Читать книгу Wörterbuch zur Sicherheitspolitik - Ernst-Christoph Meier - Страница 317
C Corona-Pandemie
ОглавлениеDie Anfang 2020 ausgebrochene Corona-Pandemie hat sich als einer der gewaltigsten strategischen Schocks der vergangenen Jahrzehnte und als weiterhin maßgeblicher Faktor in der internationalen Politik erwiesen. Anders als die Anschläge des 11. September 2001, mit denen die ~ gerne verglichen wird, sind deren internationalen Auswirkungen nicht primär sicherheitspolitisch, sondern viel stärker wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich und berühren darüber hinaus Fragen der internationalen Ordnung. Dabei ist die Debatte darüber, ob die ~ die internationale Politik grundlegend verändert oder lediglich bestehende Trends, Gefahren und Instabilitäten verstärkt, eher akademischer Natur, da viele der künftigen Implikationen der Pandemie derzeit noch nicht absehbar sind.
Überraschend war in Deutschland zunächst die mangelnde Vorbereitung der politischen und medizinischen Institutionen auf den Ausbruch der Seuche, gelten doch Pandemien seit Langem als eine der möglichen Gefahren, auf die man sich im Rahmen der gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge vorzubereiten habe. Zahllose Übungen und Planungen etwa des Bundesamtes für Zivilschutz und Katastrophenhilfe (BBK) hatten den Ausbruch einer Pandemie zum Hintergrund. Die entwickelten Handlungsoptionen wurden aber offenbar von den Bundesländern, bei denen die Zuständigkeit für den Katastrophenschutz liegt, nur unzureichend wahrgenommen. Dieses Versäumnis verstärkte sich auf internationaler Ebene dadurch, dass die Regierungen wichtiger Länder, allen voran der USA, die Gefahr der Pandemie lange Zeit schlicht bestritten und sich gemeinsamen Schritten zur Bekämpfung widersetzten.
Nachdem zumindest die Mehrheit der europäischen Regierungen die Dramatik der Lage erkannt hatte und den Rat der Wissenschaft konsequent in ihr Handeln einbezogen, überraschte wiederum, wie schnell es gelang, wirksame Impfstoffe und Medikamente zur Linderung der ~ zu entwickeln. Auch die EU-weite Zulassung, Beschaffung und Verteilung funktionierte nach den angesichts des Ausmaßes der Krise nur schwer vermeidbaren Anlaufschwierigkeiten relativ gut. Damit besteht vor allem in den entwickelten Industrienationen die realistische Aussicht, zumindest die medizinischen Gefahren der ~ in absehbarer Zeit überwunden zu haben. Dennoch zeichnen sich auch im engeren sicherheitspolitischen Bereich bereits jetzt erhebliche Langzeitfolgen ab.
Auf nationaler Ebene sind es vor allem die gewaltigen wirtschaftlichen Kosten der Pandemie, welche die deutsche Sicherheitspolitik langfristig beeinflussen könnten. Zwar konnte für 2021 an der geplanten Erhöhung des Verteidigungshaushaltes festgehalten werden. Es ist aber wahrscheinlich, dass in den Folgejahren alle staatlichen Bereiche Kürzungen hinnehmen müssen, um die schuldenfinanzierte Bewältigung der ~ zu refinanzieren. Das kann auch die Verteidigungsausgaben betreffen und die für Deutschland ohnehin schwierige Annäherung an das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel der NATO weiter verzögern.
Dies würde neben der NATO auch die immer noch im Aufbau befindliche Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik betreffen, da auch die meisten anderen Mitglieder von EU und NATO entsprechenden Sparzwängen unterworfen wären. Neben den möglichen finanziellen Einschränkungen beeinflusst die ~ auch das Einsatzspektrum deutscher und europäischer Streitkräfte. Es ist zu befürchten, dass sich die Pandemie in den weniger entwickelten Regionen außerhalb Europas aufgrund schwacher oder völlig fehlender Gesundheitssysteme weiter und länger ausbreiten wird. Befördert wird dieser besorgniserregende Trend auch dadurch, dass sich die reichen Industrienationen aufgrund ihrer Finanzkraft die Mehrheit der Impfdosen gesichert haben. Die schon seit 2000 bestehende internationale Impfallianz GAVI (Global Alliance for Vaccines and Immunisation) versucht eine gerechtere Verteilung zu erreichen, hat hierzu aber nur begrenzte Möglichkeiten. All dies dürfte nicht nur Krisen und Konflikte etwa im Mittleren Osten oder in Subsahara-Afrika weiter verschärfen, sondern auch das militärische Krisenmanagement weiter erschweren. Die Bereitschaft europäischer Staaten, Streitkräfte in die betroffenen Regionen zu Stabilisierungsmissionen zu entsenden, dürfte erheblich sinken, wenn mit hohen Ansteckungsgefahren zu rechnen ist.
Ähnlich dramatische Auswirkungen sind auch im Bereich der Migration zu erwarten. Während die ~ den Migrationsdruck aus den südlichen Krisenregionen in Richtung Europa weiter verschärfen wird, dürfte gleichzeitig die Aufnahmebereitschaft in den betroffenen Staaten erheblich sinken, wenn Migranten auch stets als mögliche Träger des Coronavirus gesehen werden.
Aufgrund der Polarisierung unter Präsident Donald Trump und den geradezu aggressiven Ambitionen Chinas ist die ~ auch zu einem Zeichen des internationalen Systemgegensatzes geworden. China beeilte sich von Anfang an zu betonen, dass es durch seinen autokratischen Regierungsstil eher in der Lage sei, die ~ durch rigide Maßnahmen zu bekämpfen. Trump war dieser Propaganda-Herausforderung weder intellektuell noch konzeptionell gewachsen und führte die USA in eine dramatische Infektionslage, die wiederum von Autokratien wie China, Russland, Brasilien oder der Türkei als Beleg für die Unterlegenheit offener Gesellschaften herangezogen wurde. Damit hat der Wettbewerb zwischen einem aufstrebenden China und den um ihre Führungsrolle in der Welt besorgten USA durch die ~ eine weitere Drehung auf der Eskalationsspirale bekommen.
Gleichzeitig haben die hohen Todeszahlen in den USA das Versagen der Trump-Administration belegt und dadurch auch zu einem Präsidentenwechsel hin zu Joe Biden beigetragen. Dieser bemüht sich nicht nur, die ~ im eigenen Land in den Griff zu bekommen, sondern durch die Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen und die Bildung internationaler demokratischer Allianzen im weltweiten Systemwettbewerb wieder Boden gutzumachen.