Читать книгу Verdächtig - Ernst Fritze - Страница 5
II.
Оглавлениеs war eine sehr stille Straße in der großen und volkreichen Stadt, wo Frau von Passau mit ihrer Stieftochter Felicia wohnte. Die Häuserreihen lagen zunächst dem Stadtwalle, und ihre ganzen Anlagen verrieten, dass es schon zu Olims Zeiten Menschen gegeben hatte, die es vorgezogen, fern vom Gewühle des Geschäftslebens eine Wohnstätte zu suchen. Wenn auch den altertümlichen, stattlichen Gebäuden die Eleganz der Gegenwart abging, so zeigte doch gewöhnlich die innere Einrichtung jene Pracht und Bequemlichkeit, wie sie bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von reichen Leuten geliebt wurde. Hinter den Wohngebäuden dieser stillen Straße befanden sich nach gutem, alten Brauch Gärten, die bis zum Stadtwall sich ausdehnten. Schon dieser Umstand macht es begreiflich, dass Niemand gern den Wohnplatz änderte, wenn er erst heimisch daselbst geworden war. Mit der Friedlichkeit und Abgeschlossenheit der stillen Straße verbanden sich leider die Nachteile und Fehler der Unveränderlichkeit. Man lernte einander durch und durch kennen und ließ es sich angelegen sein, die gelegentliche Langeweile, in Ermangelung anderer Gesprächsstoffe, durch Nachforschungen über die Tugenden und Schönheiten, sowie über die Schicksale und Ergebnisse der Nachbarn zu vertreiben.
Frau von Passau war in dieser Straße geboren und erzogen, hatte sich dann plötzlich mit dem Wittwer, Herrn von Passau verheiratet und war dadurch vom nördlichen Ende der langen Straße nach dem südlichen Teile versetzt worden, der bei weitem hübschere Gärten und Häuser auswies, als ihr Geburtshaus. Zuerst zerbrach man sich Haus bei Haus den Kopf, was dies schöne Wesen bewogen haben könne, den alternden, kränkelnden Forstrat von Passau zu heiraten, da die Verhältnisse der jungen Dame keineswegs der Art gewesen waren, um eine Versorgung in solcher Heirat suchen zu müssen. Allein, man gab sich schließlich zufrieden, als man die Erfahrung machte, dass Frau von Passau es durchaus nicht zweckmäßig fand, die Gründe ihrer Handlungsweise zu entschleiern. Man sah, dass es der jungen Frau Ernst war, ihre übernommenen Pflichten zu erfüllen; man hatte Gelegenheit, ihre erfolgreiche Erziehungsmethode an dem etwas wilden lebhaften Töchterchen des Herrn Forstrat von Passau zu bewundern und musste endlich zugeben, dass sie treu und beharrlich bis zum Tode eine liebevolle Pflegerin des Forstrates gewesen war. Dadurch hatte sie sich einen geachteten Namen erstritten. Sie galt für eine schöne Frau, für eine kluge, gebildete, geistreiche, charaktervolle Dame und wurde weit liebenswürdiger gefunden, als ihre Stieftochter Felicia. Worin lag dies? Wahrscheinlich darin, dass Felicia durch die eiserne Beharrlichkeit ihrer Stiefmama in einer Zwangsjacke gehalten wurde, welche ihr eigenstes Wesen vollkommen erdrückte. Daraus verfiel indes Niemand, obwohl es hinreichend bekannt geworden, dass Frau von Passau mit löblicher Konsequenz aus dem verzogenen und verwilderten Kinde des verwitweten Forstrats von Passau eine ernste, sittige, geschickte und schweigsame Jungfrau gebildet hatte. Ja, es war der Konsequenz der schönen Stiefmutter wirklich vollkommen gelungen, die Vernunft und den Verstand Felicias zu wecken, ihren Geist zu kultivieren und ihre guten Anlagen zu entwickeln — ja, es war ihr gelungen, ein Muster guter Erziehung zu liefern; aber die kluge und charaktervolle Dame hatte übersehen, dass ihr Musterkind zu einer Maschine herabgewürdigt, ihre selbständige Natur verloren war, dass die Liebenswürdigkeit ihres Gemütes sich nicht entwickeln konnte. Wenn das Geschick diesen Missgriff der Erziehung nicht wieder durch geeignete Lebensverhältnisse auszugleichen suchte, so war durch menschlichen Irrtum ein prächtiges Gemüt und eine fröhliche Seele vernichtet.
Für jetzt war Felicia von Passau elegant geglättet und poliert, durch Formen gezwängt und geregelt, so dass auch nicht ein Fehler an ihr zu entdecken war. Sie trat kalt wie Eis, ruhig, besonnen, selbstbewusst und bei alledem dennoch bescheiden und schweigsam in allen Zirkeln auf, die sie mit ihrer Stiefmama besuchte, schreckte jedoch durch die Unfehlbarkeit ihrer geistigen Überlegenheit die Herzen aller Jugendgenossinnen zurück.
Auch auf die Männer erstreckte sich die Furcht vor ihrer unantastbaren Vollkommenheit, und man traf selten Jemand aus der jungen Männerwelt, der dem Reize ihres feinen, lieblichen, jedoch stets ernsten Gesichtes Gerechtigkeit widerfahren ließ.
Seit dem Tode des Forstrates zu einigen Beschränkungen gezwungen, hatten die beiden Damen die obere Etage des Hauses vermietet und bewohnten das Parterre, welches außer einem weiten, gewölbten Hausflure nur ein großes, salonähnliches Zimmer nach der Straße hatte. Frau von Passau, eine große Verehrerin des geselligen Verkehrs, der sich in Etikettenbesuchen wohlgefällt, bewohnte dies Zimmer, um stets zum Empfange zeremoniöser Visiten gerüstet zu sein. Die Dame gehörte überhaupt nicht zu jenen Frauen, die sich vornehm einrichten und doch nicht vornehm zu leben verstehen. Sie liebte die Eleganz und verstand es, ihren Verhältnissen eine entsprechende feste Gestaltung zu geben. Felicia bewohnte ein Gartenzimmer, das durch ein Seitengebäude mit dem Vorderhause verbunden, sonst aber ziemlich frei von allen Seiten lag. Von den etwas hoch belegenen Fenstern konnte man nicht allein den Passau’schen Garten, sondern auch den an die Südseite desselben grenzenden des Medizinalrates Dr. Medinger, eines weltberühmten Arztes, überblicken. Ein schmaler Steg durch die niedrige Hecke dicht unter diesen Fenstern bewies, wie häufig die Verbindung der Gärten zur Passage benutzt worden war.
Hier lebte das junge Mädchen so recht eigentlich in seinem Elemente, und wer sie hier in ihrem stillen und ernsten Schaffen beobachtete, der konnte es vollends nicht begreifen, warum sie so bleich, so verschlossen und so resigniert aussah, warum sie so unverdrossen tätig war und so pünktlich ihre Mußestunden hielt, als stände sie unter dem Drucke einer unsichtbaren Macht. Bisweilen freilich durchdrang in Momenten, wo durch ihre Lektüre oder durch ihre Musikübungen ihr Gemüt stärker bewegt war, ein Sonnenstrahl die eisige Ruhe ihres Wesens und gab ihrem Angesichte einen neuen Zauber; aber ebenso schnell verlor sich das warme Leben in ihrem Mienenspiele, und sie sank in den fast gegen Alles unempfindlichen Ernst zurück, der ihr durch eine allzu feste Konsequenz in der Erziehung zur Natur geworden war. —
Der Winter des Jahres 183. verlor allmählich seine Kraft, die Märzsonne übte schon ihren Einfluss, als die stille Straße, in der Frau von Passau wohnte, durch ein Ereignis in Aufruhr kam, das nirgend sonst von Bedeutung gewesen wäre. Es fuhr am Mittage des ersten Märztages ein Wagen so langsam, als läge ein Sterbender in demselben, die Straße entlang und hielt vor der Türe des Medizinalrates Medinger still. Der Wagen musste erwartet sein, denn der Herr Medizinalrat erschien sofort auf der Schwelle, trat mit mehr Wohlwollen, als er sonst zu zeigen pflegte, an den Wagen und richtete einige freundliche Bewillkommnungsworte an den Insassen.
Nicht lange, so wurde der Kopf eines jungen Mannes sichtbar, der Wagenschlag wurde geöffnet, und es stieg, zwar langsam und bedächtig, aber ohne alle Hilfe, eine schlanke Männergestalt aus dem Wagen. Der Medizinalrat bot dem Aussteigenden den Arm, und so schritten sie Beide ins Haus.
Kaum war der junge Mann verschwunden und der Wagen im vollen Trabe die Straße hinab gejagt, so brach nach alter Gewohnheit ein Sturm von Fragen los. Leider konnte Niemand Auskunft geben.
Es verging ein Tag nach dem andern, ohne dass man erfuhr, wer dieser Fremde sei und was ihn ins Haus, also wahrscheinlicher Weise in die Kur des Medizinalrates geführt habe. So fein man auch forschte, um vom alten Medinger selbst Aufklärungen über seinen geheimnisvollen Patienten zu erhalten, es war vergeblich. Schließlich wurden die Forschungen in einer Manier vom bösen alten Doktor abgefertigt, die eine zweite Erkundigung unmöglich machte. Diese Grobheit trug Früchte: Man fing an, den fremden Mann, der bei gutem Wetter täglich eine Promenade im Medinger’schen Garten machte, zu bekritteln. Spöttische Bemerkungen wurden laut. Dem Manne fehlte ja nichts! Der Argwohn nahm die Stelle der Teilnahme ein. Der Verdacht erhielt Nahrung, als man gewahrte, der fremde Mann bekomme weder Briefe, noch sende er welche fort. Die Geschichte fing sogar an, grausig zu werden. Man sah ihn nämlich im Garten wandeln, gefolgt oder bewacht von dem großen, schwarzen Hunde des Arztes, der, wie man sagte, Menschenverstand besaß, — man hörte ihn mit diesem klugen Tiere sprechen — man hörte ihn seufzen, als drücke ihn ein inneres Leiden, seine Einbildung oder die Folge eines bösen Gewissens. Scharfsinnige Mutmaßungen durchliefen bald die Häuserreihen der stillen Straße, ohne jedoch darüber hinaus zu dringen. Felicia sowohl als ihre Stiefmutter erfuhren natürlich Alles, obwohl sie nicht fragten. Die junge Dame hatte den Fremden schon mehrmals im Garten gesehen, auch sehr gleichgültig die Bemerkung gemacht, dass er finster und schwermütig aussehe. Sonst schenkte sie diesem Ereignisse weiter keine Aufmerksamkeit, was sieh indes bald ändern sollte. —
Es verflossen mehrere Wochen. Der Winter schien sich zum Abschiede zu rüsten. Sonnige Tage und warme Lüfte lösten den Schnee auf und bereiteten allmählich den Tag vor, der nach dem Kalender Frühling verhieß. Felicia liebte das leise Erwachen der schlummernden Natur. Sie konnte kaum die Zeit erwarten, in der das Gras keimen und die Knospen an den kahlen Bäumen schwellen würden.
Ihr Gemüt war noch nie so bewegt gewesen, wie in diesem Jahre, aber sie ließ es Niemand merken. Woher es kam, dass sie jetzt öfter mit Interesse den Weg des fremden Mannes verfolgte, wenn er, immer gleichmäßig langsam, zwischen den Sträuchern des Medinger’schen Gartens lustwandelte, davon gab sie sich keine Rechenschaft. Verstohlen schob sie die Gardinen, die ihr Fenster verhüllten, zurück und suchte aus seinen Mienen die Ursache seiner trüben Seelenstimmung zu entziffern. Er sah sie ja nicht. Sein Blick senkte sich stets zu Boden. Aber dann — eines Tages, wo sie es gar nicht erwartet hatte — da schaute er plötzlich auf, und da war es ihr, als überflöge ein Schimmer ruhiger Freundlichkeit das finstere, bleiche Gesicht.
Jetzt allerdings musste sie das Studium seines Mienenspiels einstellen. Ihr Auge blieb schüchtern gesenkt, wenn der Fremde den Weg heraus kam, von wo er ihre Fenster sehen konnte. Sie kämpfte gegen die Empfindung der Teilnahme, die sie antrieb, ihm durch einen Blick ihre Sympathie für seine Leiden auszudrücken. Die Regungen des Gemüts lassen sich jedoch nicht immer unterdrücken, und endlich vermochte das junge Mädchen nicht zu widerstehen, als ihr Herz sie bestimmte, ihr Auge mit dem vollen Ausdruck von Güte zu dem armen, einsamen Manne emporzuschlagen. Da grüßte er sie! Sie neigte mit holder Freundlichkeit ihr Haupt zum Gegengruß und empfing nun täglich diesen stummen Beweis einer leichten Aufmerksamkeit, seitdem regte ihre Phantasie stürmisch die Flügel. Wünsche, die durch eine so gewöhnliche Höflichkeitsbezeugung schwerlich gerechtfertigt wurden, erstanden in ihrer Seele. Sie nahm als gewiss an, dass der Mann Schweres erlebt hatte und des Trostes bedürftig war. Ihre Gedanken schweiften in die nächste Zukunft, wo auch sie gewohnheitsmäßig im Garten promenieren werde, und wo ein Zusammentreffen so leicht möglich sei. Der Weg unter ihren Fenstern erleichterte ja die Communication. — Als hätte der Fremde ihren Gedankengang belauscht wollte er ihr zeigen, dass er diesen Weg längst beachtet, daran Pläne geknüpft habe, so urplötzlich verließ er im Momente ihrer Träumerei den breiten im Medinger’schen Garten und lenkte seine Schritte geradewegs ihren Fenstern zu. Felicia schreckte ahnungsvoll zusammen und richtete errötend ihr Auge auf ihn.
Der Fremde nickte zutraulich und hielt ihr einen Gegenstand hin, Felicia öffnete rasch und ohne Besinnen das Fenster. Er reichte ihr stumm ein Schneeglöckchen dar, das erste, welches seinen Kelch den Sonnenstrahlen des beginnenden Frühlings geöffnet hatte. Mit einem unbeschreiblichen Gefühle nahm die junge Dame die kleine Blume und drückte in einer ihr selbst unverstandenen Wallung des Herzens ihre Lippen auf das zarte Kind des Frühlings. Der Fremde vor ihrem Fenster lächelte wie ein Vater über die Exaltation seines Töchterchens und schritt schweigend von dannen.
Durch diesen feierlichen Moment wurde Felicia aus ihrem winterlichen Kinderschlafe erweckt. Sie begrüßte das erwachende Leben der Natur mit der Hoffnung auf ein noch unbekanntes Glück — sie atmete ahnungsvoll den balsamisch erquickenden Duft des Frühlings ein — sie verstand und begriff plötzlich die süßen Melodien, unter deren Gesange die Lerchen sich zum Himmelsgewölbe aufschwangen. Es wollte Frühling werden! Das Schneeglöckchen hatte es ihr verheißen.
Aber der Frühling ist launenhaft! Ein kranker Mann ist ebenfalls launenhaft! Beide leiden an Rückfällen in Kälte und Trübsinn. Drohende Wolken folgten bald diesen sonnenhellen Tagen, wo das Schneeglöckchen erblüht war —finstere Gleichgültigkeit und schwermütige Verstimmung machten den fremden Herrn teilnahmslos gegen die liebevolle Güte, womit ihm Felicia entgegenschaute. Er schritt achtlos an ihren Fenstern vorüber, er schaute niemals auf zu ihr.
Danach traten Tage mit Schneestürmen ein, die dem Erwachen der Natur Schranken setzten und einem Patienten die Promenaden verleideten. .
Als endlich der März zu Ende ging, erhob die Sonne siegreich ihr Panier; aber der fremde Mann im Hause des Medizinalrates Medinger erschien nicht wieder im Garten, und man flüsterte sich in der stillen Straße das wichtige Geheimnis zu, dass der junge Doktor Boltmann, ein äußerst geschickter Operateur, täglich im Medinger’schen Hause verkehre und lange Konferenzen mit dem alten, mürrischen Arzte habe.