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MR. TAMBOURINE MAN

Das zweite Leben des Bob Dylan

»How does it feel to be on your own, with no direction home, like a complete unknown, like a rolling stone?« Wir wissen nicht, ob sich Bob Dylan Mitte der Achtzigerjahre diese Frage aus seinem wohl berühmtesten Song selbst gestellt hat. Wenn, dann dürfte die Antwort deprimierend ausgefallen sein: einsam, hilflos, verkannt. Zwei Jahrzehnte nach seinen eindrucksvollsten Triumphen fühlte sich die größte aller Pop-Legenden künstlerisch tot. Sicher, immer noch brachte er regelmäßig neue Platten heraus, und immer noch war er auf Tournee. Aber er hatte den Kontakt zu sich selbst, zu seinen Songs, zu seiner inneren Flamme verloren. Und die, die ihn da draußen sehen wollten, schienen das zu spüren, sie wurden weniger, unaufhaltsam. Er wusste es, und er verzweifelte daran.

Er war der Big Boss Man des Sixties-Pop gewesen, der »Picasso of song«, wie ihn Leonard Cohen einmal nannte. Im Alleingang hatte dieser Messias der Jugendkultur die Poplyrik auf literarisches Niveau gehievt und damit eine Revolution in der Unterhaltungsmusik ausgelöst. Die Textzeilen seiner bekanntesten Songs wie Like A Rolling Stone, Mr. Tambourine Man oder Blowin’ In The Wind nahmen der Baby-Boomer-Generation gleichsam das Denken ab. Was Dylan sang, war ideologisches Gesetz, auch wenn er genau das monierte – »don’t follow leaders, watch the parkin’ meters«. Gegen alle Widerstände riss er dazu die Grenzen zwischen Folk und Rock ein und inspirierte eine Generation von nachfolgenden Musikern. Sein Auftreten, seine Songs und seine Haltung machten ihn zur alles überstrahlenden Leitfigur und etablierten den neuen Typus des unabhängigen und emanzipierten Popkünstlers.

All das hatte er in seinen Zwanzigern erreicht. Kaum auf dem Gipfel, schlug er freilich schon den ersten Haken. Zum Ende dieses turbulenten Jahrzehnts initiierte er mit seiner Hinwendung zum Country eine Rückbesinnung des Rock auf die musikalischen Wurzeln und entwickelte obendrein eine mürrische Kauzigkeit, die so gar nicht zur »Love & Peace«-Euphorie seiner Anhänger passen wollte. In seinen Dreißigern bereits wirkte Dylan wie ein Fossil, ein Frühvollendeter, dessen Aktivitäten, etwa die Hinwendung zum Christentum oder die chaotische Rolling-Thunder-Tournee, bei der er maskiert auftrat, vom nachgewachsenen Publikum als spleenige Launen eines mysteriösen alten Mannes belächelt wurden, der ohnehin nicht mehr viel zu sagen hatte.

Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte, für ewig würde er eine Art Moses der Popkultur bleiben, derjenige, der die steinernen Gesetzestafeln von den nebligen Höhen des Berges Sinai mitgebracht hatte. Dieses Werk, dieses Künstlerleben reklamierte das Publikum als Eigentum. Mit Alben wie Subterranean Homesick Blues, Highway 61 Revisited und Blonde On Blonde hatte Dylan der Jugendbewegung ihren Katechismus geschaffen. Den hatte sie in Besitz genommen und ihrem Schöpfer seinen wohlverdienten Platz als unangefochtener Gottvater auf dem Thron der Popkultur zugewiesen, zur Rechten Elvis, zur Linken die Beatles. Kult und Werk waren damit zur Ewigkeit und der Künstler zum Stillhalten verdammt. Eine Gegenwart oder gar Zukunft würde diesem Götzen der Vergangenheit verwehrt bleiben. Dylan blieb Dylan blieb Dylan. Lebendig begraben.

Ein Status, der ihm die Luft zum Atmen nahm. Viel hätte nicht gefehlt und der Mann, den nicht wenige für den bedeutendsten amerikanischen Künstler des 20. Jahrhunderts halten, wäre mit gerade mal 46 Jahren in Rente gegangen: »Es war an der Zeit aufzuhören. Die Vorstellung, mich zur Ruhe zu setzen, beunruhigte mich nicht im mindesten. Ich hatte mich mit diesem Gedanken angefreundet und mich längst an ihn gewöhnt.« So schreibt Dylan in seinen Erinnerungen Chronicles Volume One (Hoffmann & Campe, 2004) über seine seit Beginn der Achtzigerjahre schwelende künstlerische Krise, die Ende 1987 ihren Höhepunkt erreicht hatte. Was war geschehen? Und was war es, das ihn nur kurze Zeit später zum glatten Gegenteil eines Rücktritts veranlasste, als er beschloss, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, die Never Ending Tour und damit sich selbst neu zu erfinden?

Am Ende des Jahres, das international durch das allmählich einsetzende Tauwetter von Gorbatschows Glasnost und hierzulande durch die unrühmliche Barschel-Affäre geprägt wurde, hat Bob Dylan in der Tat »fertig«: Hinter ihm liegen eine 18 Monate währende Welttournee mit Tom Petty & The Heartbreakers sowie eine Konzertreise, die er mit den Althippies von Grateful Dead absolviert hat. Auch dem wohlwollendsten Fan dürfte bei dieser nur sechs Konzerte umfassenden Dead-Tour aufgefallen sein, wie lustlos, geradezu apathisch Dylan sich phasenweise durch die Sets geleiert hat – dokumentiert auf dem wenig aufregenden Album Dylan & The Dead (1989). Nicht viel besser hat er sich auf der Petty-Tournee präsentiert. Zumindest empfand dies ein Großteil des Publikums. Bei gedimmtem Licht bot er irritierende, mitunter fast wie absichtlich vermurkst klingende Interpretationen seiner Klassiker – und verlor bei all diesen Konzerten zwischen den Songs nicht ein einziges Wort. Die ihn begleitenden Heartbreakers konnten da kaum etwas retten. Die vielerorts enttäuscht abwandernden Zuschauer hatten den Eindruck, dass hier einer nicht wirklich mit Freude dabei war – Dylan, der Miesepeter.

Auch seine Alben leiden nach Infidels (1983) unter, gelinde gesagt, schwankender Qualität. Kann Empire Burlesque (1985) noch überzeugen – jedenfalls mit Abstrichen –, so enttäuscht Knocked Out Loaded (1987) mit schwachen Ideen und einer eigenwilligen Songauswahl, die Material aus verschiedensten Sessions versammelt. Dazu schielt die Produktion halbherzig auf den Zeitgeist und sucht mangelnde Substanz unter Plüsch und Plunder zu verbergen. Auch das im Frühling 1988 eingespielte Down In The Groove macht keine Ausnahme. Mit nur vier Eigenkompositionen zählt es zu den schwächsten Arbeiten in Dylans langer Karriere.

Er selbst sieht das ganz genau so. In seiner Autobiografie berichtet er: »Ich fühlte mich erledigt, war ein ausgebranntes Wrack. In meinem Kopf rauschte es zu laut, und ich konnte es nicht abstellen. Wo ich auch hingehe, bin ich ein Troubadour der Sechziger, ein Folkrock-Relikt, ein Verseschmied aus vergangenen Tagen, ein fiktives Staatsoberhaupt aus einem Land, das keiner kennt.« Dieser Bob Dylan, sein Mythos, sein Ruhm, seine Legende haben den Künstler Robert A. Zimmerman offenbar unter sich begraben. Und dem ist lange schon klar, dass dies seinen Fans ziemlich wurscht ist. Schon 1974, als er zum ersten Mal nach den Heldentaten der Sechzigerjahre mit The Band auf Tournee ging, haben sie ihn gescholten, weil er nicht brav den romantischen Bänkelsänger der Folk-Ära respektive den rebellischen Bilderstürmer der Blonde-On-Blonde-Jahre mimte. Gab es nicht schon damals vereinzelte Buhrufe, weil er seine Klassiker rücksichtslos zu entstauben wagte, statt die eigene Legende feierlich in nostalgische Sepia-Farben zu tauchen? Spätestens seit diesem denkwürdigen Jahr hatte sich zu Dylan-Konzerten immer eine Menschenmasse eingefunden, die lieber in der eigenen Vergangenheit schwelgen wollte, als dem Sänger das Recht einzuräumen, sein Werk neu zu deuten.

Dabei war er doch nur ein »song and dance man«, wie er es bei einer Pressekonferenz schon in den Sechzigern verkündet hatte, eher Hofnarr jenes Aufbruchs als dessen Spiritus Rector. Vordergründig mochte das scherzhaft geklungen haben, und doch war es die Wahrheit. Seine jedenfalls. Verstanden hatte das damals keiner. Und auch später nur die Wenigsten.

Nun, in den Achtzigern, ahnt er, dass mehr nötig sein würde als nur ein neuerlicher Haken, mit dem er Markt, Medien und Publikum verwirren könnte. Er muss sich selbst, den Robert Zimmerman aus Hibbing, Minnesota, ein für allemal abkoppeln vom Mythos Bob Dylan, den er ohnehin nur noch mit ungesunden Mengen Alkohol erträgt. Er muss den Messias der längst sakrosankten Pop-Revolution exorzieren. Und er muss sich ein gänzlich neues Publikum suchen. Dazu erklärt er in Chronicles: »Ich brauchte ein neues Publikum, weil mein damaliges mehr oder weniger mit meinen Platten aufgewachsen war und mich nicht mehr als neuen Musiker akzeptieren konnte, was verständlich war. In vieler Hinsicht hatte dieses Publikum seinen Zenit überschritten, und seine Reflexe waren hinüber. Sie wollten nicht teilnehmen, sondern zuschauen. Das war okay, aber das Publikum, das mich entdecken sollte, musste eines sein, das nichts von gestern wusste.«

Er zieht die Konsequenzen: Schluss mit der ewigen Mühle aus mehr oder weniger zeitgemäßen Albumproduktionen, anschließender Promotionarbeit mit Interviews und darauffolgender, aufwändiger Tournee. Nichts davon. Statt dessen: alles eine Nummer kleiner. Kein Zeitdruck mehr, Tourneen lieber in Clubs und Hallen, mit kleiner Bandbesetzung sowie auf das Nötigste beschränkter Produktion. Und: keine Interviews mehr! Warum sich offenbaren, wenn das Werk den Künstler doch auf der Bühne hinreichend erklärt? In Sachen Publikum hat er schnell einen Masterplan: »Ich rechnete mit drei Jahren, weil ich dachte, dass sich nach dem ersten Jahr viele ältere Leute ausklinken, aber jüngere Fans im zweiten Jahr ihre Freunde mitbringen würden, so dass es unterm Strich gleich viele bleiben«, so spekulierte er. »Und die würden im dritten Jahr wiederum ihre Freunde mitbringen und gemeinsam die Keimzelle meines zukünftigen Publikums bilden.«

Wobei Dylan nach durchwachsenen Alben und durchaus angeschlagener Reputation auch seinen Marktwert in den Achtzigern realistisch einschätzt: »In Wirklichkeit war ich gerade gut genug für Club-Konzerte. Ich konnte kaum kleinere Hallen füllen.« In der Tat, bei allem Ruhm der überlebensgroßen Legende – das Rock- und Pop-Publikum der Achtzigerjahre verehrt längst andere Helden als den inzwischen 46-jährigen Schöpfer von Like A Rolling Stone. Im Frühling 1988, kurz nach den Aufnahmen zum launigen Allstar-Treffen Traveling Wilburys (1989, mit Tom Petty, George Harrison, Jeff Lynne und Roy Orbison), beginnt Dylan in New York mit den Proben zur sogenannten Interstate 88-Tour, die ihn anlässlich der Veröffentlichung von Down In The Groove bis Ende des Jahres kreuz und quer durch die USA führen soll. Die angeheuerte Tourband ist tatsächlich so klein wie noch nie, sie besteht aus nur drei Musikern: G. E. Smith an der Gitarre, Marshall Crenshaw, in den Achtzigern selbst erfolgreicher Songwriter und Solokünstler, am Bass sowie Schlagzeuger Christopher Parker. Zusammengestellt hat die Band nicht Dylan selbst, sondern sein alter Weggefährte Elliott Roberts. Kurz vor dem Tourstart wird Crenshaw durch Kenny Aaronsson ersetzt. Am 7. Juni ist es soweit: Als Dylan mit seinem Trio die Bühne des Concord Pavillon in Concord, Kalifornien, betritt und mit dem Opener Subterranean Homesick Blues den ersten von 13 Songs dieses Abends spielt, ist das der Beginn von etwas, das bis heute nicht endete.

Schon die Setlist jenes denkwürdigen Konzerts in Concord spricht Bände: Kein einziger Song des (zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlichten) neuen Albums Down In The Groove wird gespielt. Lediglich Drifting Too Far From Shore ist im Programm, ein Albumtrack von Knocked Out Loaded und auf der B-Seite der just erschienenen Single Silvio veröffentlicht. Der Rest: ausnahmslos Klassiker, darunter Masters Of War, Like A Rolling Stone, Maggie’s Farm und Boots Of Spanish Leather. Das Material wird in strammen Arrangements präsentiert, ohne Backgroundsängerinnen und ohne zusätzliche Instrumentalisten (lediglich Neil Young steuert als Gast bei zwei Songs seine einzigartige Gitarre bei). Dylan macht Ernst, stellt sich seinen Songs und verzichtet auf die lustlose Verhunzung des eigenen Mythos. Stattdessen greift er beherzt in seine riesige Repertoire-Kiste und förderte daraus zutage, was ihm gerade in den Sinn kommt. Er nimmt die Songs, die eigentlich unantastbaren, wirft sie sich selbst und seinen Begleitern zum Fraß vor und lässt bewusst offen, was daraus werden würde. Kein Wunder also, dass bei den insgesamt 71 Konzerten dieser ersten Etappe der Never Ending Tour 92 Titel zu Live-Ehren kommen.

Bei den ersten Gigs spielt sich die Band frei, rockt rau und hemdsärmelig und verpasst den Stücken eine kräftige Energie-Dosis. In der Regel verlaufen die Abende nach folgendem Muster: ein halbes Dutzend Stücke mit Band, dann ein kurzer, zwei bis drei Songs umfassendes Akustikset, bei dem sich Dylan von G. E. Smith begleiten lässt, und abschließend ein elektrisches Finale mit noch einmal vier bis fünf Songs.

Das Projekt lässt sich gut an. Der Altmeister scheint zufrieden, er hat sich offenbar am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen. Wie wichtig es Dylan mit dem Entschluss ist, kontinuierlich über das ganze Jahr hinweg Konzerte zu geben, lässt sich aus einem Detail in den Verträgen seiner Begleitmusiker ersehen: Darin ist geregelt, dass der Unterzeichner an mindestens 280 Tagen im Jahr für Konzerte zur Verfügung stehen muss. Zum Vergleich: Ein Kalenderjahr hat durchschnittlich 250 Arbeitstage – minus Urlaubsanspruch.

Für 1989 nimmt sich Dylan denn auch jede Menge vor. Im Frühling tourt er durch Europa und setzt das Ganze im Sommer in den USA fort, wo er mit nur kurzen Unterbrechungen bis Mitte November unterwegs ist. Die Jahresbilanz umfasst 99 Shows. Damit nicht genug, auch auf dem Plattenmarkt lässt Dylan jede Menge hören. Neben dem bereits erwähnten Live-Dokument der Tour mit Grateful Dead ist es vor allem sein neues Studioalbum Oh Mercy, entstanden im März und April in New Orleans unter der Regie von Daniel Lanois, das die Fans aufhorchen lässt. Lanois ist es gelungen, Dylans neuen Songs ein zeitgemäßes, einheitliches Soundgewand zu schneidern, das weder poliert noch modisch wirkt. Zudem gehören Stücke wie Political World, Most Of The Time oder Everything Is Broken zum Besten, was Dylan in den Achtzigerjahren zustande bringt. Erstmals seit Infidels wirkt ein Dylan-Album homogen und in sich schlüssig. Die Kritiker, die bislang über die Konzerte der Never Ending Tour die Nase gerümpft und Dylan als Plattenkünstler bereits abgeschrieben haben, überschlagen sich vor Begeisterung.

Der Mann mit der asthmatischen Quengelstimme hat sich erfolgreich neu erfunden. Auch 1990 füllt Dylan bis zum Rand mit Tourneen, Plattenaufnahmen und sonstigen Aktivitäten, darunter gar die Gründung eines Shops für Kinderbekleidung, den er zusammen mit seiner Cousine Beth Zimmerman in Los Angeles eröffnet. Der Name der Boutique: Forever Young – was sonst? Nach einer kurzen Wintertournee vollendet er im April die Sessions zu seinem nächsten Studioalbum, dem etwas schludrigen Under The Red Sky, bevor er Ende des Monats mit den Traveling Wilburys – nur noch zu viert, da Roy Orbison am 6. Dezember 1988 verstorben ist – ein zweites Album einspielt. Danach bis zum Ende des Jahres wieder Konzerte, Konzerte, Konzerte. So geht das nun schon im dritten Jahr, den Titel »hardest workin’ man in show business« hätte Mr. Zimmerman redlich verdient.

Viele stellten sich in jenen Jahren die Frage, was es nun eigentlich mit dieser Never Ending Tour auf sich hat (der Begriff stammt vom britischen Journalisten Adrian Deevoy, der Dylan im Herbst 1989 für das Magazin Q interviewt hatte). Presse und Publikum wunderten sich, dass eine gefeierte Legende wie Bob Dylan rastlos wie ein Fliegender Holländer des Rock’n’Roll durch die Konzerthallen geisterte. Hatte er das wirklich nötig? Und was wollte er damit erreichen? Dylan selbst hat dazu in diversen Interviews Aufschlussreiches geäußert. Zum Beispiel 1997 in London: »Ich bin Musiker, nicht einer, der sich ab und zu mal eine Platte kauft. Für mich ist das alles mehr als nur Entertainment. Das ist mein Job, mein Gewerbe, mein Handwerk. Auf der Bühne zu stehen ist für mich so natürlich wie das Atmen.«

Dylan tut das, was ein Dichter und Musiker eben tun muss: Er zieht umher und verbreitet sein Werk. Dabei bemüht er sich, seine Musik so wahrhaftig und authentisch wie möglich unter die Leute zu bringen. Wozu wiederum Handwerk notwendig ist, und an dem arbeitet er kontinuierlich. In den ersten Jahren der Never Ending Tour konzentriert er sich dabei vor allem auf die Band und auf sein Gitarrenspiel, in den letzten Jahren scheint er zunehmend an seiner Gesangstechnik zu feilen. Seit einigen Jahren hat er zudem die Gitarre zur Seite gelegt und steht auf der Bühne meistens hinter einem kleinen Keyboard, das an die Farfisa-Orgeln der Sechzigerjahre erinnert.

Was die Qualität der Konzerte betrifft, so galt von Anfang an: Wer jeden Abend 100 Prozent Risiko geht, haut zwangsläufig gelegentlich daneben. So brauchten Dylan und seine Band, die vor allem zu Beginn der Neunzigerjahre mit diversen Personalwechseln zu kämpfen hatte, bis etwa 1993, um im Repertoire eine Sicherheit und Routine zu entwickeln, die sie vor Ausrutschern schützt. Um seinen spontanen Launen gerecht werden zu können, müssen die Musiker das komplette Repertoire des Meisters beherrschen. Kein leichter Job, nicht umsonst gelten Dylans Begleiter seit Jahren als die besten Sessionmusiker, die in der Szene zu haben sind. Der wohl wichtigste Stabilitätsfaktor der Tourband kam am 10. Juni 1989 in Person des Bassisten Tony Garnier hinzu – er ist bis heute dabei und fungiert als musikalischer Direktor.

An Plattenaufnahmen, der nach landläufiger Meinung vornehmsten Pflicht eines musizierenden Künstlers, hat der verdiente Columbia Recording Artist Dylan dagegen nach 1990 erst mal nur noch bedingtes Interesse. Nach Under The Red Sky beschließt er, zunächst keine weiteren Alben mehr aufzunehmen, höchstens solche, die wenig Aufwand erfordern und sich nicht an den Bedürfnissen des Popmarktes orientieren. Was er mit Good As I’ve Been To You (1992) und World Gone Wrong (1993), kargen Sammlungen obskurer Folksongs zur Akustikklampfe und Harp, kurz darauf bestätigt. Der rein akustisch eingespielte Live-Mitschnitt MTV Unplugged entsteht 1995 quasi im Vorbeigehen. Völlig egal ist ihm der Mythos, der sich um sein Platten-Werk gebildet hatte. Anlässlich der Veröffentlichung von Love And Theft 2001 äußert er sich dazu in der Rückschau überraschend radikal: »Ich habe immer entweder mit schlampigen Produzenten gearbeitet oder mit Blendern oder Nichtskönnern. Und deshalb konnte ich meine Songs auch immer erst auf der Bühne weiterentwickeln und die Dinge richtig stellen.«

Eine der Hauptintentionen der Never Ending Tour war von vornherein Dylans Bedürfnis, seinen eigenen Songs auf den Grund zu gehen und ihrem verborgenen Spirit nachzuspüren. Dazu braucht er weder die Maske der in den Klatschspalten gefeierten Prominenz noch den ewig gleichen Marketing-Kreislauf der Plattenindustrie und schon gar keinen Produzenten, der ihm sagt, wie seine Musik klingen muss. Eine Handvoll vertrauter Musiker und ein Publikum, mit dem er durch seine Musik kommunizieren kann, reichen ihm bis heute völlig, um diesen Prozess in Gang zu halten.

Natürlich aber war über das permanente Touren mit regelmäßig rund 100 Konzerten pro Jahr der Poet und Songwriter Bob Dylan nicht verloren gegangen. Ganz im Gegenteil, der scheint mit der kathartischen Erfahrung der beiden Folkalben und seiner Weigerung, den Gesetzen des Marktes zu gehorchen, so frei und inspiriert wie lange nicht. Allmählich hat Dylan wieder begonnen zu schreiben und seine Erfahrungen on the road zu verarbeiten. Im Januar 1997 hat er genügend Material beisammen, um sich, wiederum mit Daniel Lanois, in die Criteria Studios in Miami zurückzuziehen. In nur elf Tagen spielt er dort Time Out Of Mind ein, das am 30. September veröffentlicht wird. Endlich, nach sieben Jahren Pause, bekommt sein Publikum ein Album mit neuen Songs – und das überrascht mit wahrhaft biblischer Kraft. Dylan behandelt Themen wie Einsamkeit, Alter, Liebe und Krankheit mit der Autorität eines alten Bluesmannes, sein brüchiger Gesang geht unter die Haut, und die spartanische, höchst eindringliche musikalische Begleitung wirkt, als läge ein schwerer und düsterer Nebel über den Tracks. Herausragend das bedrohlich-zögerliche Love Sick, das beklemmende Not Dark Yet und das fast 17-minütige, geradezu hypnotische Highlands. Und siehe da, plötzlich ist Bob Dylan auch als Plattenkünstler wieder relevant. Die drei Grammies, die er für Time Out Of Mind erhält, darunter den für das »Album des Jahres« und die »beste Rock-Gesangsdarbietung«, scheinen nur noch eine Formsache.

Dabei hätte Dylan die Veröffentlichung dieses grandiosen Albums womöglich gar nicht mehr erlebt, wäre er nicht am 25. Mai in Los Angeles gerade noch rechtzeitig in eine Klinik eingeliefert worden. Die Diagnose: Histoplasmose, eine lebensgefährliche Lungen-Infektion, die bereits den Herzbeutel angegriffen hat. Dylan erholt sich rasch, nach wenigen Tagen schon wird der Patient nach Hause entlassen. Im September ist er wieder fit genug, um im italienischen Bologna ein ganz besonderes Konzert zu geben. Beim Eucharistischen Welt-Kirchenkongress spielt er vor 350.000 Menschen, darunter auch Papst Johannes Paul II., der ihm nach dem Auftritt die Hand reicht.

1999, die Never Ending Tour geht inzwischen in ihr zwölftes Jahr, scheidet nach sieben Jahren und insgesamt 739 gemeinsamen Shows der Gitarrist und Multiinstrumentalist Bucky Baxter aus. Er wird ersetzt durch Charlie Sexton, so dass die Band zum neuen Millennium aus Sexton, Tony Garnier, Drummer David Kemper und dem Pedal-Steel-Virtuosen Larry Campbell besteht. Das neue Jahrtausend beginnt für Dylan, wie das alte geendet hat: Allein im Jahr 2000 gibt er 112 Konzerte. Nicht anders 2001: Diesmal sind es 105 Konzerte in 13 Ländern auf vier Kontinenten. Dazu kassiert er einen Oscar für den Song Things Have Changed, den er zum Kinofilm Wonder Boys beisteuert. Die größte Freude jenes Jahres für die Fans aber dürfte das neue Studioalbum Love And Theft sein. Das Schwarzweiß-Cover zeigt den Meister mit smartem Menjou-Bärtchen und mürrischem Blick, die Musik indes ist alles andere als griesgrämig. Wo Time Out Of Mind Schwermut ausstrahlte, erscheint Love And Theft geradezu leichtfüßig. Diese Songs sind nicht düster, sie wirken lebendig, humorvoll, herzlich. Stilistisch konzentrieren sich Dylan und Band auf Traditionelles wie ursprünglichen Rockabilly, Western Swing und Country-Blues. All das klingt frisch, direkt, unverkrampft. Auch thematisch gibt sich Dylan hier weit weniger grüblerisch. Nicht wenige Kritiker schätzen Love And Theft sogar noch höher ein als dessen Vorgänger und ziehen nicht ganz zu Unrecht Parallelen zu Dylans legendären Big Pink-Sessions mit The Band in den Sechzigerjahren. Wenig überraschend, dass das Album im folgenden Jahr den Grammy für das »beste zeitgenössische Folkalbum« einheimst.

Der Sommer 2003 steht für Dylan im Zeichen des Kinofilms Masked And Anonymous, den er mit dem Regisseur Larry Charles dreht und in dem er – neben Leinwandstars wie Jeff Bridges und Penélope Cruz – den abgetakelten Rocksänger Jack Fate spielt. Erfolg ist dem Projekt zwar kaum beschieden, immerhin aber hinterlässt der Streifen durch den gleichnamigen Soundtrack seine Spur in Dylans Plattenkatalog. Trotz der Dreharbeiten bringen es Dylan und Band auch 2003 noch auf knapp 100 Konzerte – ein verlässlicher Wert, in den folgenden Jahren bis einschließlich 2009 werden es jedes Mal um die hundert sein.

Und regelmäßig darf sich die Gemeinde über neue Alben freuen. 2006 erscheint Modern Times, eine vitale, musikalisch tief im Rhythm’n’Blues der Nachkriegszeit verwurzelte Songsammlung, die, mitten in der für Amerika so schwierigen Bush-Ära, die desillusionierte Perspektive des fahrenden Sängers einnimmt, der alles gesehen hat und doch noch genügend Humor für den einen oder anderen zynischen Scherz aufbringt. 2009 veröffentlicht der inzwischen 68-Jährige Together Through Life, für das er diesmal fast sämtliche Lyrics mit Robert Hunter, dem ehemaligen Texter von Grateful Dead, gemeinsam schreibt und noch deutlicher auf die reiche Tradition amerikanischer Prä-Rock-Musikstile zurückgreift. Akkordeon, Steel-Gitarre, Fiddle und Mandolinen sind allgegenwärtig und doch organisch eingebettet in die gestählte Musikalität seiner Bühnenband.

22 Jahre ist er nun auf seiner Never Ending Tour. Dylans Band besteht derzeit neben dem unverwüstlichen Tony Garnier aus Drummer George Receli, den Gitarristen Stuart Kimball und Charlie Sexton (nach sieben Jahren Pause im Oktober 2009 zurückgekehrt) sowie dem Geiger Don Herron. Immer noch variieren die Setlists der einzelnen Konzerte von Abend zu Abend. Dylan scheint seine Ziele erreicht zu haben – die Flucht des Robert Zimmerman vor dem übermächtigen Bob Dylan ist geglückt. Seine musikalische Reputation hat er schon lange wiedergewonnen. Mehr noch: Seine Alben seit Time Out Of Mind bilden ein einzigartiges Spätwerk, das auch in den Augen ernstzunehmender Kritiker neben den frühen Ruhmestaten stabilen Bestand hat.

Den Spaß am Spielen hat er ohnehin längst wiedergefunden – kaum würde er sonst die Strapazen des dauernden Tourens auf sich nehmen. Darüber hinaus aber hat er tatsächlich auch sein Publikum erneuert. Wer heute zu einem Dylan-Konzert geht, möchte keine pflegeleichte Best-Of-Revue, stattdessen will er auf der Bühne den mythenumrankten Fahrensmann sehen, der aufrecht durch die Zeitläufte gewandert ist und in seinen Liedern von dieser Wanderschaft erzählt, der tröstet, verschreckt, erinnert und gelegentlich zum Weinen bringt. Musikalische Überraschungen inbegriffen. Zum Beispiel die vom November 2009, als er mit Christmas In The Heart plötzlich eine ganz normale Weihnachtsplatte herausbringt, mit 15 ganz normalen Weihnachtsliedern drauf, ganz normal gespielt und, für seine Verhältnisse, ganz normal gesungen. Vor 20, 30 Jahren hätte ihn ein solcher Schritt unweigerlich vor die Tribunale der internationalen Kulturkritik geführt, wo unbarmherzig über die künstlerische Integrität des Komponisten von The Times They Are A’Changin’ gerichtet worden wäre. Zwar sind diesmal nicht wenige geschockt und ratlos, dennoch hält sich die Aufregung in relativen Grenzen – auch ein Indiz dafür, dass sich Dylan die künstlerische Bewegungsfreiheit, die er damals so schmerzlich vermisste, in den letzten beiden Jahrzehnten Zug um Zug zurückerobert hat. Mag ihn die breite Masse nach wie vor als den überlebensgroßen Dichterfürsten der rebellischen Sechzigerjahre sehen, diejenigen, die in seine Konzerte gehen, wissen, dass Bob Dylan mit dem Establishment nichts am Hut hat und, hellwach und unbestechlich, seiner längst wieder gefundenen inneren Flamme folgt, unabhängig von Zeitgeist und kommerziellen Zwängen. Was da auf den Bühnen – großen, kleinen, amerikanischen, europäischen, solchen in der Provinz und solchen in den Metropolen – im einzelnen passiert, kann die treue Gemeinde auf Unmengen von privaten Mitschnitten nachhören, die in Fankreisen zirkulieren und seismographisch genau den jeweiligen Stand der Dinge auf dem »Planet Bob« wiedergeben.

Inzwischen hat Dylan im Rahmen seiner Never Ending Tour weit über 2.000 Konzerte in allen Teilen der Welt gespielt. Zum Vergleich: Vom Beginn seiner Karriere 1962 bis zum Sommer 1988 waren es ganze 485! Und ein Ende des Marathons ist nicht abzusehen. Sollte die niemals endende Tournee dennoch eines Tages aufhören, Bob Dylan hätte außerhalb der Konzerthallen immer noch eine große Zukunft – als Radiomoderator. Seit Mai 2006 erfreut der Mann, für den das Radio in der Kindheit und Jugend die Nabelschnur zur Welt der Musik bedeutete, an jedem Mittwoch die Hörer des US-Satellitensenders »XM« mit seiner Theme Time Radio Hour. Darin stellt er als Moderator selbst gewählte Songs zu ausgesuchten Themenkomplexen vor. Mal geht es dabei um »Weather«, mal um »Mothers«, mal den »Devil«, »Flowers« oder, natürlich, »Drinking«. Die Sendung ist ein Riesenerfolg, der englische Observer schwärmt: »Ein Triumph! Anders als alles andere!« Und der Boston Herald attestiert: »Er ist informativ und witzig – sein Geschmack ist makellos!« Man möchte hinzufügen: Er ist charmant und amüsant obendrein. Denn zwischen den Songs gibt Dylan mit sonorer Raspelstimme und in dem ihm eigenen Sprechsingsang jede Menge Wissenswertes aus dem Leben obskurer Musiker zum Besten. Wer könnte das besser als ein alter Herumtreiber wie er, der inzwischen auch den Weg nach Hause gefunden hat?

Empfehlenswert:

Highway 61 Revisited (1965)

Das erste durchgehend elektrische Werk in Dylans Katalog und gleichzeitig die Momentaufnahme einer kulturellen Revolution. Noch waren die Beatles drüben in England ihrer naiven Phase nicht ganz entwachsen, da schnappte sich Dylan eine Rock’n’Roll Band und nahm mit Like A Rolling Stone das Manifest der noch jungen Jugendkultur auf, stellte in Ballad Of A Thin Man Opportunismus und Heuchlertum bloß und beschwor im grandiosen elfminütigen Alptraum von Desolation Row die Apokalypse moderner Zivilisation. Nach diesem Album war Pop nicht mehr das, was er bis dahin gewesen war. Plötzlich war Pop hart, böse, politisch, poetisch und gleichzeitig sexy und cool. Und Dylan war Gott.

Dylan (Compilation)

Die wohl gelungenste und sorgfältigste Zusammenstellung von Dylan-Songs aus sämtlichen Dekaden seiner nunmehr fast 50-jährigen Karriere. Seine folkloristischen Anfänge sind auf diesem 51 Songs umfassenden 3-CD-Set ebenso vertreten wie die großen Klassiker der Sechzigerjahre, die introvertierten Meisterstücke der Blood On The Tracks-Ära, der gelegentlich erratische Output der Achtzigerjahre und auch einzelne Tracks der großartigen Alben der letzten Jahre. Das Ganze steckt in einer liebevoll ausgestatteten Box inklusive 40-seitigem Booklet. Perfekter Grundkurs für angehende Dylanologen.

No Direction Home (DVD)

Im Jahr 2005 drehte der amerikanische Starregisseur Martin Scorsese eine zweiteilige TV-Dokumentation über Dylans Aufstieg vom unbekannten Provinzsänger zum Superstar der Swinging Sixties. Der Film konzentriert sich also auf die Zeitspanne von Ende der Fünfzigerjahre bis etwa 1966, als Dylan mit dem Material seines Doppelalbums Blonde On Blonde in England auf Tournee ging. Gerahmt von ausführlichen Interviewsequenzen mit dem Sänger, montiert No Direction Home zeitgeschichtliches Originalmaterial mit Filmaufnahmen aus dieser frühen Phase von Dylans Karriere. Herausgekommen ist dabei ein intensives Zeit- und Künstlerporträt, das trotz seiner insgesamt dreieinhalb Stunden Laufzeit nicht eine Sekunde langweilt und interessante Aufschlüsse über Dylan, seinen Aufstieg und nicht zuletzt die Sechzigerjahre gibt.

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