Читать книгу Die vierzig Tage der Lagune - Erik Nolmans - Страница 7
I. 1.
ОглавлениеIch löse meine Hand vom Bootsrand und senke sie ins kalte Wasser der Lagune. Ich will mir den Schmutz von den Fingerkuppen waschen, immer wieder habe ich die Nägel ins aufgeweichte Holz meines Sitzes gekrallt, auf dem langen Weg durch die Untiefen der Palude di San Giacomo. Nun, in der breiten Fahrrinne, zieht das Wasser in Richtung Meer, unser Boot stemmt sich dagegen. Eine lange Reihe von Markierungspfosten, im Dunkel der Nacht verschwindend, weist uns den Weg. Faulendes Seegras klebt an den Pfählen, Plastikflaschen haben sich darin verfangen, braun vor Dreck. Der Gestank der modernden Pflanzen mischt sich mit den Ausdünstungen des verfallenden Körpers hier vor mir. Jedes Mal, wenn das Boot schwankt, entweicht der Leiche eine Wolke säuerlicher Luft und zieht zu mir herüber. Der Geruch hält Filiberto nicht davon ab, ununterbrochen das Gesicht seines toten Bruders zu küssen; er küsst ihn überall, auf die Stirn, die Wangen, ja sogar auf die verkrusteten Mundwinkel.
Mir ist speiübel, ich nehme die Hand wieder aus dem Wasser und halte sie vor Nase und Stirn. Gunther rudert wie verrückt, sein Oberkörper glänzt vor Schweiss. Er ist der Kräftigste von uns fünf; mit grimmiger Miene zieht er die Riemen, er pflügt das Wasser fachgerecht, wir kommen schnell voran.
Vitus hat sich im Bug platziert. Die Holzskulptur hält er seltsam verkrampft umklammert. Er drückt sich mit den Beinen steif gegen den Sitz, er kann sich nicht richtig festhalten, weil seine Hände nicht frei sind. Warum wirft er das Ding nicht einfach ins Wasser? Es ragt weit hinauf in den Nachthimmel, prahlerisch fast, ein unnötiges Risiko, man könnte uns entdecken, verdammt noch mal!
Die Schnallen seiner Samtschuhe kratzen an den Metallverstärkungen des Rumpfes. Er sieht lächerlich aus, mit seinem dreckverschmierten Umhang, seinem goldbestickten Gilet, seinen weissen Seidensocken. Die Ärmel seines Hemdes sind zerrissen und braun von der Rinde des Baumes, aus dem er die Skulptur letzte Nacht geschnitzt hat.
Filiberto wird immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt: «Maurizio, mio caro fratello», schluchzt er in einem fort. Wenn er doch nur das Gesicht des Toten endlich in Ruhe lassen könnte!
Einzig Luciano, der neben mir im Heck sitzt, ist völlig ruhig. Mit verkniffenem Mund blickt er geradeaus. In regelmässigen Abständen knirscht er mit den Zähnen – ich höre es deutlich, er muss seinen Zahnschmelz regelrecht zermalmen.
Das Schwierigste liegt noch vor uns. Wie wollen wir die Insel unerkannt erreichen? Und dann über die Mauer gelangen, mit dem toten Maurizio?
Wir müssten es einfach schaffen, hatte Filiberto gesagt, seit Generationen würden die Mitglieder seiner Familie am gleichen Ort begraben. Zuletzt hatten wir seinem Bitten nachgegeben, was hätten wir sonst tun sollen? Für mich hatte sein Vorhaben irgendwie etwas Erhabenes, was man von den meisten anderen Dingen in unserem von Krankheit und Tod beherrschten Palazzo nicht sagen kann. Doch jetzt, wo wir langsam auf die Friedhofsinsel San Michele zu rudern, packt mich die Angst.
Vor uns strahlt Murano in spöttisch hellem Licht, wir müssen einen weiten Bogen nach Süden machen, um im Schutze der Dunkelheit zu bleiben. Kurz nach dem Canale di Marani, dem breiten Fahrwasser, das bis ins Meer hinausführt, kommen wir wieder in untiefe Gewässer. Hier, östlich von San Michele, ist es dunkel und still.
Die Friedhofsinsel ist von einer hohen Mauer umgeben, von weitem sieht sie aus wie ein Kastell. Zierbögen schmücken die Mauern in gleichmässigen Abständen; zwei Türme ragen in den nächtlichen Himmel – sie gehören zum prunkvollen Haupteingang, der sich an der Venedig zugewandten, vorderen Seite befindet.
Wie wir unserem Ziel näherkommen, gewinnt auch Filiberto seine Fassung wieder. Er lässt von seinem Bruder ab und setzt sich auf, mit dem Handrücken wischt er sich die Tränen vom Gesicht. Er befiehlt Gunther, leicht nach rechts zu drehen, um auf der dunklen Ostseite an die Insel heranzufahren. Luciano setzt sich neben Gunther und hilft ihm beim Rudern. Die letzten Meter bis zum Ufer scheinen endlos.
Wir müssen vorsichtig navigieren, denn vor der Mauer liegen grosse, mit Algen bewachsene Steine, auf die wir sonst auflaufen würden. Nirgends gibt es eine Möglichkeit, mit dem Boot anzulegen, also beschliessen wir, es mit dem Anker zu befestigen. Gunther zurrt die Taue fest, wir steigen aus ins seichte Wasser.
Die Mauer ist höher als wir dachten. Sicher sechs Meter weit ragt sie hinauf. Es dürfte schwierig sein, an ihr hoch zu klettern – die fein gemauerte Backsteinwand bietet kaum eine Möglichkeit sich festzuhalten. Etwas ratlos stehen wir vor dem Hindernis. Natürlich haben wir ein Seil mitgenommen, welches wir wie ein Lasso werfen können, doch wo sollen wir es befestigen?
Filiberto macht im Wasser ein paar Schritte zurück und sucht mit zusammengekniffenen Augen die Mauer ab, als ob er nach etwas Ausschau halten würde. «Dort, seht doch, dort», sagt er auf einmal hastig und winkt mit dem Arm. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass ich jemals über den Anblick eines Kruzifixes erfreut sein würde, doch jetzt macht mein Herz einen Sprung: pechschwarz und mächtig ragt die Spitze eines Steinkreuzes über die Wand hinaus. Es muss wohl zu einem Grab dort irgendwo hinter der Mauer gehören.
In nur zwei Versuchen schaffen wir es, das Seil über das Kreuz zu werfen. Luciano steigt als erster auf die Mauer, Gunther ist der nächste; gemeinsam ziehen die Beiden dann Maurizio hinauf, den wir mit seinem Gürtel am Seil befestigt haben. Es folgen Filiberto, Vitus und ich.
Wie ich mich über den Rand der Mauer stemme, sehe ich, dass der Friedhof im Dunkeln liegt. Vor mir an den Wandgräbern brennen nur wenige, verlorene Kerzen und Grablichter. Zwischen den Gräbern verläuft ein Weg aus Kieselsteinen, auf beiden Seiten von Bäumen gesäumt.
Wir lassen uns langsam dem Seil entlang nach unten. Das Kreuz ist Teil eines Grabsteins, welcher in die Aussenwand eingelassen ist. Filiberto bedankt sich beim unbekannten Toten für den Hilfedienst, indem er mit dem Ärmel sorgfältig unsere Spuren vom Stein wischt.
Zu viert schultern wir Maurizio. Dann laufen wir los, hetzen durch die Gräberlandschaft, ohne uns noch einmal umzusehen, weiter und immer weiter. Ich höre über uns ein Geräusch und befürchte, es könnte ein Hubschrauber sein. Sucht man uns bereits? Doch es ist nur ein Linienflugzeug, das bei Mestre, auf der anderen Seite des Wassers, gestartet ist.
Ich schaue im Laufen einen Moment zu lange nach oben und stolpere über einen Mauervorsprung; es gelingt mir nicht, mich mit den Armen aufzufangen und ich knalle Brust voran auf den Boden. Die anderen traben unbeirrt weiter. Maurizios rechte Schulter, die ich zu stützen hätte, hängt schlapp nach unten, sein Arm streift fast den Boden.
Ich sehe sie rennen, Luciano, Gunther, Filiberto, in ihren Schnallenschuhen aus dem siebzehnten Jahrhundert, ihren Rüschenhemden, ihren Mänteln mit den bestickten Puffärmeln. Vitus hat sich sogar noch den dreieckigen Hut aufgesetzt, damit ihm sein langes, fettiges Haar nicht ins Gesicht fällt. Er läuft voran, die Holzfigur wie ein Totem vor sich hertragend, aus seinem Mund kommt dampfend der Atem, er sieht aus wie ein wahnsinniger Priester im Weihrauchnebel. Maurizios Kopf ist nach hinten geknickt, aus seinem Mund fällt im Takt der stampfenden Schritte der Träger Eiter auf die umliegenden Gräber.
Was mache ich hier eigentlich? Wie bin ich in Gottes Namen hier gelandet?
Ich drehe mich auf den Rücken und spreize die Arme. Der Boden ist kalt, Kieselsteine drücken schmerzhaft auf meine Kopfhaut. Über mir zieht Alitalia, Flug 1114, das Fahrwerk ein, die Flügel der Maschine bedecken für einen Moment den matt leuchtenden Mond.