Читать книгу Die vierzig Tage der Lagune - Erik Nolmans - Страница 9
3.
ОглавлениеVon weitem sieht es aus, als ob die Insel brennen würde. Wie wir näherkommen, sehe ich, woher die Flammen stammen: Filiberto hat an der Uferböschung eine Reihe von ausgehöhlten Baumstämmen platziert, die im Innern lodern. Die Stämme sind mannshoch und sicher einen halben Meter dick.
Sie beleuchten eine breite Treppe mit schmutzigweissen Marmorstufen, majestätisch zieht sie sich die Böschung hinauf, gegen oben schmaler werdend. Die Treppe führt auf einen gepflasterten Weg, der sich durch eine Wiese zieht. Der Palazzo im Hintergrund ist beleuchtet; aus den Fenstern dringt Musik und Lachen, das Haus prahlt in festlichem Stolz.
Ob Anna am Ufer auf mich wartet? Ich glaube nicht, obwohl ich denke, dass es sich für sie lohnen würde. Sie würde drei Gestalten langsam über das Wasser gleiten sehen, in einem Motorboot aus edlem Holz, vom flackernden Licht des Feuers beleuchtet, drei Männer in dunklen Hüten und schwarzen Umhängen, im Gesicht die «Bauta», die traditionelle Maske des Carnevale. Die Männer sind etwa gleich gross, sie unterscheiden sich von weitem nur durch die Farbe ihrer Larven, weiss diejenige des Mannes links, schwarz diejenige des Mannes in der Mitte, golden diejenige des Mannes rechts. Ich weiss nicht, vielleicht könnte sie auch die Erwartung sehen, die heiss von uns abstrahlt, es würde mich nicht wundern, wir würden unter unseren Umhängen glimmen wie glühende Holzkohle.
Anna hat mir Filibertos Adresse genau aufgeschrieben, ja sogar gezeichnet, wo sich die Insel in der Lagune befindet. Das wäre nicht nötig gewesen – dem Fahrer des Taxiboots genügte der Name. Der Weg vom Arsenale durch den Canale di Treporti, den Canale di Burano und dann an Torcello vorbei in die Palude della Centrega ist fast zwanzig Kilometer lang, und unser Schiffer hat den ganzen langen Weg geschwiegen, die Stirn in Falten gelegt, den Blick düster nach vorne gerichtet.
Er sucht eine Stelle an der Balustrade vor der Treppe, an der er uns aussteigen lassen kann. Wir bezahlen ihn, er steckt das Geld wortlos ein und dreht ab.
«Ich glaube, das wird ein guter Abend», sagt Luciano und beginnt die Stufen langsam hinauf zu stapfen. Vitus bückt sich und klopft mit den Knöcheln auf den Marmor, er kennt sich aus mit Steinen, staunend bleibt er einen Moment stehen, dann folgt er uns.
Die Wiese ist ungepflegt, das Gras steht hoch, grobe Äste liegen herum. Auf der linken Seite, nahe beim Ufer, umrandet eine zerfallene Steinmauer einen ehemaligen Gemüse- oder Kräutergarten. Schön sind die Bäume, riesig prangen sie in den Himmel mit ihren knorrigen Ästen, Reste eines alten Waldbestandes, der einst die ganze Insel bedeckte. Aus einem der Stämme würde Vitus in ein paar Wochen eine Grabfigur schnitzen, doch das wissen wir in diesem Moment noch nicht, wie vieles andere, das uns hier erwarten wird.
Das Seltsame an den Kostümen aus dem siebzehnten Jahrhundert ist, dass man darin automatisch langsamer zu gehen beginnt. Hetze passt nicht zum altertümlichen Stolz dieser Kleider und das ist gut so, denn es gibt uns die Gelegenheit, die Umgebung in uns aufzunehmen, oder besser noch, sie auf uns einwirken zu lassen. Sie gibt unserer Verkleidung den letzten Schliff, wie Chamäleons, die ihre Farben ändern, wechselt unser Gemüt die Flaggen. Es ist ein bisschen, als ob wir zu den Menschen werden, die einst vor dreihundert Jahren in diesen Kleidern steckten; es zwickt sogar in meinen Schultern, als ob sie in die Leerräume der etwas zu grossen Kostümjacke hineinwachsen wollten.
Wir schreiten festen Schrittes voran, den Rücken gerade, den Oberkörper leicht vorgebeugt. Die Schuhsohlen knirschen auf dem Weg, feine Steinchen bedecken den Pfad, eine dünne Schicht nur, sogar dieses Detail stimmt, wir riskieren nicht, unbeholfen seitlich weg zu knicken, wie auf den satt gefüllten Kieswegen der modernen Villen bei uns zuhause am See.
Die Flügel der Eingangstüre sind einladend aufgeklappt, in den Fenstern stehen Kandelaber mit brennenden Kerzen und locken uns, drei Motten auf dem Weg ins Licht. Der Palazzo ist gebaut im Stil der venezianischen Gotik – Schönheit als Selbstverständlichkeit – und so steht er auch da in seinem Kleid aus rostroten Backsteinen: ein alter Adliger, der weiss, dass sein Gewand ihm steht. Zentrale Fensterfront im ersten Stockwerk, acht verspielte Spitzbögen breit, mit marmornem Balkon. Links und rechts davon deuten ähnliche Fenster weitere Prunkräume an. Das Haus ist drei Stockwerke hoch. Im Gegensatz zu den Palazzi in Venedig kann man hier auch die unterste Etage benützen, denn das Haus steht auf festem Boden.
Es scheint sogar unterkellert zu sein: um einzutreten muss man drei breite Treppenstufen nehmen. Auf der untersten Stufe sitzt ein Mann, die langen grauen Haare hat er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sein Hut liegt vor ihm am Boden, er hat eine Zigarre in der einen, einen Notizblock in der anderen Hand. Schräg hinter ihm stehen zwei Frauen in bauschigen Kostümen und versperren den Eingang. Sie reden mit einer halbnackten Schönheit, welche das Gesicht, den Oberkörper, die Arme und Beine mit grüner Körperfarbe bemalt hat, ansonsten aber nur einen grünen Rock und um den Hals eine Kette aus Muscheln trägt. Sie tippelt mit ihren nackten Füssen auf dem kalten Stein der Treppe, es zieht sie herein in die Wärme aber die Rokokodamen plaudern unbeirrt weiter auf sie ein. Neben ihr steht ein ebenfalls grün bemalter Hüne, auch er nackt bis auf eine kurze bauschige Hose, er hält einen Dreispitz in der Hand, eine eindrucksvolle Vertretung für den Meeresgott Neptun. Völlig ruhig steht er da, stolz blickt er uns ins Gesicht, ich sehe ihn durch die Löcher in meiner Pappmachémaske wie durch ein Fernrohr.
Um an der Gruppe vorbei zu kommen, müssen wir unsere triumvirale Front aufbrechen und hintereinander weitergehen. Die Türschwelle ist morsch, das Holz hier draussen muss bei Stürmen einiges ertragen, mitunter gar, wenn der Wind das Wasser von Osten her in die Lagune treibt, der Mond sich in seinen vorgespurten Bahnen abwendet und die Flut kommen lässt, dann treibt das Wetter nasse, salzige Böen bis hier hin, der Ersatz-Neptun da hinter uns hätte seine Freude daran, wie prachtvoll das Meer dem Land seinen Hass zeigen kann, noch immer verärgert darüber, dass ein paar Kaufleute im Mittelalter der Lagune mit Aufschüttungen Landteile abgerungen haben. Hunderte, in Venedig selbst sogar tausende Holzpfähle wurden von den Menschen in den Boden gerammt, um das Land zu befestigen, Nägel im Fleisch des Meeresgottes.
Der Eingangsraum ist sicher sechs Meter hoch. Die Wände sind weiss, oder besser gesagt, sie sind weiss unter einer Unzahl in schwarzer Farbe gemalter Wörter. Es sind offensichtlich Namen, nicht alphabetisch geordnet, aber säuberlich aufgelistet, von Wand zu Wand ziehen sich Zeile für Zeile einheitlich grosse Buchstaben.
Aufgelockert wird das strenge Konzept nur durch die unterschiedliche Länge der Namen.
Ein paar Wörter erkenne ich, Maurizio Bertozzi steht dort, nicht grösser als die anderen Namen, und ja, vorne an der Wand, ganz unten steht auch ihr Name, Anna, Anna van Landsmeer.
«Filibertos Gästeliste. Vor zehn Jahren hat er damit angefangen, jetzt sind die Wände schon fast voll», sagt der Grauhaarige, den Hut inzwischen wieder auf dem Kopf, die Zigarre im Mund, und gibt uns die Hand: «Ich bin Pedro Juan, ich male die Buchstaben.»
Wir müssen ihm unsere Namen nennen, er schaut auf der Liste kurz nach, dann geht er zum Tisch in der Ecke, nimmt einen der bereitstehenden Pinsel aus dem Glas, packt einen Farbtopf, verschiebt mit dem Fuss ein Kissen, das vor der Wand am Boden liegt, kniet nieder und listet unsere Namen fein säuberlich auf.
Dann dürfen wir weitergehen, die Treppe hinauf in den ersten Stock. Sie führt steil nach oben, links und rechts in einem Bogen endend. Auf den Stufen sitzen drei Frauen in eleganten Abendkleidern. Als wir vorbeigehen packen sie ihre Weingläser, damit wir sie mit unseren Umhängen nicht versehentlich umstossen. Sie sind barfuss, drei Paar hochhackige Gucci-Pumps stehen auf der Treppe, auch sie werden festgehalten, um sie vor unseren langen Mänteln zu schützen.
Schräg gegenüber umarmt ein grossgewachsener Mann mit platinblond gefärbten Haaren einen jungen Asiaten, küsst ihn auf den Hals, streichelt ihm das Haar. Der Umworbene hat wunderschöne Mandelaugen, leicht geschminkt hat er sich, mit einem Kajalstift die Augenlider umrandet, er ist sehr attraktiv. Etwas Weibliches in die Augen zu zaubern kann auch einem Mann ganz gut gelingen. Nur die typischen Bewegungen einer Frau bekommen Männer kaum je hin – was sie aufführen, ist bestenfalls eine Karikatur weiblicher Eleganz. Auch der mandeläugige Bursche beherrscht es nicht, er kichert verstohlen, als ihm der Blonde die Zunge ins Ohr streckt, verkrampft hat er die Arme an den Körper gedrückt, die Hände flattern auf und ab wie bei einem jungen Vögelchen. Vor ihm am Boden sitzt ein anderer Asiat, er weint und sieht elend aus, als ob er sich bald übergeben müsste.
Am Treppenende kommen wir nicht weiter, der Korridor ist gefüllt mit dutzenden Kostümierten, die herumstehen, trinken, lachen. Eine Frau hat sich als menschliche Früchteschale verkleidet, vier Männer versuchen, sie auf einem grossen Tablett über die Menge zu tragen, sie hat sich unzählige grüne Ballone angeklebt, welche wohl Trauben darstellen sollen. Mit jedem Schritt fallen Äpfel, Birnen oder Orangen vom Tablett und werden von den drängelnden Füssen am Boden zu Brei getreten.
Wir bahnen uns einen Weg ins Zimmer seitlich des Ganges, dort scheint es etwas ruhiger zu sein, antike Sofas mit Holztischen davor stehen herum. Ich will weitergehen und drehe mich zu den anderen um, doch Vitus und Luciano folgen mir nicht. Sie befinden sich im eifrigen Gespräch mit zwei maskierten Frauen in aufgeplusterten Röcken, die Damen machen betont theatralisch höfliche Knickse, mein Bruder zieht den Hut und schüttelt seine lange Mähne, Luciano streckt die Brust raus und beugt sich näher zu den Mädchen hin, um sie mit geflüsterten Schmeicheleien einzudecken.
Ich gehe alleine weiter in den nächsten Raum, es muss ein Eckzimmer sein, denn sowohl vorne wie an der Seite befinden sich Fenster. Auf dem Boden stehen Kandelaber mit brennenden Kerzen, der Wachs tropft auf den Boden. Ich sehe Filiberto, er ist umringt von einer Gruppe von Gästen, die ihm aufmerksam zuhören. Die Leute lachen, strecken die Gläser in die Höhe. Filiberto packt jemanden am Arm und schüttelt ihn. Das Glas in der Hand des Mannes schwankt bedrohlich, der Wein schwappt über den Rand und begiesst zwei Frauen, die neben ihm stehen. Diese zucken erschreckt zusammen, doch dann lachen sie und frotzeln den Unglücklichen, heben den Kopf und strecken die Zunge weit hinaus. Der Mann muss den Rest des Weines in ihre Münder tropfen lassen.
Das nächste Zimmer ist ähnlich gross aber nur dämmrig beleuchtet. Auch hier stehen Plüschfauteuils. Die Fenster stehen weit offen und geben den Blick aufs Wasser frei, irgendwo im Hintergrund muss Torcello liegen.
Auf einer der Fensterbänke sitzt Anna. Sie befindet sich im eifrigen Gespräch mit Maurizio, er scheint mir ziemlich betrunken, denn er schwankt selbst im Sitzen. Er stützt sich auf einen Arm, mit dem anderen streichelt er weinselig über Annas Haare. Sie schaut nur kurz auf zu mir und wendet sich dann wieder Maurizio zu. Ich bin verwirrt, ja erschreckt, doch dann realisiere ich, dass sie mich ja gar nicht erkennen kann hinter meiner Maske.
Ich setze mich auf eines der Sofas und beobachte sie. Hut und Musketierhemd hat sie gegen ein schlichtes schwarzes Kleid getauscht. Wie schön ihr Mund ist. Von ihren Schneidezähnen zur Unterlippe zieht sich ein dünner Speichelfaden, ein kleiner Tropfen gleitet daran entlang nach unten. Ihr dunkles Haar ist glatt und glänzend, ich verstehe, dass Maurizio seine Finger nicht von ihr lassen kann.
Ihre Bewegungen sind langsam und kontrolliert. Irgendwann wird sie mir erzählen, dass sie als kleines Mädchen Woche für Woche Ballettstunden über sich ergehen lassen musste und dass sie es hasste. Doch die Grazie, mit der sie jetzt ihren schmalen Fuss nach vorne streckt in ihrem eleganten Schuh, die Zehen unter den schmalen Lederriemen sanft bewegt und den Absatz leicht wippen lässt, ist beste Reklame für das Institut.
Jemand muss hinter mir irgendwo eine Lampe angeknipst haben, mit einem Mal fällt grelles Licht ins Zimmer. Es stört Anna offenbar nicht, nur Maurizio zuckt etwas zusammen, blinzelt, schüttelt den Kopf und fährt dann fort, ihr Haar zu streicheln, etwas zu mechanisch wohl, denn sie drückt seine Hand sanft weg, rutscht mit dem Po etwas nach vorne und lehnt sich mit dem Rücken an den Fensterrahmen. Sie dreht den Kopf weg, blickt hinaus ins Dunkel.
Der Lichtkegel zeichnet die Konturen meines Körpers auf die Wand neben ihr. Wenn ich mich ein wenig bewege, verdecke ich sie mit meinem Schatten. Ich strecke meine Finger ins Licht, meine überdimensionale Schattenhand verdunkelt ihren Nacken. Ich gehe mit der Hand nach vorn, meine Finger werden kleiner.
Als ich klein war, liebte ich Schattenspiele; gruslige Figuren projizierten Vitus und ich auf die Wand in unserem Kinderzimmer. Jetzt muss ihr Körper als Leinwand hinhalten: Ich taste mit meinen Schattenfingern ihren Hals herunter, führe die dunklen Gesandten zu ihren Brüsten, seitlich dem Becken entlang gleiten sie nach unten, über den Aussenschenkel ihres Beins zu ihrem Fuss, wo sie verweilen, ihre Fesseln und Zehen streichelnd. Den Innenschenkel des anderen Beines entlang lasse ich den Schatten wieder hinaufwandern zu ihrem Gesicht.
Plötzlich dreht sie sich. Blickt mich direkt an und sieht meine Hand dort oben in der Luft seltsame Verrenkungen machen. Ich zucke innerlich und ziehe dadurch meine Finger etwas zusammen, ein ungewollter Gruss entsteht, den sie freundlich erwidert, ihre Hand schnellt in die Luft, sie winkt mir zu.
Sie steht auf und kommt auf mich zu, ihr Blick ist skeptisch, wahrscheinlich ist sie sich nicht sicher, wer der Mann hinter der goldenen Maske ist. Sie vermutet aber richtig, «Vincent?», fragt sie, und ich will nicken, doch sie sagt: «Nein, warte», kniet sich vor mich hin und schliesst die Augen. Mit zugekniffenen Lidern nimmt sie mir den Hut ab, dann die Maske. Ihre Finger ertasten mein Gesicht, ein Spiel nur, das weiss ich, denn vielleicht kann ein Blinder das Gesicht eines Menschen nur mit dem Tastsinn erkennen, doch Anna dürfte dafür kaum die nötige Übung haben. Was solls – auch ich schliesse die Augen und taste nach ihren Wangen, was die Schattenhände schon taten darf jetzt auch meine Haut, sie anfassen, sie spüren. Sie lacht, streichelt meine Schläfen, die Maske hat dort tiefe Furchen gezeichnet. Das Ding drückt an vielen Stellen im Gesicht, doch dort besonders.
Sie muss inzwischen ihre Augen wieder geöffnet haben, jedenfalls küsst sie mich treffsicher auf die Augenlider, auch ich gebe das Spiel auf, sehe sie an. Ich ziehe ihren Körper an mich, wir küssen uns. Ich kann nicht sagen, dass der Kuss besser ist als unser erster, vor dem Hotel Danieli, aber dort fing ich draussen in der Kälte an zu zittern, na ja, nicht nur vor Kälte, ich war völlig durcheinander, jedenfalls zitterte ich und meine Zähne kratzten auf ihren. Doch dieser Kuss hier ist wärmer und dies nicht nur wegen der gut aufgedrehten Heizung in diesem Haus, nein, ihr Körper hat allerlei Säfte für mich gekocht und ist immer noch warm davon. Als Vorspeise gibt es ihren Speichel und, als ich ihren Hals küsse, ihren Schweiss; und natürlich bekomme ich Lust, sie auch zwischen den Beinen zu lecken, zu kosten was sonst noch in ihren Hormon- oder Drüsenpfännchen vorgegart wurde. Wer weiss, vielleicht habe ich ja Glück und der kalte Februarwind wird ihr, wenn wir später hinausgehen, um eine Zigarette zu rauchen, eine Träne aus dem Auge treiben und über ihre Wange rollen lassen, kristallen und salzig, damit ich auch diese kosten kann.