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ОглавлениеDES TEUFELS RECHTE HAND
Das kleine Einmaleins des Keith Richards
Den einen gilt der Gitarrist der Rolling Stones als schlampiges Genie, den anderen allenfalls als geniale Schlampe. Unnachahmlich brachte es Keith Richards einst selbst auf den Punkt: »It’s five strings, three chords, two fingers and one asshole!« Der Reihe nach…
One Asshole - Keith Richards: »Wäre ich nicht ein erfolgreicher Musiker geworden, ich hätte wohl als Gammler geendet, aber als einer mit Niveau.« Eine charmante Selbsteinschätzung, die als Schlüssel gelten darf zur Persönlichkeit dieses Mannes, den ein Musikerkollege mal einen »Muddy Waters in the making« nannte. Richards, geboren mitten im vom Naziterror geprägten englischen Kriegswinter 1943, hat sich bis auf den heutigen Tag sein ebenso einfaches wie pointiertes Weltbild bewahrt. Hitlers Bombardements nahm er persönlich, noch heute erzählt er gerne, dass »der Führer hinter mir her war, kaum dass ich auf der Welt war«. Tatsache (oder schöne Legende): Als Klein-Keith in seinem ersten Jahr mit Mama Doris vom Einkaufen zurückkehrte, fand er sein Elternhaus zerstört – eine V1 war buchstäblich in Keiths Kinderbett detoniert. Unser Held war knapp davongekommen.
Ähnlich betrachtet Richards auch seinen mehr als zwei Dekaden währenden Zermürbungskrieg mit der Staatsmacht diverser Länder: »Ich war eine ganze Zeit lang die Nr. 1 auf ihrer Liste!« Mal erteilten sie ihm, wie einst in Frankreich, Einreiseverbot; mal zerrten sie ihn, wie im heimischen England, vor den Kadi und steckten ihn 1967 gar in den Knast; mal buchteten sie ihn, wie 1972 in den USA, ein, weil er sich mit einem Bullen geprügelt hatte; und zu guter Letzt, 1977 in Kanada, nahmen sie ihn hoch und klagten ihn des Drogenhandels an, was bekanntlich um ein Haar zu einer mehrjährigen Haftstrafe geführt hätte. Keith gegen den Rest der Welt – so lief das, zumindest aus Sicht des notorisch eigensinnigen Instinktmenschen Richards, dessen Moralkodex schon immer näher an dem eines Karibik-Piraten als dem des durchschnittlichen Westeuropäers orientiert war.
Seit Mr. Rock’n’Roll allerdings in die Jahre gekommen und inzwischen gar Großvater geworden ist, hat sich auch sein Verhältnis zur Obrigkeit geändert: »Heute wollen sie Autogramme von mir«, grinst der mittlerweile 66-Jährige. Dass er trotzdem nach wie vor von Dämonen getrieben ist, ahnt jeder, der zum Beispiel Losing My Touch, seine düster in Verlust und Paranoia getauchte Ballade vom Jubiläumsalbum 40 Licks, mal genauer anhört. Nicht umsonst nannte ihn Ober-Satanist Kenneth Anger mal »des Teufels rechte Hand«. Soweit das öffentliche Image. Dahinter indes verbirgt sich eine komplexe Persönlichkeit, die selbst engsten Freunden mitunter verschlossen bleibt. So dürfte es nicht nur Stones-Novizen überraschen, dass Keiths Alter Ego Mick Jagger den Mann, der für Legionen von Gitarristen das supercoole Rollenmodell abgab, auch heute noch als »extrem schüchternen Menschen« einschätzt, »der unter Leuten nicht wirklich aus sich herauskommt«, wie der Sänger in der DVD-Dokumentation Four Flicks wissen lässt. Die 2007 im Alter von 91 Jahren verstorbene Mutter Doris plauderte schon vor langer Zeit aus, dass die lebendigste Leiche des Rock’n’Roll »etwas von einem Muttersöhnchen« hatte. Andererseits zögert Richards keine Sekunde, etwa ungebetenem Besuch aus dem Publikum auf der Bühne eigenhändig mit der geschwungenen Telecaster den Scheitel zu ziehen.
Mit zunehmendem Alter hat der ein Leben lang durch die Welt zigeunernde Richards zudem die Werte der Familie entdeckt. Seit Jahren schon lebt er mit Frau und Kindern in einem Refugium bei Weston im US-Bundesstaat Connecticut. Mit Ehefrau Patty Hansen, einem ehmaligen Fotomodell, hat er nunmehr 26 gemeinsame Ehejahre hinter sich – für einen Mann, der in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor als Synonym für die Dreifaltigkeit von Sex & Drugs & Rock’n’Roll steht, eine überraschend lange Zeit. Es sieht so aus, als sei die Familie dem Gitarristen zur unverzichtbaren Stütze und Kraftquelle geworden. Er selbst beschreibt es in der ihm typischen Mischung aus Pragmatismus und Philosophie: »Wenn du die Chance hast, es mal auszuprobieren, mach es, denn es ist eines der speziellsten Dinge, die du auf dieser Erde erfahren kannst. Es ist das letzte fehlende Teil des Puzzles, das dir zeigt, worum es im Leben geht.«
Ein Mann mit vielen Facetten also – der als Musiker zu einem der großen Originale der Rock-Ära wurde. Wer, wie die britische Journalistin Barbara Charone schrieb, »mit fünf um alles in der Welt Roy Rogers« sein wollte, einem britischen Gericht ins Protokoll diktierte, dass er nicht beabsichtige, »über die Armseligkeit der herrschenden Moral zu streiten« und überdies auf seine Plektren die Worte »Ich bin unschuldig« drucken ließ, der schlägt sich auch als Künstler seinen ganz eigenen Pfad durch das Dickicht der Möglichkeiten und Irrwege.
Two Fingers - Richards’ Spiel: 1958, mit 15 Jahren, bekommt der halbwüchsige Keith seine erste Gitarre – und er wechselt an die Sidcup Art School, eine der berühmt-berüchtigten englischen Kunstschulen jener Tage, wo das Lehrpersonal offenbar nicht sonderlich daran interessiert ist, was die Schüler im Unterricht treiben. Keith jedenfalls nutzt seine drei Jahre dort, um intensivst seinen Chuck Berry zu lernen und sich zudem mit authentischem US-Blues vertraut zu machen, bis heute die zwei tragenden Säulen seines Spiels. Der frühe Keith reproduziert zunächst, was er von seinen Vorbildern gelernt hat. Dabei klingt er gelegentlich noch etwas ungestüm, hektisch und vermasselt den einen oder anderen Ton, schön zu hören im Solo bei Little By Little vom ersten Album der Band. Aber er hat auch schon große Momente, etwa in It’s All Over Now vom Juni 1964, an dessen Solo sich nach eigenem Eingeständnis Kollege Springsteen in seinem Jugendzimmer im fernen Freehold, New Jersey, seinerzeit die Finger blutig übte. Richards’ Gefühl für rhythmisch prägnante Melodieriffs allerdings wird schon in dieser, stilistisch noch wenig ausgeprägten Frühphase deutlich.
Nach den Aufnahmen zu Between The Buttons (1967) kommt es zur entscheidenden Wende in Keiths Spiel. Erstmals seit Jahren in der Tour-Platte-Tour-Tretmühle hat er wieder Zeit, Musik zu hören. Er beschäftigt sich intensiv mit sehr frühem Blues, entdeckt Charley Patton und Robert Johnson und noch einiges mehr: »Mein Spiel blieb irgendwie auf der Stelle stehen – und ich auch«, wie er dem britischen Journalisten David Dalton erzählte. »Als ich dann damit anfing, in ein paar alte Blues-Platten aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren reinzuhören, fielen mir diese merkwürdigen Gitarrenstimmungen auf. Da hatten diese Burschen irgendwann einmal eine Gitarre in die Finger gekriegt, und oft war sie halt irgendwie gestimmt, und so lernten sie, darauf zu spielen.«
Außerdem beginnt Richards, mit anderen Musikern zu arbeiten. Einer von ihnen: Ry Cooder, der sich da schon intensiv mit früher US-Folklore beschäftigt hat. Von ihm lernt er die damals im Pop noch ungebräuchlichen und allenfalls von Slide-Gitarristen benutzten offenen Stimmungen in G-, D- und E-Dur. Erstmals setzt er diese Tunings auf Beggars Banquet (1968) ein. Es ist das erste Album, das er als Gitarrist mehr oder weniger alleine bespielt, denn Kollege Brian Jones hat zu diesem Zeitpunkt das Interesse an den sechs Saiten längst verloren. Sein einzig nennenswerter Beitrag sind die markanten Bottleneck-Licks auf No Expectations.
Bestes Beispiel für Keiths Power Chords im Open Tuning: Street Fighting Man, das mit verfremdet aufgenommenen Akustikgitarren eingespielt wurde. Oder Jumpin’ Jack Flash, das er in Open D spielt. Honky Tonk Women (1969), angeblich von Cooder inspiriert, ist indes ein frühes Beispiel für die offene G-Stimmung. Ein weiteres Charakteristikum von Richards’ Spiel ist hier erstmals in Reinkultur zu hören: das lose improvisierte, von Pausen geprägte Akkordspiel, nur verbunden durch sparsam gesetzte Licks. Das einfache Allerwelts-Akkordgerüst des Songs erhält so eine unverkennbare, dynamische Riff-Struktur. Das Prinzip ist ähnlich wie beim Malen nach Zahlen, nur dass Richards bewusst die eine oder andere Zahl umgeht. Die Licks in Honky Tonk Women dokumentieren überdies auch Richards zunehmendes Interesse an Countrymusik – die noch junge Freundschaft zu Gram Parsons beginnt erste Früchte zu tragen. Dessen Einfluss wird allerdings erst auf späteren Songs wie Wild Horses (1971), gespielt mit einer Akustikgitarre im so genannten Nashville-Tuning, oder dem grandiosen Torn And Frayed vom 1972er-Meisterwerk Exile On Main St. deutlich.
In den Jahren zwischen 1968 und 1972 integriert Richards nicht nur neue Tunings in sein Spiel, er findet auch seine ganz eigene Sprache als Gitarrist. Wo andere mit abgefahrenen Sounds experimentieren (Jimi Hendrix) oder neue Maßstäbe in Sachen Virtuosität setzen (Jimmy Page, Jeff Beck, Eric Clapton), stellt Richards sein Spiel ausschließlich in den Dienst des Songs, beschränkt sich auf einfachste Mittel und versucht, das Spektrum seiner Möglichkeiten innerhalb der formalen Limitierungen des Blues-geerdeten Rock zu erweitern. Mit seiner Gitarre wird er nicht zum gefeierten Neuerer, sondern zum Stilisten mit ureigener Handschrift. Songs wie Brown Sugar, Gimme Shelter oder das archetypische Start Me Up sind in ihrer souveränen Beschränkung aufs Wesentliche und mit ihrem traumwandlerisch sicheren Drive von keinem anderen Gitarristen denkbar. Dabei ist diese Sorte Trademark-Riffs nicht mal das einzig Charakteristische an Richards’ Spiel. Er entwickelt zudem einige Marotten, etwa die immer wiederkehrenden typischen Sus4-Vorhalte im Akkordspiel. Und, allerdings erst in späteren Jahren, die gerade bei Balladen gern abenteuerlich knapp am »korrekten« Ton vorbeigezogenen Bendings (wunderbar zu hören auf Sleep Tonight, 1986).
Seit den Siebzigern hat sich an Richards’ Gitarrenstil nicht viel geändert, und seinem Vokabular hat er seit den Tagen von Jumpin’ Jack Flash, abgesehen von Details, nicht allzu viel hinzugefügt. Warum auch – Richards’ Stil ist längst unverkennbar. Dabei hat er nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihm Virtuosität ohnehin vollkommen egal ist. Heute geht es ihm darum, mit seinen Mitteln, und dazu gehört auch seine Band, seine ganz eigene Vision von Rock’n’Roll umzusetzen.
Three Chords - Richards’ Musik: Als Keith Richards 1962 mit Mick Jagger und Brian Jones die Rolling Stones gründet, lernt er von Letzterem, einem damals puristischen Blues-Apostel, jede Menge über den Chicago Blues, studiert die alten Meister von Jimmy Reed über Muddy Waters bis hin zu Slide-As Elmore James. Der junge Chuck-Berry-Freak dringt so immer tiefer ein in die damals für einen weißen britischen Jugendlichen noch reichlich mysteriöse Welt der schwarzen Musik. Und – von nicht zu unterschätzender Bedeutung – Richards und Jones entwickeln eine grundlegende musikalische Idee der Rolling Stones: Sie verweben ihre Gitarren miteinander, bis die zwei Instrumente wie eins klingen. Richards selbst erklärte das später so: »Ab einem gewissen Punkt weißt du nicht mehr, wer was macht. Da ist nichts mehr auseinander zu halten.« Die frühen Stones sind eine astreine Zwei-Gitarren-Band, die sich einen Dreck um die klassische Aufteilung von Rhythmus- und Leadspiel kümmert. Richards: »Du kannst ja auch nicht in einen Laden gehen und eine Leadgitarre kaufen. Du bist Gitarrist und spielst Gitarre.« Jeder macht alles, mal spielt der eine ein paar Slide-Licks, mal der andere ein paar Boogie-Muster. Exemplarisch für dieses frühe Zusammenspiel der String Twins Jones/Richards: It’s All Over Now von 1964, wo Jones’ cleane Akkorde und Richards’ sauber gehackte Rhythmus-Riffs fast unentwirrbar zusammenfließen.
Interessanterweise verliert Richards genau in dem Moment seinen kongenialen Gitarrenpartner Jones, als er beginnt, seinen musikalischen Horizont und damit seine Fähigkeiten als Gitarrist zu erweitern. Der Neue bei den Stones, der 1969 angeheuerte, trotz seiner jungen Jahre mit allen Blueswassern gewaschene Mick Taylor, entspricht eher dem klassischen Typus des Leadgitarristen. Sein Ton ist elegant, sein Spiel virtuos, seine Technik brillant. Der Vorteil: Richards lernt jede Menge von Taylor. Und er kann in den späten Sechziger-, frühen Siebzigerjahren, ungestört vom weit unten in der Bandhierarchie angesiedelten Gitarrenpartner, seine Architektur des Stones-Sounds weiterentwickeln. Wie sehr die Band musikalisch Richards’ Vision entspricht, zeigt sein gebetsmühlenartig wiederholtes Bekenntnis: »Wozu sollte ich ein Soloalbum machen? Es würde sich doch nur wie ein Stones-Album anhören.« Erst 1987 nimmt er aus Frust über Jaggers Solo-Eskapaden seine eigene Soloplatte in Angriff.
Der Nachteil im Zusammenspiel mit Mick Taylor: Zwar schätzt Richards dessen Virtuosität sehr wohl, allerdings muss er sich neben dem begnadeten Solisten zwangsläufig wieder eher auf die Rhythmusarbeit beschränken und mit der statischen Aufteilung in Lead- und Rhythmusgitarre abfinden. Seit Ron Wood den 1974 ausgestiegenen Taylor ersetzt hat, kann Richards seine ursprüngliche Idee der ineinanderfließenden Gitarren oder »ancient form of weaving«, wie er es nennt, wieder verfolgen. Er erklärt den Unterschied zwischen Taylor und Wood so: »Mick gehört zu den Gitarristen, mit denen man nie das hinbekommt, was mit Ronnie möglich ist, nämlich sich gegenseitig die Bälle zuzuspielen.«
Konzert in der Berliner Waldbühne, 1998: Die Stones spielen Thief In The Night, die Tonart ist eine gebräuchliche, G-Dur. Richards singt und streut zwischen die Akkorde seine typischen Licks. Plötzlich verrutscht er um einen ganzen Bund nach oben, spielt exakt einen Halbton über dem Rest der Band – mit entsprechend misstönendem Effekt. Erschrockene Gesichter allenthalben, Keith grinst linkisch, schlendert zurück in die zweite Reihe. Wenige Monate später: Der Autor interviewt den Meister in New York. Frage: Wie kommt es, dass dir nach all den Jahren solche Anfänger-Fehler unterlaufen? Keith: »Du glaubst gar nicht, wie nass so ein Griffbrett sein kann, wenn es regnet.« Aber Keith, in Berlin war bestes Sommerwetter! »Okay, hör zu: Auf der Bühne zählt nur der Moment! Im Unterschied zum Studio hast du dort nur einen Take. Live spielen ist eben gefährlich, jederzeit kann etwas schief gehen. Vielleicht macht es ja deshalb soviel Spaß.« Eine Anekdote, die Richards’ Philosophie als Musiker auf den Punkt bringt. Wer braucht auswendig gelernte Kunststücke? Wer will dröges Handwerk mit Netz und doppeltem Boden? Richards’ Attitüde ist die des Jazzers. Eine Haltung, die sich auf den von biederen Akkordarbeitern und eitlen Posern dominierten Rockbühnen dieser Welt nur noch selten findet. Und die sich zum Beispiel in den Sessions auf Four Flicks (Extreme Western Grip, Well Well) in Reinkultur und phasenweise natürlich bei den Konzerten beobachten lässt (in dieser Hinsicht unbedingt zu empfehlen: Martin Scorseses meisterhaftes Stones-Porträt Shine A Light von 2008). So betrachtet, sind die Rolling Stones im tiefsten Grunde ihres Herzens eine Jazzband und Keith Richards näher an Louis Armstrong als an Jimi Hendrix oder Stevie Ray Vaughan. Darin ist er Leuten wie John Lee Hooker oder Muddy Waters, die sich um das klassische Bluesschema nie sonderlich scherten, nicht unähnlich.
Five Strings - Richards’ Gitarren: Das Image vieler klassischer E-Gitarrenhelden ist entweder mit der Fender Stratocaster oder Gibsons Les Paul verbunden. Jimi Hendrix, Eric Clapton, Jeff Beck und Rory Gallagher selig etwa gehören zur Strat-Fraktion, Jimmy Page, Paul Kossoff und Duane Allman, um nur ein paar zu nennen, sind Paula-Fans. Mit der Fender Telecaster indes sind, wenn wir von Status Quo und weniger bekannten Virtuosen wie Roy Buchanan oder Mick Ronson mal absehen, eigentlich nur zwei Leute wirklich berühmt geworden: Bruce Springsteen und Keith Richards – beide übrigens Spieler, die weniger Wert auf Virtuosität sowie klang- und spieltechnische Innovation legen als auf einen klaren Vintage Sound. Dabei kommt Keith erst spät auf den Geschmack. Als er die Tele für sich entdeckt, müssen sich die Stones schon Rock-Opas schimpfen lassen. Denn erst ab der 1972er-US-Tournee setzt Richards diese älteste in Serie gebaute E-Gitarre regelmäßig auf der Bühne und im Studio ein.
Vorher, in den Sechzigerjahren, benutzt er andere Gitarren. Zunächst, in den frühen Jahren, eine Harmony Meteor Sunburst, eine damals preiswerte US-Alternative zur teuren Gibson 335. Ab etwa 1965 wird Richards, wie auch die Beatles, von Epiphone mit dem damals populären Casino-Modell ausgestattet, im Prinzip auch dies eine 335-Variante, allerdings ohne Sustainblock und mit P-90-»Eselsohr«-Pickups statt Humbuckern. Wenig später dann besitzt er seine erste Les Paul, eine Standard Sunburst mit Bigsby-Vibratosystem aus den späten Fünfzigerjahren. Die Les Paul gehört für die nächsten Jahre zu seinen Hauptinstrumenten, häufig benutzt er zudem eine schwarze Les Paul Custom, die so genannte »Black Beauty« mit drei (!) doppelspuligen Tonabnehmern, zu hören auf Beggars Banquet. Etwa zur selben Zeit stößt er überdies auf ein obskures Instrument, die nach seinem Erfinder Dan Armstrong benannte Plexiglas-E-Gitarre aus dem Hause Ampeg. Sie gehört neben den Les Pauls für einige Jahre zu seinem Standard-Handwerkszeug. Heute wird die Ampeg Dan Armstrong übrigens wieder hergestellt, Ron Wood benutzt sie gelegentlich, und auch Dave Grohl spielt eine.
Als Richards ab Ende der Sechzigerjahre häufiger mit offenen Tunings spielt, ärgert er sich darüber, dass die im G-Tuning um einen Ganzton heruntergestimmte dicke E-Saite wegen ihrer nun sehr geringen Spannung reichlich störend dröhnt. Keiths Lösung: Weg damit! Zumal drei Dominanten im Akkord eine zuviel sind. Folgerichtig taucht die Idee auf, eine echte Fünf-Saiten-Gitarre zu bauen, die es bis dahin nicht gibt.
Während der Aufnahmen zu Exile On Main St. lernt Keith den Gitarrenbauer Ted Newman-Jones III kennen, dem er den Auftrag gibt, ein solches Instrument zu bauen. Die Schwierigkeit dabei: Eine Fünfsaitige braucht nicht nur fünfpolige Tonabnehmer, sie benötigt auch einen speziellen Sattel, eine spezielle Bridge und womöglich auch eine andere Griffbrett-Breite. Richards spielt das Wunderwerk aus der Werkstatt von Newman-Jones eine Zeit lang, unter anderem auf der US-Tournee 1972, allerdings wird die Gitarre sehr bald gestohlen. Seit Mitte der Siebzigerjahre kristallisiert sich aber immer stärker Richards’ Vorliebe für die klobige und an sich wenig vielseitige Telecaster heraus. Sein favorisiertes Exemplar blieb bis heute ein butterscotch-blondes Modell aus den frühen Fünfzigerjahren, das er auf den Namen »Micawber« tauft. Er benutzt sie ausschließlich für Songs in Open G. Ihre Besonderheiten: Sie hat im Unterschied zum Serienmodell einen PAF Humbucker in der Halsposition, nachträglich eingebaute Mechaniken sowie eine nicht originale Messingbrücke.
Bis in die Achtzigerjahre benutzt er zudem oft eine schwarze Telecaster Custom von 1972. Sie, »Micawber« und Keiths zweitliebste Tele (»Malcolm«), ebenfalls aus den Fünfzigern, jedoch mit Naturfinish, sowie eine weitere Sunburst Tele, Baujahr 1967, gehören bis heute zu seinen wichtigsten Bühnengitarren. Für Standardstimmungen hat er lange Zeit, von 1989 bis 1995, eine weiße Music Man Silhouette, eingesetzt, der er immerhin attestiert, es qualitätsmäßig als erste Gitarre seit Jahrzehnten mit den Fünfzigerjahre-Klassikern von Fender und Gibson aufnehmen zu können. Während der letzten Welttourneen sieht man ihn immer häufiger mit zwei Gibson Semi Acoustics. Die eine ist eine Cherry Red ES-355, die andere eine schwarze ES-355 (mit großem Crown Inlay am Headstock). Beide Gitarren sind mit Bigsby-Systemen ausgestattet. Keith benutzte die 355 auf der Licks-Tour besonders gerne, etwa bei Songs wie Gimme Shelter, It’s Only Rock’n’Roll, Satisfaction oder Rock’s Off. Überdies nimmt er auch hin und wieder eine Stratocaster in die Hand, eine Mary Kay-Strat von 1958, die er einst Ron Wood abkaufte und schon im Chuck Berry-Film Hail! Hail! Rock’n’Roll (1987) benutzte. Bei Songs wie Midnight Rambler setzte Keith zuletzt auch gerne eine 59er-Les Paul Junior mit Double Cutaway ein.
Noch ein Wort zu den aktuell verwendeten Verstärkern: Seit der Bridges To Babylon- und No Security-Tour (1998/99) hat Keith an seinem Set Up nichts Wesentliches verändert. Grundsätzlich lässt sich dazu sagen: Vintage-Technik für -Sound, am besten, man hört das uralte Holz förmlich mitschwingen. So spielt Richards über zwei betagte Fender Twin Reverbs aus den Fünfzigerjahren, der eine mit Tweed bespannt, der andere mit einem in den frühen Sechzigerjahren gebräuchlichen Material, Brown Tolex. An beide Verstärker hängt er 4x12 Mesa Boogie-Boxen. Zudem hat er auf Tour auch noch einen 1956er-Fender Bassman mit vier 10-Zoll-Lautsprechern sowie, für etwas schmutzigere Sounds, ein Marshall Top-Teil an Bord. Im Studio hingegen experimentiert er gerne auch mit alten Vox- und Marshall-Amps.
Empfehlenswert:
Forty Licks (Rolling Stones Compilation)
Die bislang einzige labelübergreifende Kompilation, die das Beste der Rolling Stones von den Anfängen in den Sechzigerjahren bis ins neue Jahrtausend zusammenfasst. Die Band veröffentlichte diese Sammlung aus Anlass ihres 40-jährigen Bestehens im Jahre 2002, das mit entsprechend großer Welttournee gefeiert wurde. Nichts zu hören gibt’s daher vom 2005er-Album A Bigger Bang. Ansonsten aber findet sich unter den 40 Songs fast alles, was die Stones berühmt gemacht hat, von den frühen Monster-Hits wie Satisfaction, Get Off Of My Cloud und The Last Time über die großartigen Singles der mittleren Phase, zum Beispiel Honky Tonk Women, Jumpin’ Jack Flash und Brown Sugar, bis hin zu den späteren Großtaten Miss You, Start Me Up und Anybody Seen My Baby. Dazu gibt’s drei zum Veröffentlichungszeitpunkt des Albums neue Songs, von denen die weltmüde Richards-Ballade Losing My Touch am ehesten überzeugt. Der perfekte Überblick für Stones-Novizen.
Talk Is Cheap (Soloalbum, 1988)
Mitte der Achtzigerjahre hing der Haussegen im Lager der Glimmer Twins mächtig schief: Mick Jagger war auf Solotournee und hatte das Interesse an den Stones vorübergehend verloren, Keith Richards reagierte sauer und stellte seinerseits eine eigene Band zusammen. Mit Koryphäen wie Drummer Steve Jordan, Gitarrist Waddy Wachtel und Bassist Charley Drayton spielte er dann sein Solodebüt Talk Is Cheap ein – eine ruppige Reise durch den musikalischen Kosmos des legendären Gitarristen, die deutlich zeigte, wer das musikalische Herz der Rolling Stones ist. Knorriger Rock (Take It So Hard) wechselt hier mit rustikalem Funk (Big Enough), vitalem Rockabilly (I Could Have Stood You Up) und herzlichem Memphis Soul (Make No Mistake). Das vielleicht beste Soloalbum eines Rolling Stone, dem man auch heute nicht anhört, dass es bald 25 Jahre auf dem Buckel hat.
Gimme Shelter (DVD)
Eine faszinierende Momentaufnahme der Rolling Stones zu Beginn ihrer klassischen Phase, als Mick Taylor Brian Jones an der Gitarre abgelöst hatte. Im Novenber 1969 ging die Band zum ersten Mal seit drei Jahren wieder auf Tournee, im Gepäck hatte sie neben den alten Hits wie Under My Thumb und Satisfaction das bärenstarke Repertoire ihrer beiden Alben Beggars Banquet und Gimme Shelter. Nie zuvor spielten die Stones so gut, und nicht wenige meinen, dass sie danach nie besser waren. Das auf CD nachgereichte Vinyl-Dokument Get Yer Ya-Ya’s Out jedenfalls gilt bis heute als bestes Livealbum der Band (inzwischen auch als aufwändiges CD-Boxset mit Bonustracks sowie Teilen des Vorprogramms von B. B. King und Ike & Tina Turner erhältlich). Genauso allerdings ist Gimme Shelter auch eine faszinierende Momentaufnahme der westlichen Jugendkultur, deren Flower-Power-Illusionen in diesem Herbst 1969, wenige Wochen nach Woodstock, in der aufgeladenen Atmosphäre des Altamont-Festivals in einer Orgie von Gewalt, schlechten Drogen und allgemeiner Hysterie platzten. Noch heute bedrückend sind die Aufnahmen des dortigen Stones-Konzerts, die zeigen, wie der 18-jährige Meredith Hunter wenige Meter vor der Bühne von Hell’s Angels ermordet wird. Einer der wohl interessantesten und spannendsten Musikfilme aller Zeiten.