment war, wir hatten uns im Durcheinander aus den Augen verloren. Ich glaube, sie war unten am Ufer mit Filiberto. Auch die Herren der Insel wirkten verstört, Filiberto und Maurizio liefen hin und her wie aufgescheuchte Hühner.
Als dann das Boot mit Chang langsam in der Lagune verschwand, machte sich eine Art Lähmung breit, die Leute bewegten sich kaum noch, niemand sprach, alle standen da, starrten mit geöffneten Mündern in die Nacht. Ich musste mich setzen, damit ich nicht umkippte, Luciano neben mir blieb stehen, die Hand auf meiner Schulter.
«Ich muss immer daran denken, was sein wird, wenn es mich erwischt. Ich will nicht so abgeholt werden», sagt Anna.
Ich lege wieder den Arm um sie, sie lässt die restlichen Steine aus der Hand fallen. «Was redest du denn für einen Unsinn», versuche ich sie zu beruhigen, «uns wird schon nichts passieren, du wirst sehen.»
«Vielleicht haben wir die Krankheit schon in uns. Von der Ansteckung bis zum Ausbruch kann es lange gehen. Es sind erst fünf Tage vorbei.»
«Du siehst nicht krank aus, du siehst wunderschön aus», will ich sie aufmuntern, doch sie geht nicht auf meine Worte ein.
«Ich weiss, wie es sich anfühlt, keine Luft zu bekommen», sagt sie gepresst, «ich hatte als Kind Asthma. Es ist, als ob dir ein Elefant auf der Brust sässe. Sein Gewicht droht dich zu ersticken. Und du hast nicht die Kraft ihn wegzudrücken, du hast nicht den Hauch einer Chance.»
Ich versuche mir auszumalen, wie sie ausgesehen hat als Kind. Sie hat erzählt, dass sie ein dickes Mädchen war. Wenn man sie heute sieht, kann man sich das kaum vorstellen. In der Nacht sei sie manchmal aus dem Zimmer geschlichen, um ihr Kopfkissen ins Gefrierfach zu legen, das töte die Milben – eine Nacht in der Kälte und alle seien tot. Soll gut sein gegen Asthma. Einmal habe ihr Vater sie erwischt bei ihrem nächtlichen Tun, er sah sein Töchterlein, mit ihren dicken Beinchen und ihren Wurstfingerchen, wie sie ihr Kissen zwischen den Eiswürfeln verstaute, und als er vorwurfsvoll ihren Namen ins Dunkel der Küche gerufen habe, habe sie in seiner Stimme tiefe Verachtung gehört. Vaters Liebling sei die Schwester gewesen, die alles immer richtig gemacht habe und dabei natürlich auch noch toll ausgesehen habe.
Sie streckt ihre Beine in den Männerhosen von sich, an den Füssen trägt sie ein paar Schuhe von Maurizio. Sie sind sicher drei Nummern zu gross, ich wundere mich, wie sie in den Dingern laufen kann. Die Hose reicht ihr nur knapp bis übers Knie, auf ihren Unterschenkeln bildet sich Hühnerhaut, ihr unsichtbares Fell stellt sich auf, sie hat ganz feine Härchen an den Beinen.
Ich lege meine Hand auf ihre Haut, um sie etwas zu wärmen, sie dankt es mir, indem sie sich noch enger an mich schmiegt.
«Du hast schöne Hände», sagt sie und streichelt mit ihren Fingern meinen Handrücken. Sie legt ihre Hand in meine und drückt sie fest, ich schliesse meine Finger um ihre Knöchel und spüre wie sie ihre Nägel in meine Handballen gräbt, sie drückt mich ganz fest, fast verzweifelt. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass sie weint, nicht nur ein paar stille Tränchen, sondern richtiggehend schluchzt. Ich löse meine Hand von ihrem Schenkel und nehme sie in die Arme, und sie sagt: «Vincent, ich will weg von hier». Dann merke ich, dass auch ich anfange zu weinen. Ich beisse die Zähne zusammen – das genügt, um das aufkommende Gefühl zu unterdrücken. Gott sei Dank, ich ziehe den sich lösenden Rotz meine Nase hinauf, ich hätte Lust ihn jetzt so richtig schön aggressiv auszuspucken, doch ich schlucke das Zeug hinunter, denn sie hat den Kopf zu mir gedreht und setzt ihre Lippen auf meine. Ich packe sie am Hinterkopf und drücke sie an mich, das Zittern nimmt ab. Abrupt löst sie sich dann und bedeckt mein Gesicht mit Küssen, nicht zart, sondern wild, ja ungestüm, sie schlägt ihre Zähne an meine Backenknochen, an meine Lippen.
Dann senkt sie den Kopf und putzt ihre Tränen am Stoff meiner Jacke ab. Ich suche irgendwo in meinen Hosentaschen nach einem Taschentuch und finde ein Päckchen Tempo-Tücher, Relikt aus der Welt des Alltags. Es tut gut, das schön eingepackte Produkt zu sehen – die Vereinigten Papierwerke Nürnberg retten mich in diesem Augenblick, auch Anna hilft das vertraute Tüchlein, die Contenance wiederzuerlangen, indem es sie an die hunderten Male erinnert, an denen sie unnötigerweise geweint hat.
Sie schnäuzt ins Taschentuch und streckt es mir dann hin. Ich weiss auch nicht, was ich damit soll, nass wie es ist stecke ich es in meine Brusttasche. Sie zieht die Beine an den Körper, macht sich ganz klein. Wie sie aufs Wasser hinausschaut, sehe ich sie von der Seite her lange an, will mir jede ihrer Züge merken, ihre Ohrläppchen, ihre hohen Wangenknochen, ihre langen Wimpern. Ein paar Minuten sitzen wir so da, anfangs atmet sie noch schnell und ruckartig, doch das Schluchzen verebbt nach einer Weile, und sie wird ruhig. Ich sehe ihren Mund sich öffnen, an der Seite bildet sich eine lange, dünne Falte.
«Fische», sagt sie, «schau dort, Fische.»
In der Tat sieht man im Wasser deutlich einen ganzen Schwarm der Tiere, riesige Exemplare.
«Als Kind hatten wir ein Aquarium», sagt sie, «wir hatten Zierfische drin. Ich sass gern davor und schaute den Tieren zu. Es war irgendwie beruhigend.»
«Ganz schön langweilig», sage ich und sie lacht: «Ja, so kann man das auch sehen.»
«Wir hatten eine Katze», sage ich nach einer Weile, «einen mächtig grossen, stolzen Kater. Es war unumstritten der Herr unseres Viertels. Manchmal kam er zerkratzt und mit blutigen Wunden im Fell aus dem Kampf, aber immer mit erhobenem Haupt. Mit allen nahm er es auf, mit den Hunden der Nachbarn, mit dem fetten Kater, den die neuen Bewohner unserer Mietskaserne mitbrachten. Ich habe selten ein Lebewesen mit so viel Stil gesehen.»
«Dein Vorbild ist ein Kater, das kann ja heiter für mich werden», frotzelt sie.
«Na ja», werfe ich schmunzelnd ein, «aber vielleicht stimmt das mit dem Vorbild sogar. Alle andern in unserem Haus, mein Vater, mein Bruder, waren vorsichtig, ja geradezu feige. Nur dieses Tier hatte wirklich Mut.»
«Was ist mit ihm geschehen?»
«Er kam eines Tages einfach nicht mehr zurück. Ich habe mir als Knabe eingeredet, er sei weiter gezogen durch die Wälder in die Berge, um sich ein noch grösseres Reich zu unterwerfen. Doch wahrscheinlich wurde er einfach von einem Auto überfahren oder so.»
«Hm», sagt sie und nach einer Weile: «Ich hatte auch mal ein Kätzchen. Ein ganz kleines, unglaublich süss. Nach ein paar Wochen habe ich es aber wieder weggegeben.»
«Warum?»
«Mark, mein damaliger Freud, hat mich dazu überredet. Die Tierhaare seien doch nicht gut für meine Allergien. Er denke dabei vor allem an meine Gesundheit, und so weiter. Heute ist mir klar, dass er das Tier ganz einfach nicht mochte und es aus dem Haus haben wollte.»
«Nicht eben einfühlsam.»
«Er war ein Arschloch.»
«Warst du lange mit ihm zusammen?»
«Vier Jahre.»
«Du warst vier Jahre mit einem Arschloch zusammen?»
«Er war nicht immer ein Arschloch.»
Ich verkneife mir einen Kommentar und runzle nur die Stirn.
Die Fische ziehen in immer grösseren Schwärmen an uns vorbei, ich wusste gar nicht, dass es in diesem trüben Gewässer derart viele Fische gibt.
«Fische haben es gut, die sind frei, die können überall hin», sagt Anna.
«Bis sie im Netz irgendeines Fischers landen», entgegne ich.
«Diese fetten Viecher isst sicher niemand», sagt sie.
«Noch schlimmer», entgegne ich, «gefangen zu werden, um dann weggeworfen zu werden.»
Wir schauen den Tieren nach, die Richtung Torcello schwimmen, immer weiter in die Lagune hinein. Sie werden auf ihrem Weg auch unter den grauen Motorbooten durchschwimmen müssen, die in regelmässigen Abständen um unsere Insel patrouillieren. Der Aufwand scheint mir übertrieben, auf der ganzen Insel gibt es nur ein einziges Boot, ein Ruderboot, das vielleicht sieben oder acht Leuten Platz bietet, ein träges schweres Gefährt, bei dem man sich die Arme aus dem Leib rudern müsste, um zum Festland zu gelangen.
«Komm, lass uns zurückgehen», sagt Anna, «mir wird langsam kalt.»
Sie steht auf und putzt sich den Staub vom Hintern. Filiberto hat im Cheminée des grossen Saales Feuer gemacht, wir erkennen es am Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt.
Auf dem Weg zurück lege ich den Arm um Anna. Unsere Schritte gehen im Gleichtakt, auch unsere Körper passen ineinander, sie ist etwas kleiner als ich, gerade richtig, sodass ihre Schulter schön weich auf meinen Brustmuskeln ruht. Und wie wir so über die Schwelle der Eingangstüre schreiten, kann ich mir für einen Augenblick einbilden, wir wären ein Paar, das nach einem Sonntagsspaziergang nach Hause kommt, in freudiger Erwartung, sich aufs Sofa zu legen und etwas zu faulenzen. Vielleicht kommen ja noch Freunde zu Besuch auf ein Glas Wein, und wenn sie weg sind, räumen wir die Gläser nicht ab, nein, kaum fällt die Tür ins Schloss, stelle ich mich hinter sie und ziehe ihren Rock und ihren Slip aus, im Zurückgehen kippen wir um, landen auf dem Teppich und lieben uns, was solls, wenn die Gardinen offen sind, diesen Körper gönne ich auch meinen griesgrämigen Nachbarn, und dann können wir auf dem Boden einschlafen, den Teppich als Matratze, wie hier auf den grauen Matten mit dem hässlichen, verwaschenen roten Kreuz drauf. Nur diese nach Mann stinkende Hose, die sie als Kissen verwendet, gibt es nicht, sondern ein weiches Duvet mit seidenem Überzug, von dem ich am Morgen die zerbröselten Blätter aus ihrem Haar wische.