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B Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
ОглавлениеDeutschland verfügt über gut funktionierende zivile Strukturen zum Schutz seiner Bevölkerung und ist gegenüber alltäglichen Schadensereignissen durch hoch qualifizierte Rettungsdienste, Feuerwehren und Katastrophenschutzeinheiten wie das Technische Hilfswerk im internationalen Vergleich gut gerüstet. Gleichwohl ist auch Deutschland immer wieder von Ereignissen und krisenhaften Entwicklungen betroffen, die zumindest größere Bevölkerungsteile und ihre Lebensgrundlagen, aber auch die Funktionsfähigkeit vitaler Infrastrukturen und damit des Staates und der Gesellschaft gefährden können. Die Corona-Pandemie von 2020/2021 hat gezeigt, dass auch ein formal gut aufgestellter Bevölkerungsschutz an seine Grenzen geraten kann, insbesondere wenn die nationale und die föderale Ebene nicht immer in Einklang zu bringen sind.
Strategie zum Schutz der Bevölkerung
Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 in den USA und dem Sommerhochwasser an Donau, Elbe und Nebenflüssen im August 2002 einigten sich der Bundesminister des Innern und die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) am 6. Juni 2002 auf eine neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland. Das neue Rahmenkonzept forderte unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern ein verändertes strategisches Denken und vor allem eine verstärkte Bund-Länder-Zusammenarbeit bei außergewöhnlichen, national bedeutsamen Gefahren- und Schadenlagen, bei dem alle Staatsebenen zusammenarbeiten müssen. Mit der neuen Strategie sollten insbesondere auf der Basis von Serviceangeboten des Bundes die vorhandenen Hilfspotenziale des Bundes und die der Länder, also vornehmlich Feuerwehren und Hilfsorganisationen, besser miteinander verzahnt werden sowie vor allem neue Instrumentarien für ein effizienteres Zusammenwirken des Bundes und der Länder entwickelt werden, damit die Gefahrenabwehr auch auf neue, außergewöhnliche Bedrohungen angemessen reagieren kann.
Die sicherheitspolitische Entwicklung der vorausgegangenen Jahre hatte die ursprünglich scharfe Trennlinie zwischen innerer und äußerer Sicherheit weitgehend aufgelöst. Staatliche Sicherheitsvorsorge musste zunehmend ganzheitlich gesehen werden. Sie steht für die Gesamtheit aller Maßnahmen, die dem Schutz der Gesellschaft und ihrer Lebensgrundlagen dienen und ruht nach allgemeinem Verständnis auf den fünf Säulen: Nachrichtendienste, Polizei, Streitkräfte, Bevölkerungsschutz, Kritische Infrastrukturen. Ein umfassender Schutz gegen alle denkbaren Gefahren verlangt abgestimmte und komplementäre Fähigkeiten dieser fünf Säulen und ihre enge Kooperation sowohl in der Vorsorgeplanung wie auch im strategischen Krisenmanagement.
Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK)
Zur Umsetzung dieses Zieles wurde das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) errichtet; es nahm am 1. Mai 2004 seine Arbeit auf. Als zentrales Organisationselement für die zivile Sicherheit bündelt es alle einschlägigen Aufgaben: Erfüllung der Aufgaben des Bundes im Bevölkerungsschutz; Koordinierung des Schutzes kritischer Infrastrukturen; Zusammenfassung, Bewertung und Darstellung verschiedenster Informationsquellen zu einer einheitlichen Gefahrenlage; Koordination der Kommunikation des Bundes mit Ländern und Gemeinden, der Privatwirtschaft und der Bevölkerung über Vorsorgeplanung und aktuelle Bedrohungen; Unterstützung des Managements von Einsatzkräften des Bundes und anderer öffentlicher und privater Ressourcen bei großflächigen Gefahrenlagen; Koordinierung des Schutzes der Bevölkerung gegen Massenvernichtungswaffen; bedrohungsgerechte Ausbildung der Führungskräfte aller Verwaltungsebenen im Bevölkerungsschutz; nationale Koordinierung innerhalb des europäischen Integrationsprozesses im Bereich der zivilen Sicherheitsvorsorge; Koordinierung von Bund, Ländern, Feuerwehren und privaten Hilfsorganisationen bei der Wahrnehmung internationaler humanitärer Aufgaben und in der zivil-militärischen Zusammenarbeit. Das BBK ist aus der Zentralstelle für Zivilschutz im Bundesverwaltungsamt hervorgegangen; die Organisationsstruktur mit Kompetenzzentren, in denen fachlich zusammenhängende Aufgabenbereiche gebündelt sind, wurde beibehalten. Das BBK ist mit folgenden Hauptarbeitsfeldern befasst:
•Krisenmanagement: Für die Grundlagen des Krisenmanagements wurde ein deutsches Notfallvorsorge- und Informationssystem (deNIS); eine Koordinierungsstelle zur Nachsorge, Opfer- und Angehörigenbetreuung von Deutschen nach Großschadensereignissen im Ausland; ein Gemeinsames Melde- und Lagezentrum von Bund und Ländern; und Verfahren zur Warnung der Bevölkerung geschaffen.
•Risikomanagement: Für eine bedrohungsgerechte Anpassung des Bevölkerungsschutzes bedarf es eines Risikomanagements, das als kontinuierlich ablaufendes, systematisches Verfahren zum zielgerichteten Umgang mit Risiken führt. Dies beinhaltet u. a. die Analyse und Bewertung von Risiken zwecks Planung und Umsetzung von Maßnahmen insbesondere zur Risikovermeidung/-minimierung und -akzeptanz, um festzustellen, ob das Verbundsystem Bevölkerungsschutz in Deutschland (Bund, Länder, Kommunen) für alle zu erwartenden Schadenslagen hinreichend dimensioniert und vorbereitet ist.
•CBRN-Schutz: Der Schutz der Bevölkerung vor CBRN-Gefahren (chemische (C), biologische (B), radiologische (R) und nukleare (N) Gefahren) ist ein zentrales Aufgabengebiet innerhalb des BBK. Dies umfasst auch den Schutz der Einsatzkräfte von Feuerwehren und Hilfsorganisationen. CBRN-Substanzen können sowohl vorsätzlich als auch durch einen Unglücksfall, beispielsweise beim Transport, zu einer Gefahr für die Bevölkerung werden. Das BBK bietet für die drei bedeutsamsten Aspekte – Schutz der Personen im Gefahrenbereich; Schnelle Detektion; Gegenmaßnahmen – fachlich-wissenschaftliche Beratung sowie technische Unterstützung.
•Gesundheitlicher Bevölkerungsschutz: Dies umfasst auf Ebene des BBK die Bereiche Gesundheitsschutz, Katastrophenmedizin, medizinische Selbsthilfe und gesundheitlicher Schutz vor CBRN-Gefahren und seuchenhygienisches Management. Handlungsbedarf des Bundes bestand insbesondere bei der Bewältigung des Massenanfalls konventionell oder durch CBRN-Stoffe Verletzter über die gesamte Rettungskette.
•Katastrophenschutz im Zivilschutz: Hilfe, Rettung und Unterstützung bei schweren Unglücksfällen, Naturkatastrophen und allen Gefahren, die mit eigenen Selbsthilfemaßnahmen nicht mehr bewältigt werden können, bedürfen eines gemeinsamen Systems, weitgehend abgestützt auf ehrenamtliche Helfer der privaten und öffentlichen Katastrophenschutzorganisationen. Der Schutz der Zivilbevölkerung im Verteidigungsfall ist gemäß Artikel 73 GG Bundessache; hingegen ist Katastrophenschutz im Frieden gemäß Artikel 70 GG den Ländern zugeordnet. Aus personellen, technischen und finanziellen Gründen besteht eine enge Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Art, dass der friedensmäßige Katastrophenschutz auch im Verteidigungsfall Aufgaben zum Schutz der Bevölkerung wahrnimmt; umgekehrt steht das durch den Bund finanzierte Ergänzungspotenzial für den Zivilschutz den Ländern auch für die Gefahrenabwehr im Frieden zur Verfügung. Im Katastrophenschutz mitwirkende private und öffentliche Einheiten und Einrichtungen sind im Wesentlichen: Feuerwehren; Arbeiter-Samariter-Bund (ASB); Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG); Deutsches Rotes Kreuz (DRK); Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH); Malteser Hilfsdienst (MHD); Technisches Hilfswerk (THW).
•Kritische Infrastrukturen: Kritische Infrastrukturen (KRITIS) sind Organisationen oder Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden. Auf diese Definition haben sich 2003 die Ressorts auf Bundesebene geeinigt und gleichzeitig eine Einteilung dieser zentralen Versorgungssysteme in acht Sektoren und 30 Branchen vorgenommen. 2009 wurde eine nationale Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen beschlossen und in den Folgejahren regelmäßig angepasst.
•Kulturgutschutz: Wesentliche Aufgaben sind: die Sicherungsverfilmung (Mikroverfilmung) von national wertvollem Archiv- und Bibliotheksgut; die fotogrammetrische Erfassung des nach der Haager Konvention gekennzeichneten unbeweglichen Kulturguts; die Erarbeitung von Richtlinien und Konzepten zum Bau von Bergungsräumen für bewegliches Kulturgut und für weitere Maßnahmen zum Schutz von Kulturgut in Abstimmung mit den obersten Fachressorts und über das Auswärtige Amt der internationalen Vertretung bei der UNESCO.
•Internationale Kooperation: Deutschland wirkt beim Bevölkerungsschutz an der Grundlagenarbeit und Projekten von EU, NATO und UN mit. Zudem berät das BBK das Bundesministerium des Innern, andere Ressorts wie auch die Länder in der bi- und multilateralen Kooperation und arbeitet konzeptionell-planerisch sowie in Projekten auf vielen Fachgebieten eng mit (inter-)nationalen Partnern zusammen.
Gemeinsames Melde- und Lagezentrum von Bund und Ländern (GMLZ)
Ein wesentlicher Bestandteil der am 6. Juni 2002 verabschiedeten Strategie zum Schutz der Bevölkerung ist die Einrichtung eines gemeinsamen Melde- und Lagezentrums (GMLZ) sowie die Inbetriebnahme des deutschen Notfallvorsorge-Informationssystems (deNIS). Das GMLZ stellt das länder- und organisationsübergreifende Informations- und Ressourcenmanagement bei großflächigen Schadenlagen oder sonstigen Lagen von nationaler Bedeutung sicher. Es bedient sich sowohl des deutschen Notfallvorsorge-Informationssystems (deNIS) als auch eines ständig wachsenden Netzwerks von Experten aus den verschiedensten Einrichtungen und Behörden des Bevölkerungsschutzes. Als Fachlagezentrum ist es die zentrale nationale Kontaktstelle im Bevölkerungsschutz und wird im Rahmen zahlreicher internationaler und nationaler Melde- und Informationsverfahren tätig.
Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz (AKNZ)
Die AKNZ des BBK (zugleich dessen Abteilung 4) ist die zentrale Aus- und Fortbildungseinrichtung des Bundes im Bevölkerungsschutz. Sie richtet sich mit ihrem Bildungsangebot primär an die mit Fragen der zivilen Sicherheitsvorsorge befassten Entscheidungsträger und Multiplikatoren aller Verwaltungsebenen.
Auch ist sie anerkannt als Wissensdrehscheibe für Fragen der staatlichen und nichtstaatlichen Sicherheitsvorsorge. Durch die Übungsreihe LÜKEX (länderübergreifende Krisen-Exercise) hat sie seit 2004 maßgeblich zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Risiko- und Krisenmanagement von Bund und Ländern auf der administrativ-politischen Entscheidungsebene beigetragen.
Neuorientierung nach Corona
Allerdings zeigte der Ausbruch von Covid-19 Anfang 2020, dass der Zivil- und Katastrophenschutz in Deutschland, der einst für den Krisen- und Spannungsfall aufgebaut worden war, in einer Pandemielage dieser Größenordnung trotz aller planerischen Vorbereitungen erhebliche Schwächen aufwies. Grund hierfür waren weniger fehlende Strukturen und Verfahren, sondern vor allem der Umstand, dass diese von den Verantwortlichen auf Bundes- und Länderebene zu wenig genutzt wurden. Gerade die grundgesetzlich festgelegte Trennung der Verantwortlichkeiten des Bundes (Schutz der Zivilbevölkerung im Verteidigungsfall) und der Länder (Katastrophenschutz) hat sich in dieser Gesundheitskrise als hinderlich erwiesen, da die Bundesländer unterschiedliche Strategien verfolgten, die zu einem uneinheitlichen Regelwerk führten. Eine Entscheidungshoheit des Bundes wurde lange abelehnt.
Auch griffen die Bundesländer nur selten auf die auf Bundesebene bestehenden Institutionen, wie das BBK zurück. Formal für Krisen im Zusammenhang mit dem Verteidigungsfall zuständig, kann es bei Katastrophen nur tätig werden, wenn der Katastrophenfall auch ausgerufen wird. Das war bei Corona aber nur in Bayern der Fall. Folglich wurde das BBK in der Presse auch als »das vergessene Amt« bezeichnet. Darüber hinaus hatten Bund und Länder schon vor vielen Jahren durchgeführte Übungen zu Pandemielagen ignoriert, in denen auf die bei Corona aufgetretenen Mängel (etwa fehlendes medizinisches Gerät) hingewiesen wurde.
Im Frühjahr 2021 zog Innenminister Horst Seehofer die Konsequenzen und kündigte eine Umstrukturierung des BBK an. Ähnlich wie das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum von Bund und Ländern soll das BBK zu einem Gemeinsamen Kompetenzzentrum für Katastrophenschutz weiterentwickelt werden. Auch will das Amt den gesundheitlichen Bevölkerungsschutz stärken und die Bevorratung von medizinischem Gerät erhöhen.
Allerdings werden sich grundsätzliche Verbesserungen bei der Zusammenarbeit von Bund und Ländern nur erzielen lassen, wenn die im Grundgesetz festgeschriebene Trennung von Verteidigungs- und Katastrophenschutz geändert wird. Dies war bereits nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 geplant, danach aber wieder in Vergessenheit geraten. Möglicherweise führt die Aufarbeitung der Corona-Krise zu einem neuen Versuch der Grundgesetzänderung.
Die Flutkatastrophe 2021
Im Juli 2021 führte Starkregen bislang ungekannten Ausmaßes zu katastrophalen Zerstörungen in Rheinland-Pfalz und hier insbesondere in der Eifel und im Ahrtal. Wie schon bei der Corona-Pandemie zeigte sich erneut, dass es in Deutschland erhebliche Defizite im Bereich des Katastrophenschutzes gibt. Warnsysteme waren entweder nicht vorhanden oder wurden nicht aktiviert. Bei der Koordination von Einsatzkräften kollidierten wiederholt die Kompetenzen von Bund und Ländern. Dies führte zu einer weiteren Debatte darüber, ob die föderalen Strukturen in Deutschland noch zeitgemäß sind.
Vgl. auch Grundsatzartikel »Sicherheitspolitik Deutschlands«, Gesamtstaatliche Sicherheitsvorsorge