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Prolog

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Der Widerschein des Feuers ließ die Wolken über Warschau an diesem kalten Spätfrühlingstag wie blutgetränkte rote Fetzen über den Himmel ziehen. Dazwischen stiegen dunkle Rauchsäulen hoch und verbreiteten einen übel beißenden Geruch – ein Gemisch aus brennendem Holz, angesengten Kleidern und Leichengeruch.

Von allen Seiten das metallisch hackende Gebell von kurzen ungezielten Salven aus Maschinenpistolen, laut hallende Stiefelschritte, die auf Asphalt, Müll und Kinderhände traten. Immer wieder Schreie von verzweifelten Menschen, um eine letzte Gnade wimmernd, die ihnen niemand gewährte. Sie wurden entweder an Ort und Stelle erschossen oder von den Stiefelmännern mit den Totenköpfen auf der Kappe zu Lastern gebracht und abtransportiert. Manche von ihnen, die nicht mehr weiterkonnten oder zu langsam waren, stieß man seitlich gegen Hauswände, prügelte sie aus reiner Lust zu Krüppeln und ließ sie einfach liegen. Zehntausende wurden so zusammengetrieben, irrten suchend durch die dichtgedrängte Menge, um ihre Kinder oder Angehörige zu finden, die in diesem Albtraum aus Gewalt, Not und Aussichtslosigkeit verlorengegangen waren.

Zwei Stunden später würde der SS-Brigardeführer Stroop voll Stolz melden, dass das jüdische Ghetto nun endlich aufgelöst sei und mit der Sprengung der Warschauer Synagoge die tagelange Großaktion erfolgreich beendet wurde. Dazu berichtete er noch von sechsundfünfzigtausend nachweislich vernichteten Bewohnern und dem beispiellosen Kameradschaftsgeist seiner Männer.

Seit vielen Tagen säuberte er mit seinen Untergebenen Straßenzug um Straßenzug des Wohnbezirks von den unliebsamen Gestalten, die verzweifelt versuchten sich vor dem erbarmungslosen Zugriff zu verbergen. Er fand sie alle. Nun war endgültig Schluss, auch der letzte Widerstand, den dieses dreckige Pack in einem letzten Aufbäumen noch versucht hatte, war endgültig gebrochen.

Der schüchterne, zarte Szymon stand zitternd am Fenster im zweiten Stock eines Wohnhauses in der Ulica Dzielna und starrte auf die Straße unter ihm. Die Wohnung lag an der Ecke des Blocks, nur einen Steinwurf von der Synagoge entfernt. Er wusste nichts von dem zerstörten Gotteshaus, er wusste nicht, dass er einer minderen Rasse angehörte, er wusste nicht, was die Totenköpfe vor dem Haus wollten. Er war vor einer Woche drei Jahre alt geworden und seine Eltern schenkten ihm ein hölzernes, rotlackiertes Schaukelpferd, das der Vater aus einem alten Türflügel mühsam herausgeschnitten und mit erbettelter Farbe einigermaßen angestrichen hatte.

Das lag zersplittert im Vorzimmer, die Stiefelmänner hatten es zertreten, als sie in die Wohnung eindrangen. Vor Angst hatte sich Szymon von der Hand seiner Mutter losgerissen und war in sein Versteck hinter der alten Wandtäfelung unter der Fensterbank gekrochen. Seine Mutter, seinen Vater und seinen Bruder nahmen sie mit. Der Bruder, er war erst eineinhalb, weinte und versteckte seinen Kopf im Schultertuch der Mutter, die mit aufeinandergepressten Lippen in Richtung Fenster schaute. Sie wusste, dass Szymon sie durch den schmalen Spalt im Holz sehen konnte. Oft hatten sie hier Verstecken gespielt. Ihr Blick ließ ihn auch jetzt still in dem Schlupfwinkel verharren, so als wäre es das Spiel und er dürfe nicht gefunden werden. Als Vater sich umdrehte, um seine Aktentasche zu nehmen, schlugen ihm die Männer mehrmals auf den Kopf. Er verlor seine Brille und strauchelte über den abgetretenen Türstaffel, als sie ihn hinaus ins Treppenhaus stießen.

Als sich die Stimmen verloren und es in der Wohnung wieder still war, kroch Szymon unter der Verkleidung hervor. Er erschrak, denn in der Nische neben dem Fenster stand der Nachbar, ein älterer Mann aus der Wohnung darüber. Er hatte keine Arbeit, spielte aber wunderbar Klavier und half den anderen Parteien im Haus bei kleineren Reparaturen. Nun zog er Szymon an den Schultern in die Nische hinein, damit sie von unten hinter dem Fenster nicht zu sehen waren. Auch er bebte am ganzen Körper und zuckte bei jedem Geräusch zusammen, das aus dem Stiegenhaus in die Räume drang.

Unten kamen die Männer mit seinen Eltern aus dem Haus. Vater fasste einen am Arm und wollte etwas sagen. Da schrien sie ihn an, stießen ihn zu Boden, aber Vater rappelte sich wieder auf und brüllte zurück. Da nahm einer von ihnen seine Pistole und schoss Vater ins Gesicht. Mutter versagten die Beine und sie sank daneben nieder, so als wäre sie selbst getroffen worden. Da rissen sie die Stiefelmänner hoch und zerrten sie fort.

Szymon schrie vor Schmerz auf. Der Nachbar schlug ihm die Hand vor den Mund, damit nur ja kein Geräusch nach außen dränge. Der Dreijährige stand, sah seinen Vater sterben und schluchzte in die Hand des fremden Mannes.

Komm, deutete der Nachbar, als die Männer vor dem Haus weg waren, wir müssen fort. Er nahm Szymon bei der Hand und zog ihn fort von dem Schreckensbild. Vorsichtig, um möglichst kein Geräusch zu verursachen, gingen sie die Treppe hinunter. Sie drückten sich dabei eng an die Wand. Der Nachbar spähte immer zuerst um die Ecke in die langen Gänge hinein, ob auch niemand zu sehen sei, bevor sie zum nächsten Treppenabsatz huschten. Sehr gefährlich war es dann im Flur des Hauses, denn das Eingangstor stand weit offen – jemand hatte einen der Türflügel mit einem Holzstück verkeilt und der andere war aus den Angeln gerissen worden und lag in der Einfahrt. Draußen hetzten Menschen vorbei, die durften sie nicht sehen. Einige davon waren aus der Straße, die liefen nur vorbei, dann kamen wieder Stiefelmänner, die stehenblieben und in die Einfahrt schauten, ob das Haus auch ordnungsgemäß geräumt sei.

Irgendwann fasste sich der Nachbar ein Herz, hob Szymon hoch und rannte, ohne sich umzudrehen, nach hinten in den Hof. Sie kamen an Gerümpel vorbei und an einigen seltsam verdreht liegenden Körpern mit offenen Augen. Einen kannte Szymon – es war der kleine alte Mann vom ersten Stock. Er starrte sie stumm an, den ganzen Weg, bis Szymon im Arm des Nachbarn die kleine Tür an der hinteren Seite des Hofes erreichte. Der Nachbar trat dagegen, sie sprang auf und die beiden verschwanden dahinter. Schwer atmend blieb er stehen und ließ Szymon wieder hinunter auf den Boden. Vor ihnen lag eine Treppe, die in den Keller führte. Szymon hatte Angst vor dem dunklen Loch, in dem sich die Stufen verloren. Er fasste instinktiv nach der Hand des Mannes – sie war groß und fest. Langsam stiegen sie die Tritte hinunter, die feucht und glitschig waren, vorsichtig tastend, um nicht zu stolpern. Halbblinde Lampen warfen ein diffuses Licht gegen die Mauern. Sie erreichten einen muffigen Gang, der anscheinend endlos alle Häuser untereinander verband. Dort trafen sie einige andere Männer, die es aus den umliegenden Wohnblocks bis hierher geschafft hatten. Gemeinsam gingen sie ein Stück weiter, dann verschwanden die Männer wieder in verschiedene Richtungen.

Nach mehreren Abzweigungen, die meisten Gänge lagen im Stockdunklen, erreichten sie unbehelligt den Keller eines Hauses. Hier schob der Nachbar Szymon in einen kleinen Raum, in dem Licht von außen durch ein schmales Fenster unter der Decke fiel. Er zeigte auf eine Gartenbank, die an einer der Wände lehnte.

»Bleib hier«, flüsterte er, »ich komme bald wieder.«

Der Junge wollte ihn zurückhalten, die schützende Hand nicht hergeben, doch der Mann drückte ihn sanft auf die Bank und verschwand hinaus.

Szymon saß still in dem Halbdunkel des Kellerraumes. Langsam beruhigte er sich und nach einer Weile versiegten seine Tränen. Die Bilder der letzten Stunde sollte er jedoch behalten und sie würden ihn sein weiteres Leben begleiten.

Irgendwie roch es eigenartig in dem Raum. Muffig abgestanden, nach Staub und Holz, aber auch noch anders – seltsam süßlich. Der Kleine schaute sich um und entdeckte unter dem schmalen Fenster eine Stellage mit mehreren dunklen Brettern, auf denen flache Kisten aus Holz standen. Über den Rand der Kisten schaute etwas hervor, das wie rote Kugeln aussah. Szymon lauschte – in dem Keller und draußen vor dem Haus war es still. Angezogen von dem Duft und der Farbe stand er vorsichtig auf und ging hinüber zu dem Regal. Nun war es eindeutig, der Geruch kam von den roten Dingern. Szymon nahm eines von ihnen heraus. Es fühlte sich gut an, so wie rohe Kartoffeln, nur glatter. Der Duft stieg Szymon unmittelbar in die Nase. Hungrig und durstig wie er war, wischte den Staub von der Schale und biss hinein. Es schmeckte wie noch nichts in Szymons jungem Leben – säuerlich und süß zugleich, saftig und doch fest. Der Duft war nicht nur in seiner Nase, den konnte man sogar schmecken. Gierig aß er weiter.

»Sind gut, die Äpfel«, sagte der Nachbar hinter ihm.

Szymon fuhr herum und ließ die Frucht fallen. Er war so vertieft in seine neue Erfahrung gewesen, dass er das Kommen des Mannes überhört hatte. Der hob den Apfel auf und gab ihn Szymon wieder in die Hand.

»Du kannst ihn gerne essen. Der Keller gehört Freunden, guten Menschen, die sicher nichts dagegen haben.« Er nahm Szymon bei der freien Hand und sie gingen aus dem Keller hinaus auf die Straße.

Hier sah es ganz anders aus als zu Hause in der Dzielna. Alles wirkte sauberer und ruhiger. Doch die Menschen, die in der kleinen Gasse unterwegs waren, benahmen sich anders. Sie gingen rasch aneinander vorbei, schauten auf den Boden und grüßten einander nicht. In ihrer Sprachlosigkeit machten sie Szymon Angst.

»Ich bringe dich zu einer ganz lieben Frau und ihren beiden Kindern, damit sie sich um dich kümmert«, sagte der Nachbar im Gehen. »Ich habe gerade mit ihnen gesprochen, sie wohnen nur einen Block entfernt am Fluss und warten bereits.«

»Und du?«

»Ich kann leider nicht bleiben, ich muss fort, muss mich verstecken. Die Männer mit den Uniformen suchen mich.«

»Ich will mit dir gehen«, sagte Szymon verzagt.

»Das geht leider nicht«, antwortete der Mann, »und bei der Familie hast du es sicher viel besser.«

Szymon drückte sich im Gehen eng an den Nachbarn. Er verstand nicht, warum ihn der einzige Mensch, den er auf dieser Welt noch kannte, nun auch verließ.

»Du bist also der kleine Hawkinski«, sagte die junge hübsche Frau ein wenig später freundlich, »keine Angst, du kannst gerne bei mir und meinen beiden Töchtern bleiben.«

Szymon ahnte, dass dies nun seine neuen Leute waren und er die vertraute Familie für immer verloren hatte. Nicht nur seinen Vater, der vor seinen Augen im Dreck des Ghettos verblutet war, auch seine heißgeliebte Mutter und seinen Bruder sollte er nie wieder sehen.

Erst in vielen Jahren, als er nach dem Abschluss seines Studiums an einer amerikanischen Universität hierher zurückkehrte, würde er ihnen wieder begegnen – als Eintrag in einem Buch der Stiefelmänner.

*

Derselbe Simon Hawk, so nannte er sich, seit er in den Vereinigten Staaten lebte, stand nun ebenso fassungslos bei einer der großen dunklen Glasflächen in der fünfundzwanzigsten Etage im Block 7 des New Yorker World Trade Centers. Er blickte auf das Chaos draußen vor den Fenstern – schwarze Feuerfahnen, Staub, der den Himmel verdunkelte, verzweifelt herumirrende Menschen.

Alles, was er glaubte seit langem verdrängt zu haben, schwappte vehement an die Oberfläche seines Bewusstseins. Er hatte keine geordneten Erinnerungen an die Geschehnisse im Warschauer Ghetto vor fast sechzig Jahren – dazu waren die Eindrücke zu chaotisch und er noch zu jung gewesen –, gefühlsmäßig erkannte er jedoch die Gleichheit der Bilder. Ein wenig zitterte er auch, denn die Angst kehrte zurück. Wieder waren Stiefelmänner am Werk, das spürte er deutlich.

Hawk kam nur durch Zufall am Morgen dieses 11. Septembers 2001 in das New Yorker Bürohaus. Er lebte in Washington, wo er bereits lange Jahre für das Weiße Haus als historischer Berater arbeitete. Für ihn als scharfen Beobachter von politischen Vorgängen war es eine perfekte Position, die seinem Interesse an der Welt sehr entgegenkam. Ein so unauffälliger Job im Hintergrund des Geschehens, bemerkte er oft scherzhaft, dass man unbemerkt blieb und auch einige Regierungswechsel überleben konnte. Aufgrund seiner Nähe zu den Kreisen der Mächtigen baten ihn öfter Journalisten im Bekanntenkreis oder Freunde von der Universität, an der er gelegentlich Vorträge über Geschichte hielt, um Unterstützung bei ihren Recherchen zu aktuellen Geschehnissen. Hawk half gerne, so wie er auch stets seine Beziehungen bis in die höchsten politischen Kreise pflegte. Manchmal versuchte er auch selbst Dingen auf den Grund zu gehen, wenn er vermutete, dass mehr hinter einer Sache steckte. Das befriedigte seine angeborene Neugierde und schien ihm außerdem eine gerechte Art zu sein, ein wenig Wissen umzuverteilen.

Aus diesem Grund war er auch gestern von Washington an die Ostküste geflogen. Als Opernfan benützte er die Gelegenheit eine Vorstellung in der Met zu besuchen und kam heute pünktlich zu Dienstbeginn um acht Uhr früh ins New York Office des US-Departments of Defense, um sich mit einem langjährigen Bekannten zu treffen. Für das Verteidigungsministerium war das Büro im World Trade Center die Nahtstelle zum Katastrophenstab der Stadt New York und zu den hiesigen Repräsentanten der CIA und des Secret Service. Sie alle hatten ihre Büros hier in dem Nebengebäude der Twin Towers, genauso wie die Steuerbehörde und die Börsenaufsicht.

»Guten Morgen, herzliche Gratulation«, begrüßte er Major Piet Palmer, den er seit der Operation Wüstensturm, dem amerikanischen Eingreifen zur Befreiung Kuwaits, kannte. Damals kümmerte sich Hawk für das Weiße Haus um die Presseanliegen der befreundeten Koalitionstruppen und Palmer bekam als junger Offizier sein erstes Kommando. Die Feuertaufe im Feld – ein Muss für den Sohn eines Commanders der US-Navy. Es sollte sein einziger Einsatz mit Feindberührung bleiben, den er als verwöhnter Absolvent der elitären Militärakademie von West Point nur widerwillig absolvierte. Er hasste nichts so sehr wie verschwitzte Tarnkleidung und den derben Umgangston der Mannschaft. Lieber trug er seine Galauniform, traf schöne Frauen oder plauderte mit Gleichgesinnten bei einem Glas Champagner über klassische Musik. Das war auch der Punkt, wo sich seine Interessen mit denen Hawks überschnitten. So verschieden sie in ihren Ansichten und von ihrer Herkunft waren, sie teilten die gleiche Vorliebe für gepflegte Umgangsformen und italienische Opern – vor allem wenn James Levine sie an der Met dirigierte.

Nun war Palmer endlich die Karriereleiter hinaufgefallen und gerade dabei seinen Vater in Rang und Einkommen zu überholen. Er hatte für das Ministerium die administrative Leitung des New Yorker Büros übernommen. Für den auch politisch längst etablierten Offizier war dies der erste Schritt zu einer entsprechenden Position im Pentagon. Es war nur mehr eine Frage der Zeit, wann er im leitenden Stab landen würde.

Palmer bedankte sich für die Gratulation und bot Hawk Platz auf einem der bequemen Lederstühle am gemütlichen Besprechungstisch an. Im Übrigen war das Büro militärisch zweckmäßig eingerichtet. An den Wänden hingen verschiedene Ernennungen Palmers, eine Medaille für Verdienste im Einsatz auf dunkelblauem Samt und zwei große Fotos von der Truppe in schmalen Silberrahmen. Hinter seinem ausladenden Schreibtisch fand man die übliche Einsatzkarte, flankiert von den Flaggen der USA und seiner Einheit in der US-Army.

Die beiden plauderten eine Weile, tranken Kaffee, den die Ordonanz auf einen knappen Wink hin brachte. Hawk probierte höflichkeitshalber von den angebotenen staubtrockenen Keksen.

»Ich habe da noch eine kleine Bitte für einen Dozenten unserer Universität«, lenkte er nach einer Weile das Gespräch auf den eigentlichen Grund seines Besuches. »Er arbeitet an einer Studie über die Kommunikation der Geheimdienste.«

»Und?«

»Es gab da vor kurzem in den täglichen Informationen des CIA an den Präsidenten am 6. August ein Memo, in dem das Weiße Haus vor der Gefahr eines Anschlags gegen die USA gewarnt wird.«

»Aber das hast du doch sicher bei euch aufliegen«, sagte Palmer vorsichtig. Er wusste nicht, worauf Hawk hinauswollte.

»Ja, aber eben nur das Memo selbst und für die Studie wäre es interessant, die Originaltexte zu kennen, also die ursprünglichen Nachrichten, die zu diesem Memo geführt haben. Damit wäre zu erkennen, wie sich Informationen im Zuge der Weitergabe verändern.«

Palmer schüttelte den Kopf, stand auf und ging zur Glaswand, durch die man die Twin Towers und die südliche Spitze Manhattans sah.

»Professoren, Journalisten … Es ist wirklich unglaublich, wer alles an unserer Arbeit interessiert ist! In den wenigen Wochen der Leitung dieses Büros hier hatte ich derart viele Anfragen zu solchen Dingen, damit könnte man ein einträgliches Geschäft machen.« Er lachte kurz auf, drehte sich dann zum Fenster und schaute hinunter auf den Hudson River.

Hawk fand die Bemerkung etwas befremdlich und für einen hochrangigen Offizier äußerst unpassend.

»Aber Spaß beiseite«, fuhr Palmer rasch und wieder in sachlichem Ton fort, »ich würde dir selbstverständlich gerne behilflich sein, aber die Memos gehen direkt von der CIA ins Büro des Präsidenten, da habe ich auch nicht mehr Informationen als das Weiße Haus. Ich hoffe, du verstehst das?«

»Aber natürlich! Nur bisher war es doch üblich, dass ihr vom Verteidigungsministerium die heiklen Unterlagen im Original bekommt, wenn es um nationale Sicherheitsfragen geht«, sagte Hawk beiläufig. »Hat sich das Prozedere in diesem Punkt etwa geändert …?«

Palmer war das Gespräch mit einem Mal unangenehm. Hawk kannte die Abläufe genau, ihn konnte man nicht so einfach abspeisen wie einen der Journalisten. Er überlegte nach einer passenden Antwort, um sich aus der Situation herauszuwinden. Im gleichen Augenblick huschte ein Schatten über den Himmel und Sekunden später explodierte ein Feuerball am Nordturm der Twin Towers. Palmer prallte von der Glaswand zurück und auch Hawk sprang auf.

»Das gibt’s doch nicht«, entfuhr es Palmer, »ein Flugzeug. Der Pilot muss ein vollkommener Idiot sein.«

Die Druckwelle der Kerosin-Explosion traf auch Block 7 in den oberen Stockwerken mit ziemlicher Wucht. Sogar hier im fünfundzwanzigsten gab es noch ein Geräusch, als würden hunderte Fäuste von außen gegen die Scheiben hämmern. Irgendwo splitterte Glas.

Palmer war sofort sicher, das könne nur ein bedauerliches Unglück sein. Hawk konnte in dem Moment überhaupt nichts sagen. Er spürte aber sofort, dass er soeben ein direkter Augenzeuge von etwas Ungeheuerlichem wurde.

Sie standen minutenlang regungslos beim Fenster und schauten auf den brennenden Turm. Unten begannen die Menschen zu laufen und schrille Sirenen von Löschfahrzeugen näherten sich.

Palmer ging zu einem seiner Aktenschränke, nahm eine Flasche Whisky heraus und schenkte zwei Gläser ein.

»Auf den Schrecken«, sagte er und konnte ein leichtes Zittern der Hände nicht unterdrücken.

»Wahnsinn«, stammelte nun auch Hawk und nahm eines der Gläser mit einer mechanischen Geste. Er ließ sich langsam wieder in den Ledersessel sinken, ohne jedoch zu trinken oder den Blick von der Szenerie abzuwenden.

Da traf es den zweiten Turm.

Kurz danach begann die Evakuierung der Gebäude, auch die von Block 7. Palmer hatte versucht einige Anrufe zu machen, um den Stab im Pentagon zu verständigen und Weisungen für eventuelle weitere Schritte zu erhalten, aber die Telefone waren heillos überlastet. Sogar die direkte Leitung zum Armeekommando funktionierte nicht.

Auch Hawk probierte seine Dienststelle im Weißen Haus zu erreichen, mit dem gleichen negativen Ergebnis. So blieb ihnen keine Wahl, sie mussten dem Sicherheitsdienst, der in solchen Fällen die oberste Instanz war, Folge leisten. Das Haus sollte innerhalb kurzer Zeit leergeräumt sein, angeblich um allen Eventualitäten vorzubeugen.

Als alle das Haus verließen, ging Hawk noch auf die Toilette, um sich kurz von dem Schrecken zu erholen. Es war der private Waschraum Palmers gleich neben dessen Büro. Dort schlüpfte Hawk aus dem Sakko, lehnte sich gegen die kühlen Fliesen und wusch sich das Gesicht. Der Trubel machte ihm mehr zu schaffen, als er sich eingestehen wollte. Er wusste sofort, dass es keine Unfälle waren, die sich gerade vor seinen Augen abgespielt hatten.

Wie immer in solchen Momenten, überkam ihn ein beklemmendes Gefühl der Ohnmacht und er spürte, das war der Anfang von etwas mit ungeheurer Dimension.

Nach mehreren Minuten – Hawk hatte sich wieder einigermaßen gefangen – kam er aus dem Waschraum zurück in Palmers Büro. Es war leer, nur am Boden lagen einige in der Eile heruntergefallene Zettel. Anscheinend war Palmer schon nach unten gegangen und die Sicherheitskräfte hatten Hawk im entstehenden Tumult des raschen Aufbruchs übersehen. Die normalen Waschräume waren bestimmt kontrolliert worden, aber niemand dachte an einen Besucher auf der Toilette des Dienststellenleiters, nachdem dieser sein Büro verlassen hatte.

Hawk setzte sich einen Augenblick und genoss die Ruhe nach der Aufregung, nur unterbrochen vom Läuten eines Telefons, das auf einem der Schreibtische im angrenzenden Raum ansprang. Draußen vor den Fenstern brannten die beiden Türme und stießen schwarze Rauchfahnen gegen den Morgenhimmel.

Das CIA-Memo fiel Hawk wieder ein, weswegen er von Washington herübergekommen war. Die Informationen interessierten ihn persönlich, denn, was er Palmer nicht gesagt hatte, er selbst war der Dozent, der die Studie an der Universität betreute. Das Memo betraf verdächtige Aktivitäten von Terroristen. Es wurden darin mögliche Vorbereitungen von Flugzeugentführungen und gefährdete Bundesgebäude in New York erwähnt. Sollte das, was sich draußen vor seinen Augen abspielte, damit in Verbindung stehen?

Sofort begann es in Hawks Kopf fieberhaft zu arbeiten. Er blickte nach oben an die Decke, die kleinen roten Lichter an den Sicherheitskameras waren aus. Die unmittelbare Überwachung der Innenräume war also abgeschaltet oder funktionierte nicht mehr. Das hieß, überlegte er, dass die gesamte Anlage auf Notbetrieb lief. Dabei wurden einzelne Hausteile mit Feuerschutztüren abgesichert, die Zugänge zu den einzelnen Büros hingegen öffneten sich, damit im Falle eines Brandes niemand eingeschlossen wurde. Er konnte sich also in den Räumen relativ frei bewegen und wenn das fragliche Memo die Sicherheit von Regierungsgebäuden in New York betraf, musste Palmer die Unterlagen hier haben.

Die militärische Ordnung kam Hawks spontaner Suche entgegen. Alle Schriftstücke waren in einem eigenen Archivraum neben Palmers Arbeitszimmer feinsäuberlich in Ordnern abgelegt und eindeutig beschriftet. In der oberen Reihe des Regals standen die Boxen mit der Aufschrift: CIA Presidential Daily Brief. Darüber prangten die üblichen roten Stempel mit top secret – da waren sie also, die gesammelten Meldungen. Unter dem Datum 6. August fand sich auch der Bericht, den Hawk suchte.

Er nahm das Papier heraus und überflog das Memo. Zunächst etwas enttäuscht, denn die Meldung kannte er. Dann entdeckte Hawk am unteren Rand den Code für die Erhebungen, die zu der Warnung geführt hatten. Das war es, was er suchte, diese Unterlagen sahen sie im Weißen Haus nie. Tatsächlich fand er sie auch im Ordner daneben abgelegt. Hawk blätterte die Dokumente durch, aber es war nichts Ungewöhnliches darunter, nur die üblichen Meldungen mit den Kommentaren der Analysten. Da blieb er an der Kopie von einem Telex hängen, das abgefangen und der Erhebung zugeordnet worden war. Die Sendedaten waren geschwärzt, lediglich die Statuszeile ließ erkennen, dass der Empfänger in Deutschland saß. Auch der Text war in Deutsch abgefasst, das Hawk durch seine Studien zum zweiten Weltkrieg einigermaßen beherrschte. Er las die wenigen Zeilen:

IM ZUGE DES VORHABENS IST GEPLANT,

AUCH UNSERE SACHE MIT DEM OBJEKT

SIEBEN ZU ERLEDIGEN.

WIR BENÖTIGEN DAHER DRINGEND DEN

ZEITPUNKT DER AKTION. ZAHLUNG WIE

VEREINBART ÜBER GENERAL BOB BAMERI.

Darunter gab es die Notiz von dem Analysten, der die Meldung bearbeitet hatte, dass es weder einen General Bob Bameri noch einen weiteren Hinweis auf irgendein Objekt mit der Nummer sieben gäbe. Deshalb war das Papier bei der Erstellung des Memos ans Weiße Haus als unerheblich eingestuft worden.

Auch Hawk kannte niemand, der so hieß, hatte aber sofort das Gefühl, dass er einen Schlüssel zu den Vorgängen, die er gerade erlebte, in Händen hielt. Und war mit dem Objekt sieben das Gebäude des World Trade Centers gemeint, indem er sich gerade befand?

Er nahm das Telex aus dem Ordner, vielleicht ergaben sich später einmal Fakten, die zu dessen Erklärung beitrugen. Er überlegte, es zu kopieren, denn mitnehmen wollte er es nicht, das würde Palmer später bemerken. Am besten wäre es, eine Kopie davon gleich weiterzusenden. Hier nebenan auf der fünfundzwanzigsten Etage war die Außenstelle der CIA. Dort besaß man eine eigene Telefonverbindung über Satellit, die von der normalen Versorgung unabhängig war. Das wusste Hawk, da in Kriegsfällen über diese Kanäle auch die Nachrichtenübermittlung des Weißen Hauses lief. Die Verbindung war auch absolut zuverlässig gegen Abhörversuche und benutzte spezielle Verschlüsselungscodes, die sogar die eigene NSA austricksten.

Sollte auch der CIA bereits evakuiert sein, wäre das die Gelegenheit, das Dokument von dort per Fax wegzuschicken, dann läge es gleich direkt auf seinem Computer in Washington.

Hawk verließ Palmers Büro und ging über den langen Gang, wo kein Mensch mehr zu sehen war, zur Dependance der CIA. Er lauschte an der Tür – drinnen war alles still. Gleich neben dem Eingang befand sich ein grauer Metallzylinder, auf dessen Vorderseite eine Überwachungskamera, ein Zahlenfeld zur Eingabe des Zugangscodes und eine große Taste waren. Kamera und Zahlenfeld waren tot, nur auf der Taste blinkte ein rotes Streifensymbol rhythmisch auf. Hawk drückt darauf und die dicke Schiebetür aus Sicherheitsglas fuhr zur Seite.

Er spähte vorsichtig auf die Überwachungskamera, die den Eingang überwachte, aber auch diese lief nicht. Gleich im vorderen Bereich war der zentrale Kommunikationsraum – die Geräte liefen noch. Hawk wählte seine eigene Nummer in Washington. Die Verbindung klappte ohne Verzögerung. Drei Minuten später war das Dokument als Fax durch und er verließ ungesehen das CIA-Büro.

Nachdem die Papiere in Palmers Archivraum wieder eingeordnet waren, sah er auf die Uhr. Es war gleich zehn, die Suche und die Aktion beim CIA hatten doch über eine halbe Stunde gedauert. Es war also Zeit auf die Straße zu kommen. Falls er Palmer unten noch treffen sollte, würde er sagen, er habe sich in dem Wirbel verlaufen.

Eigentlich schade, dachte er und ließ den Blick über die Ordnerreihen gleiten, denn hier gäbe es noch so vieles, was er sich gerne angesehen hätte.

Im gleichen Augenblick spürte Hawk ein gewaltiges Zittern, das durch das Bauwerk lief. Er dachte zuerst an ein Erdbeben, als er sich aber umdrehte traute er seinen Augen nicht. In einer unheimlichen Wolke aus Schutt und Staub fiel einer der beiden Türme der Twin Towers wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Das Beben der gewaltigen Bewegung dieses Zusammenbruchs wurde begleitet von einem plötzlichen Rauschen, wie ein Wasserfall, der in Kaskaden eine Felswand hinunterstürzt.

Hawk taumelte förmlich zu der Fensterwand und konnte den Blick lange Minuten nicht von dem Geschehen wenden. Es war genau wie damals, vor vielen Jahren in Warschau – das Feuer, der dunkle Himmel, die Angst der Menschen.

Erst nach einer Weile ließen ihn die Gedanken los und er kehrte abrupt in die Gegenwart zurück. Hinaus, dachte er, hinaus aus diesem Gebäude. Vergessen war seine Neugierde, in Palmers Dokumenten zu stöbern. Er wollte nur mehr weg von hier.

Er verließ das Büro und lief den Gang entlang zur Treppe. Der Lift war abgestellt und man sollte bei einer Krise niemals Aufzüge benutzen. Inständig hoffte er, dass die einzelnen Etagen keinen Brandschutz hätten, der jedes Stockwerk nach der Evakuierung mit feuerhemmenden Toren hermetisch abriegelte. Er drückte auf den Öffnungsmechanismus und atmete auf – die Tür zum Treppenhaus sprang auf. Während er hinunterlief überlegte er, dass es vorerst das Beste wäre in die Katastrophenzentrale der Stadt zu gehen, diese lag nur zwei Stockwerke tiefer. Dort sollte noch alles funktionieren und es gab das Office for Emergency Management, was nichts anderes war, als ein Bunkerraum, der Sicherheit bot. Auch die neuesten Informationen über das Geschehen würde man dort erhalten.

»Hallo?« Seine Stimme hallte durch die Zimmer des Krisenstabes, als Hawk vom Korridor aus hineinrief.

Stille.

Die Räume waren leer, verlassen wie das übrige Haus.

»Das gibt’s doch nicht …«, murmelte Hawk betroffen.

Hier war die Einsatzzentrale für Katastrophen und Notfälle der Stadt New York – und sie war geschlossen? Wo waren die Ansprechpersonen, wohin konnten sich die Leute jetzt noch wenden? Draußen geschah eine Tragödie, das World Trade Center begrub tausende Menschen unter seinen Trümmern und hier war niemand, um Hilfe zu schicken oder Einsatzkräfte zu koordinieren.

»Wann hat es das je gegeben«, stammelte Hawk, »dass eine Notfallzentrale bei einem Notfall als erstes geschlossen wird?«

Irgendwas war hier im Gange. In großer Hast lief er zurück zur Treppe und weiter hinunter. Im sechzehnten Stockwerk glaubte er Stimmen zu hören, dachte zuerst an einen Irrtum und ging weiter. Zwei Etagen darunter bemerkte er es wieder, diesmal ganz deutlich – da redete jemand. Hawk konnte nicht verstehen was gesprochen wurde, nur dass die Antworten über ein Funkgerät kamen. Er stieß die Tür zum Korridor auf. Die Stimmen kamen von den Liften her. Sollte jemand eingeschlossen sein?

Hawk bog um die Ecke und sah, dass beide Lifttüren offen standen und mit einer Metallstange verspreizt waren. Seltsam, dachte er und ging vorsichtig näher.

»Wie lange werdet ihr da noch brauchen?« kam es gerade aus dem Funkgerät.

»Etwa zehn Minuten, dann sind wir fertig und kümmern uns dann um den dreizehnten Stock«, antwortete eine männliche Stimme im Liftschacht. »Wie schaut es mit der Evakuierung aus?«

»Ist okay«, kam es zurück, »das Hochhaus ist oben komplett leer, ihr habt also Ruhe.«

»Und unten im Tiefgeschoß?«

»Da sind noch einige Leute aus den Firmen. Da fangen wir erst an, sobald alle weg sind. Bis dahin müssten dann auch die Wagen mit dem Material da sein.«

Hawk kam das ziemlich seltsam vor und er wollte in den Liftschacht hinuntersehen, wer hier arbeitete.

»Was zum Teufel machen Sie hier?«, sagte eine unfreundliche Stimme im gleichen Augenblick.

Hawk fuhr herum. Hinter ihm stand ein kleiner, kräftiger Mann mit rotblonden, längeren Haaren in einem grauen Overall mit silbernen Streifen auf den Schulterklappen und einem Emblem in Form eines Wappens auf der Brusttasche. Dazu trug er ein dunkelrotes Barett mit einem Abzeichen. Hawk erinnerte sich später, dass die Sachen neu und ungetragen aussahen und auf ihn nicht wie eine Arbeitsuniform, sondern eher wie ein Kostüm wirkten.

»Das müsste ich Sie fragen!«, konterte er deshalb geistesgegenwärtig. »Ich bin ein Mitarbeiter der Regierung! Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Wir sind vom externen Sicherheitsdienst, der für dieses Objekt und dessen Evakuierung zuständig ist. Hier zählt im Ausnahmefall nur was wir sagen. Also machen Sie, dass Sie rauskommen!«

Er nahm eine drohende Haltung ein und wies mit der Hand zum Treppenhaus.

»Wenn Sie mich einschüchtern wollen, sind Sie an den Falschen geraten«, sagte Hawk nun ebenfalls scharf und richtete sich in voller Größe auf. »Ich möchte wissen, was Sie hier tun und wer für die Arbeiten zuständig ist.«

Bevor der Rotblonde noch etwas erwidern konnte, stieg der Mann, der im Lift gearbeitet und die Diskussion mitgehört hatte, aus dem Schacht. Er trug die gleiche graue Uniform, war mindestens so groß wie Hawk, aber um vieles kräftiger.

»Das hat alles seine Ordnung. Wir sichern hier die Liftanlagen des Hauses«, sagte er mit aggressivem Unterton, »also verschwinden Sie!«

Hawk sah, dass er gegen die beiden nichts ausrichten konnte. Er drehte sich mit einem Achselzucken um und ging zurück zur Treppe. Sollten die doch machen was sie wollten, dachte er, in dem leeren Haus können sie zumindest keinen Schaden anrichten.

Als Hawk auf der untersten Etage in die große Main Lobby hinauslief, sah er, dass auch hier bereits alles leergeräumt war. Die Halle lag im Halbdunkel, nur das Notlicht brannte und warf ein blaugrünes unwirkliches Licht auf die Szenerie. Erst jetzt bemerkte Hawk, dass eine Sirene unablässig durch das ganze Haus tönte, deren Ton bis in sein Gehirn pulsierte. Der Boden war voll Schutt und hinter der langen Empfangstheke, wo sich sonst zwanzig Clerks um die Anliegen der Besucher kümmerten, stand nur einer von jenen in der grauen Uniform und hantierte an einem Schaltkasten herum. Hawk fiel der Mann überhaupt nur auf, weil er sich wegen des Staubs eine knallgelbe, durchsichtige Einkaufstüte über den Kopf gestülpt hatte, deren fröhliche Farbe unpassend wirkte.

Am Fuße der langen Doppelrolltreppen versuchten zwei Sanitäter einen blutüberströmten Mann auf eine Trage zu heben, der eine klaffende Wunde über Hals und Brust hatte. Er war von dem herabfallenden Lichtkasten getroffen worden, der zerstört daneben am Boden lag. Der Mann wimmerte leise als sie ihn anhoben.

Die großen Glastüren des Gebäudes, die in der Eingangshalle drei Etagen hoch waren, standen weit offen – einige waren zersplittert, die meisten dagegen intakt. Überhaupt wirkte das Bauwerk ziemlich unversehrt und Hawk wunderte sich, warum man befohlen hatte, es zu evakuieren. Es wäre besser gewesen, es für Schutzsuchende offen zu lassen. Vor einem der Eingänge rollte scheppernd ein halber, zersprungener Behälter eines Trinkwasserspenders. Hawk, der sich im Laufen umschaute, ob jemand Hilfe benötige, stolperte darüber und konnte sich nur im letzten Augenblick an einem Pfeiler abfangen.

Endlich auf der Straße angelangt, versuchte er zwischen den Menschen, die ziellos durcheinanderliefen oder durch die Druckwelle verletzt am Rand lagen, Palmer zu finden – vergeblich.

Auch hier vor dem Haus war alles übersät mit kleinen und größeren Betonbrocken. Viele Dächer der parkenden Fahrzeuge waren dadurch zerbeult oder eingedrückt, dazwischen Glasscherben und Staub – überall Staub. Er deckte die Dinge so gleichmäßig mit einer hellen Schicht ab, dass man meinen konnte, es wäre frisch gefallener Schnee. In der Luft schwebte Rauch so dicht, dass der Himmel nur eine dunkelgraue Suppe war und die oberen Stockwerke der umstehenden Häuser wie im Nebel verschwanden. Von irgendwoher fielen unablässig Bündel von Papier herunter: Aktenblätter, Briefe, Rechnungen, Computerausdrucke. Hawk kam es vor, als würde ein riesiger Papierkorb über ihm ausgeleert. Ein bunter Zettel flatterte direkt vor sein Gesicht – es war eine Ansichtskarte. Er wischte sie mit einer beiläufigen Geste weg und sah dabei kurz in die Augen einer jungen Frau, die in einem rosa Bikini an irgendeinem Strand dem Fotografen zuwinkte.

Er lief weiter, wollte in Richtung der Twin Towers, um falls möglich zu helfen; ständig begleitet vom Dröhnen der Einsatzhubschrauber, die über dem Platz kreisten. Zwei brennende Fahrzeuge standen verlassen mitten in einem Seitenweg, eines davon ein Schulbus. Entlang der Straße versorgten Rettungskräfte die Verletzten. Bei einigen hatten sie aufgegeben, sie lagen tot daneben, manche waren nicht einmal zugedeckt. Hawk musste immer wieder blutigen Schuhen oder Taschen ausweichen, die verstreut am Gehsteig lagen.

Zwei Männer von der WTC-Security kamen ihm entgegen, sie trugen dicke blaue Schutzkleidung und hatten schwarze Kunststoffhelme am Kopf. Einer rief Hawk zu, er möge schleunigst umdrehen und zum nächsten Straßenzug hinter die Anlage gehen, dort wäre Schutz und hier könne man nichts mehr tun. Hawk verstand nicht warum, sah aber ein, dass er ohne Schutzkleidung wenig ausrichten würde. Er drehte also um und lief in die Gegenrichtung, dabei wunderte er sich, dass die beiden ebenfalls vom Geschehen wegliefen, statt dort das Gelände zu sichern.

An der Ecke taumelte eine ältere Frau auf die Fahrbahn, ihr Gesicht war durch den Schmutz weiß und ihr ganzer Körper wie mit Puder überzogen. Sie wirkte auf Hawk wie einer der bemalten Eingeborenen in Fotobänden aus Neuguinea. Sie stützte sich auf die parkenden Fahrzeuge und schrie markerschütternd, nur übertönt von einer durchdringenden Sirene, die sich von hinten näherte. Die beiden Securitys rannten achtlos an ihr vorbei. Instinktiv fasste Hawk die Alte am Arm und riss sie zwischen zwei parkende Autos. Keinen Augenblick zu früh, denn ein Löschfahrzeug der Feuerwehr raste um die Kurve, dicht an ihnen vorbei und zog eine dunkle Wand aus aufgewühltem Dreck hinter sich her. Hawk wollte der Frau aufhelfen, sie aber stieß ihn von sich und schrie weiter, schrie unablässig einen Namen. Er konnte nichts für sie machen, anscheinend hörte sie ihn nicht einmal, so sehr war sie in ihrem Schmerz gefangen.

Hawk schleppte sich vor zur Nebenstraße. Das Atmen fiel schwer, so verdreckt war die Luft. Er presste ein Taschentuch vor sein Gesicht, damit ging es etwas besser. Dann lief er weiter an die Seite des Glasturms in die nächste Straße, die etwas Schutz bot. Er lehnte sich kurz an die Wand, um Kräfte zu sammeln.

Eine Wand, die den Tag nicht überleben würde. Denn oben schlugen bereits Flammen aus den geborstenen Fensterflächen und wenige Stunden später, kurz nach fünf Uhr nachmittags, würde auch Block 7, das elegante, schwarz verglaste Hochhaus auf der Anlage des World Trade Centers in sich zusammenbrechen. Die wirklichen Umstände, die dazu führten, sollten nie restlos geklärt werden. Es begrub nicht nur das Archiv Palmers mit den CIA-Memos unter sich, sondern auch die Unterlagen der Steuerbehörde und der amerikanischen Börsenaufsicht.

Und dann würde der Präsident vor die Fernsehkameras treten und die Welt auffordern, sich am Kampf gegen den Terror zu beteiligen, denn wer jetzt nicht an der Seite Amerikas stand, war ein Feind.

Doch das wusste Hawk alles noch nicht, als er völlig erschöpft einige Blocks weiter an der Kreuzung von Chambers und Church stehenblieb und zurück auf das Trümmerfeld schaute. Er wusste nur, er hatte so etwas schon gesehen, in Warschau, in Vietnam, in Kuwait – so sah Krieg aus.

LENA HALBERG - NEW YORK '01

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