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ОглавлениеREELIN’ AND ROCKIN’
Chuck Berry, Lehrmeister mit Entengang
»Wenn Du Rock’n’Roll einen anderen Namen geben willst, nenn’ ihn einfach Chuck Berry!« Kein Geringerer als John Lennon war es, der die Bedeutung unseres Helden mit diesem Ausspruch einst auf den Punkt brachte. »Deep down in Louisiana, close to New Orleans…« Dort in den Southern Swamps war’s zwar nicht, aber in Chuck Berrys Geburtsstadt St. Louis, Missouri, hätte die kleine Holzhütte aus Johnny B. Goode ebenso stehen können. In diesem Song, Berrys wohl berühmtesten, prophezeit der Sänger seinem Protagonisten: »Some day your name will be in lights.« Die Grundidee der Popmusik: Zieh los mit deiner Gitarre, schreib einen coolen Song, werde reich und berühmt!
Keiner der frühen Helden des Rockzeitalters verkörperte diese Idee so perfekt wie Chuck Berry: Er war der begabteste Songwriter von allen, weder Buddy Holly, Eddie Cochran und Bo Diddley noch Jerry Lee Lewis oder Elvis, die ohnehin kaum selbst Songs schrieben, konnten ihm da das Wasser reichen. Und als Instrumentalist war Berry stilprägend wie kein anderer der frühen Rock’n’Roller, da mögen »der Killer« Lewis und der größenwahnsinnige Mr. Penniman alias Little Richard noch so sehr auf ihre Pianos gehämmert haben – Onkel Chuck war derjenige mit der breitesten musikalischen Basis.
Sein Background war durchaus bürgerlich, er war kein armer Baumwollpflücker wie Muddy Waters und John Lee Hooker. Charles Edward Berry, geboren am 18. Oktober 1926, war ein gebildetes und kultiviertes Mittelstandskind. Seine Mutter war immerhin Lehrerin, und die große Familie wohnte im besten Viertel, das in der damals noch strikt der Rassentrennung verhafteten Südstaaten-Metropole St. Louis für Schwarze zugelassen war. Chucks musikalischer Horizont reichte schon in Kindertagen von der Blues-Lady Billie Holiday und dem Jazz-Intellektuellen Duke Ellington über George Gershwins Kompositionen bis hin zu frühen Hillbilly-Stars wie Jimmie Rodgers und Roy Acuff. Er wusste sehr genau, was er da tat, und war wohl der Erste, der die mitunter tumbe weiße Countrymusik und ihre starre Form in Hirn und Hose eines smarten Schwarzen tauchte, also gleichsam mit Rhythm’n’Blues durchlauferhitzte. Womit er die für kommende Jahrzehnte gültige Formel für Rockmusik schuf.
Auch seine Qualitäten als Entertainer standen denen des frühen Elvis, denen des wilden Lewis oder denen des überdrehten Little Richard nicht nach. Das Bild des verschmitzt grinsenden Mannes mit der roten Gitarre, der die Bühne im Duckwalk quert und dabei listig die Augen rollt, dürften selbst Menschen kennen, die sich nie sonderlich für Musik interessiert haben. Und seine Songs sowieso, die gehören zur grundlegenden Popbibliothek wie Dierkes Weltatlas in den Erdkundeunterricht. Maybellene, Sweet Little Sixteen, Roll Over Beethoven oder Rock’n’Roll Music, um nur die bekanntesten zu nennen, definieren bis heute nicht nur musikalisch das, was wir unter Rock’n’Roll verstehen, sie zeichnen auch ein präzises Bild der Lebens- und Gefühlswirklichkeit von Teenagern in den Fünfzigerjahren – einer der Hauptgründe für seinen immensen Erfolg auf dem weißen Mainstream-Markt. Im Popbereich war er in dieser Hinsicht der erste Afroamerikaner, der mit originär schwarzer Musik die Portemonnaies weißer Plattenkäufer leerte.
Wo andere aus Blues, Hillbilly und Rockabilly im besten Fall ihren persönlichen Stil destillieren, kreiert Berry nicht nur diesen, sondern intuitiv dazu noch weitere wichtige Zutaten, auf die Pop seitdem zurückgreift: Neben den musikalischen Duftmarken ist das vor allem seine damals auf dem Popmarkt kaum gepflegte, geradezu journalistische Storyteller-Perspektive. Bruce Springsteen erklärte das Jahre später so: »Er hatte einen tollen Blick fürs Detail. Nimm den Song Nadine, darin singt er von einem ›kaffeefarbenen Cadillac‹. Ich hatte so einen Wagen noch nie gesehen, als ich den Song zum ersten Mal hörte, aber ich konnte ihn mir in diesem Moment genau vorstellen. Diese Dinge haben auch mein Songwriting immens beeinflusst.«
In Chucks Elternhaus gehörten Literatur, Theater und Bibelzitate zur geistigen Grundnahrung. Kein Wunder also, dass sich seine Poptexte von den damals üblichen, willkürlich aneinander gereihten Romantikklischees deutlich unterschieden. Seine Songs spielten in der Wirklichkeit, beinhalteten also auch soziale Kommentare – im Pop der Fünfzigerjahre ein absolutes Novum. Seine bildhafte Poesie hatte mehr von einer TV-Reportage in Reimform. Mit seinen so hintergründigen wie sprachverliebten Texten machte er zudem auch umgangssprachliche Wortspielereien im Pop salonfähig – was sich wenige Jahre später nachhaltig auf die Arbeiten von Bob Dylan, John Lennon und Mick Jagger auswirken sollte. Ebenso übrigens auch Berrys konkurrenzlos sicherer Sinn für Form und Ökonomie beim Schreiben und Spielen.
Und dann ist da noch etwas, das Berry im Unterschied zur zeitgenössischen Konkurrenz in den Rang einer über den Dingen thronenden Ikone erhebt: Mit seiner Gitarre schuf er ein einzigartiges Rock’n’Roll-Vokabular. Er entwickelte nicht nur seinen eigenen Vorrat an musikalischen Markenzeichen, er definierte mit seinem Spiel sogar – einzigartig in der Popgeschichte – das kleine Einmaleins für jeden, der nach ihm die Gitarre in die Hand nahm, um damit zu rocken. All die großen, stilprägenden Bands der Rock-Ära wären ohne Chuck Berry nicht denkbar. Fast im Alleingang etablierte er die Gitarre als führendes Instrument der weißen Popmusik. Auch wenn Männer wie Hank Williams oder Elvis gerne mit Gitarre vor ihr Publikum traten, sie benutzten das Instrument ausschließlich zur rhythmischen Begleitung. Berry indes setzte sie gleichermaßen als Rhythmus- und Soloinstrument ein, was bis dahin nur in den Bluesclubs von Chicago üblich war. Wie ein Klavier benutzte er die sechs Saiten, begleitete seinen Gesang mit rhythmischen Figuren auf den tiefen und setzte zwischen die Zeilen Fills, die er auf den hohen spielte – bis heute das grundlegende Prinzip der Rockgitarre. Der entscheidende Trick: Berry spielte kaum je Single Notes, er doppelte sie immer, spielte grundsätzlich mindestens zwei Saiten gleichzeitig an, wodurch sein voller, dynamischer Ton zustande kam. Keith Richards von den Rolling Stones, wohl Berrys gelehrigster Schüler, hat dafür eine so simple wie einleuchtende Erklärung: »Dieser Typ ist einfach riesengroß und hat riesige Hände – an ihm sehen diese dicken Gibsons aus wie eine Ukulele.« Trotzdem verfügte Berry durchaus über technische Fertigkeiten und eine große spielerische Eleganz. Sein Spiel speiste sich zu gleichen Teilen aus der Kunst der frühen Jazzvirtuosen wie Charlie Christian, aber auch aus dem rauen, zupackenden und effektvollen Stil eines Muddy Waters und, ganz besonders, T-Bone Walker. Dazu finden sich Spuren der Hillbilly-Musik von Gene Autry und Kitty Wells, die Chuck in seinen Kindertagen im Radio hörte. Nicht zuletzt borgte er sich jede Menge Zutaten beim Ende der Vierzigerjahre höchst erfolgreichen Combo-Swing von Louis Jordan, einem seiner frühen Idole.
All die musikalische Kultiviertheit allerdings verbarg er gerne hinter seinen Bühnenkaspereien. Überhaupt, er war von Anfang an ein begnadeter Entertainer, sein »Duckwalk« ist dabei nur der berühmteste von vielen weiteren Späßen, mit denen er sein Publikum seit je in den Bann zieht.
Dabei fängt der junge Chuck erst spät an, sich für die sechs Saiten zu interessieren. Zunächst reichen ihm vier – erst als 16-Jähriger sattelt er von der Tenorgitarre um auf eine richtige Sechssaitige. Viel lernt er von seinem frühen Mentor Ira Harris, einem Schüler Charlie Christians. Über die Jahre formt sich sein Stil in den Clubs von St. Louis, der entscheidende Schritt dürfte aber das Zusammentreffen mit Johnnie Johnson und dessen Trio sein, dem sich der bereits 27-jährige Berry Silvester 1953 anschließt. Hier trifft ein mit allen Wassern gewaschener Bluespianist auf einen geborenen Spaßvogel mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten als Gitarrist und jeder Menge musikalischer Phantasie.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Berry schloss sich dem Johnny Johnson Trio nicht als bescheidenes neues Mitglied an, vielmehr muss man den Vorgang eine freundliche Übernahme nennen, gegen die sich Johnson aus guten Gründen nicht wehrte. Einen besseren Frontmann hätte die Truppe nicht finden können. Das war gut fürs Geschäft, und das wusste der Profi Johnson sehr genau. Berry und Johnson werden mit ihrer Truppe schnell zur Hauptattraktion auf den Bühnen der Stadt, vor allem im Cosmo Club in East St. Louis. Die einzige Konkurrenz stellte die Band von Ike Turner dar.
Im Mai 1955 kommt es in Chicagos Chess Studios zu Berrys erster, durch Vermittlung von Muddy Waters zustande gekommenen Aufnahmesession. Der Titel zeigt exemplarisch, wie Chuck aus dem Pre-Rock’n’Roll-Pop jener Tage seinen ureigenen Stil zimmert: Ursprünglich hieß die Nummer Ida Red und war 1938 ein Country-Hit von Bob Wills. Der Song gehört schon eine Weile zu Berrys Bühnenrepertoire, wie auch einige andere Country-Songs, denn das gemischtrassige Publikum im Cosmo hört diese Musik gerne. Ida Red hat sich unter Berrys Händen allerdings in einigen entscheidenden Punkten verändert. Chuck hat den Text umgeschrieben – er handelt jetzt von einem untreuen Mädchen – und ihn mit jeder Menge Cadillacs, Coupé de Villes und sonstigen Symbolen des Nachkriegslebensstils aufgemotzt. Dazu hat er die Nummer gleichsam tiefer gelegt, ihr einen strammen Backbeat sowie ein Intro von ebenso großer Spannung wie rhythmischer Finesse verpasst. Zwischendrin hat er noch schnell das erste wirklich große Gitarrensolo der Rockgeschichte aus der Hüfte geschossen. Nach 2:18 Minuten ist Maybellene, wie der Song nun heißt, vorbei – und der Rock’n’Roll hat, ein Jahr bevor Elvis der nationale Durchbruch gelingt, seine musikalische Visitenkarte. Was sich übrigens auch an den Verkaufslisten ablesen lässt: Platz 1 in den R’n’B-Charts, immerhin Platz 5 in den landesweiten Pop-Charts. Aufschlussreiche Fußnote zum gelungenen Einstand: Berrys ureigene Mischung aus Country und Rhythm’n’Blues, damals völlig neu, löst Irritationen über seine Hautfarbe aus. Außerhalb von Memphis ist er schließlich noch völlig unbekannt, kaum jemand hat ein Bild von ihm gesehen, und so vermuten nicht wenige, dass es sich da wohl um einen Weißen handeln müsse. Chess Records trägt bewusst nichts zur Aufklärung bei und verschickt stattdessen absichtlich überbelichtete Promotion-Fotos.
Das Kleingedruckte auf der Single jedoch hat es in sich und beschert Berry eine seiner wichtigsten Lektionen im Plattenbusiness. Als Autoren nennt das Plattenlabel zur größten Verwunderung des Künstlers neben dessen Namen auch die von Russ Fratto und Alan Freed. Tiny Moore und Bob Wills hingegen, die Komponisten von Ida Red, das für Maybellene immerhin Modell stand, verschweigt man. Mit Freed hat Berry bereits zu tun gehabt, er ist eine nationale Berühmtheit und gilt mit seiner wöchentlichen Show beim New Yorker Radiosender WINS als einflussreichster R’n’B-Discjockey des Landes. Freed hat Maybellene als Erster gespielt und ist so durchaus mitverantwortlich für den Erfolg der Platte. Von Fratto aber hat Berry nie gehört. Wie sich herausstellt, ist der Mann der Vermieter der Räumlichkeiten, in denen Chess Records sich niedergelassen hat. Aus Gefälligkeit hat Leonard Chess die beiden Männer am Erfolg von Maybellene beteiligt. Eine Hand wäscht die andere, in den Fünfzigerjahren im Musikbusiness wie auch woanders gängige Praxis – allerdings auf Kosten der Künstler. In seiner Autobiografie sagt Berry dazu: »Bei meiner ersten Tantiemenabrechnung stellte ich erstaunt fest, dass jemand namens Russ Fratto und dieser Alan Freed, mit dem ich telefoniert hatte, Mitautoren des Songs waren. Als ich später mit Leonard Chess darüber sprach, behauptete er, dass der Song mehr Aufmerksamkeit erhalten würde, wenn bekannte Namen darunter stünden. Da ich unbekannt war, schien mir seine Argumentation einleuchtend – zumal er vergaß zu erwähnen, dass auch die Tantiemen aufgeteilt wurden.«
Im Anschluss an Maybellene gelingt Chuck Berry eine lupenreine Serie, jeder Song ein Treffer, ach was, allesamt werden sie Instant-Klassiker: Neben den schon genannten sind dies Carol, Back In The USA, Too Much Monkey Business, Reelin’ And Rockin’, You Never Can Tell, Let It Rock und andere mehr. Wer sich mit diesen Berry-Stücken auseinandersetzt, entdeckt schnell die typischen, von Gitarristen-Generationen nachgebeteten Merkmale seines Spiels. Das klassische Chuck-Berry-Intro etwa, exemplarisch zu hören in Johnny B. Goode, mit seiner von der Terz zum Grundton aufsteigenden Melodielinie, die dann in einem Stakkato von Grundton und Quinte ihren Gipfel findet. Der Trick funktioniert bis heute – noch immer lässt sich jedes Kneipenpublikum zwischen St. Louis und St. Petersburg mit diesem Intro anstandslos von null auf Hundert bringen. Geklaut hat Berry die Idee zu diesem Intro, wie er einmal verriet, bei Louis Jordans Band. Interessante Variationen lässt Chuck auf Carol, Sweet Little Sixteen und Brown Eyed Handsome Man hören, wo er das Ganze mit einer leicht karibischen Note anreichert.
Double Notes, gerne auch als Bendings, sowie die immer wieder auftauchenden Boogie-Muster sind aber nicht das ganze Geheimnis von Chucks einzigartigem Stil. Und auch die berühmte kirschrote Gibson ES 355 mit ihrem charakteristisch warmen und aggressiv-kräftigen Ton macht allein noch keinen Berry. Zu all dem kommt zusätzlich ein Phänomen, das sich musikalisch kaum definieren lässt: Chucks Musik swingt. In seinem Fall bedeutet Rock’n’Roll mehr Roll als Rock. Dieser eigenartige, irgendwo zwischen gerade gespieltem Viervierteltakt und Shuffle schwebende Swing ist das eigentliche Geheimnis von Chucks so ungeheuer ansteckenden Grooves. Besonders deutlich zu spüren ist das in den Originalaufnahmen von Sweet Little Sixteen, Sweet Little Rock’n’Roller oder auch Down The Road A Piece (aus der Feder von Don Raye und 1946 ein Hit für Amos Milburn). Der amerikanische Journalist Clive Anderson umschrieb das mal mit den kaum übersetzbaren Worten »…nothing is forced but everything swings«. Diesen nicht stampfenden, eher sachte schaukelnden Rhythmus hat Berry von seinen großen Vorbildern, allen voran Louis Jordan und Nat King Cole, übernommen.
Ein Stilmerkmal, das die direkte Verwandtschaft des Rock’n’Roll mit dem Big-Band- und Western-Swing der Dreißiger- und Vierzigerjahre offenbart. Berry verschmolz diese Rhythmik mit der emotionalen Kraft des R’n’B und den Harmonien der Hillbilly-Musik. Wer die superbe, sparsam spielende, aber umso druckvoller groovende Chuck Berry Band mit Pianist Johnnie Johnson und Drummer Ebby Hardy – ohne Bassist! – auf ihren frühen Aufnahmen hört, der kann verstehen, warum englische Teenager wie elektrisiert in die Läden rannten und Gitarren kauften, als sie Ende der Fünfzigerjahre diese unwiderstehlichen Rhythmen erstmals hörten.
Zurück zu Chuck: Er gehört schnell zu den erfolgreichsten Künstlern des Rock’n’Roll, landet einen Hit nach dem anderen und bringt es bald zu Wohlstand. Einen jähen Einschnitt, von dem er sich eigentlich nie recht erholen wird, bringt jedoch das Jahr 1960: In einem umstrittenen Justizverfahren wird ihm vorgeworfen, eine 14-jährige Indianerin, die als Prostituierte gearbeitet hat, in seinem Nachtclub angestellt zu haben. Grundlage der Anklage ist der sogenannte Mann Act, ein seit 1910 bestehendes Gesetz, das es verbietet, Minderjährige von einem US-Bundesstaat in einen anderen zu bringen, wenn dabei »unmoralische Absichten« eine Rolle spielen. Bereits kurz nach Inkrafttreten des Gesetzes hatte man den schwarzen Boxweltmeister Jack Johnson mit Hilfe dieses Gesetzes für einige Zeit aus dem Verkehr gezogen – auch das Verfahren gegen Berry hat einen deutlich rassistischen Hintergrund. Im Oktober 1961 wird der Musiker für zwei Jahre in den Knast geschickt. Spätestens jetzt wird der Mann, der dem Rock’n’Roll soviel Lebensfreude geschenkt hat, bitter und misstrauisch. Zwar erlebt er mit der britischen Rock-Revolution, die ihm als wichtigste Inspiration ihren Tribut zollt, auch eine gewisse Rehabilitation im eigenen Land. Seine Songs werden durch Dutzende von Coverversionen, vor allem die der Beatles und Rolling Stones, wieder zu Hits. Als Hitparadenkünstler ist Berry selbst jedoch weg vom Fenster.
Seinen Wert freilich hat er nie in erster Linie an Hitparadenplatzierungen festgemacht. Die entscheidende Rolle spielt für ihn von jeher – und da ist er Amerikaner durch und durch – die Summe, die er am Ende des Tages nach Hause bringt. Und die stimmt, auch in den Sechzigerjahren kann er zufriedenstellende Gagen fordern. Seine Kosten halten sich ohnehin in Grenzen. Längst schon bezahlt er keine festangestellte Band mehr, stattdessen macht er es sich zur Angewohnheit, vor Ort mit fremden Begleitgruppen zu spielen, die zum einen nicht teuer sind (mit Berry möchte jeder junge Musiker spielen) und zum anderen seine Songs ohnehin auswendig kennen. Wie ein Handelsvertreter in Sachen Rock’n’Roll reist er ohne weitere Begleitung zu seinen Konzerten, sein Gepäck besteht tatsächlich nur aus seiner Gitarre und einem Handköfferchen mit dem Allernötigsten. So nutzt Chuck seinen Ruhm in den folgenden Jahrzehnten vor allem, um live mit meist zweifelhaften Begleitbands sein Geld zu verdienen.
Dass er sich dabei nicht seinen Ruf ruiniert, liegt an seiner Gottvater-ähnlichen Status, den er als Chef-Architekt der Rockmusik vor allem bei jungen Kollegen genießt. Als 1969 in Toronto das erste echte Rock’n’Roll-Revival-Festival stattfindet, reist sogar Beatle John Lennon mit dem Kollegen Eric Clapton im Schlepptau an, um dem Meister öffentlich Referenz zu erweisen. Die Generation Woodstock hat ihren Chuck willig in die Arme geschlossen.
1972 erlebt er sogar einen unverhofften Karrierehöhepunkt: Anlässlich eines England-Besuchs nimmt er einige Stücke mit englischen Musikern auf. Das Material reicht allerdings nicht für ein ganzes Album. Also wird die zweite Seite von The London Sessions mit zur selben Zeit im Königreich entstandenen Live-Aufnahmen bestückt, darunter das zwölfminütige My Ding-A-Ling. Das Stück, das seit den Fünfzigern zu Berrys Bühnerepertoire gehört, ist zwar nichts besonderes, bietet ihm aber reichlich Gelegenheit zur Interaktion mit dem Publikum. Die Plattenfirma veröffentlicht einen zweiminütigen Zusammenschnitt des launigen Spektakels als Single und landet damit überraschend einen Nr.-1-Hit – Chucks erster überhaupt! Der findet’s prima, lässt sich für seine anspruchslosen Konzerte weiterhin fürstlich entlohnen und ansonsten den lieben Gott einen guten Mann sein.
Erst 1986 taucht der Altmeister wieder im Scheinwerferlicht der Medien auf. Der Regisseur Taylor Hackford setzt ihm zum 60. Geburtstag ein Denkmal mit dem dokumentarischen Kinofilm Hail! Hail! Rock’n’Roll, der auch ein Konzert des Jubilars im ehrwürdigen Fox Theatre in St. Louis unter der musikalischen Leitung von Keith Richards zeigt. Die interessantesten Szenen darin sind nicht unbedingt die aus dem Konzert, sondern die von den Proben. Man sieht einen genervten Richards und einen zickigen, sturen Berry streiten wie die Kesselflicker – und zwar darum, wie das Intro von Carol nun richtig gespielt wird. Natürlich setzt sich Chuck durch. Und als Richards behutsam Kritik an den Einstellungen von Berrys uraltem Fender-Verstärker äußert, giftet der alte Mann zurück: »Ich bin Chuck Berry, nicht du. Und ich bin 60 Jahre lang mit meinem Setting und mit meiner Musik durchgekommen. Also werde ich daran nichts ändern!« Was können ihm diese weißen britischen Grünschnäbel schon vom Rock’n’Roll erzählen? Inzwischen ist er 83 Jahre alt – und sieht das wohl kein bisschen anders. Go, Chuck, go!
Empfehlenswert:
Chuck Berry Is On Top (1959)
Maybellene liegt gerade vier Jahre hinter ihm, das Gefängnis noch vor ihm, da wirft Chess mit dieser Sammlung von Einzelaufnahmen ein Album auf den Markt, das die Essenz von Chuck Berrys frühem Schaffen darstellt. Fast jeder Song ein Volltreffer: Maybellene natürlich, Carol, Sweet Little Rock’n’Roller, Almost Grown, Little Queenie, Roll Over Beethoven, Around And Around, nicht zu vergessen Johnny B. Goode – alles was gut und erfolgreich war. Dazu weniger Bekanntes, nichtsdestotrotz echte Berrys, etwa Jo Jo Gunne und Hey Pedro, ein beschwingter Ausflug ins Latin-Fach.
The Definite Collection
Alles drauf, alles drin – jedenfalls alles, was man auf eine einzelne CD packen kann. 30 Songs, darunter neben den unverzichtbaren Klassikern aus den Fünfzigern auch die Perlen späterer Jahre wie You Never Can Tell oder Promised Land. Wer sich intensiver mit Berrys Werk auseinandersetzen möchte, sollte sich die beiden 4-CD-Box-Sets His Complete 50s Chess Recordings und His Complete Chess Recordings 1960–1966 zulegen.
Hail! Hail! Rock’n’Roll (DVD)
Im Jahr 2007, 20 Jahre nach der Uraufführung, erschien dieser knapp zweistündige Film von Taylor Hackford auch auf DVD. Anlässlich des 60. Geburtstags von Chuck Berry entstanden, zeigt er zu etwa gleichen Teilen Interviews mit Berry, dessen Familie und diversen befreundeten Musikern, Aufnahmen der Geburtstags-Konzertgala, die im Fox Thetare von St. Louis stattfand, sowie die im Vorfeld veranstalteten Proben mit einer von Keith Richards geleiteten Band. Neben der packenden Performance des Meisters, unterstützt von Gaststars wie Etta James, Linda Ronstadt, Eric Clapton, Julian Lennon und Robert Cray, überzeugt der Film vor allem durch die authentische Darstellung der Proben, wo es gelegentlich hoch herging. Neben dem eigentlichen Film enthält das 2-DVD-Set reichlich Bonus-Material, darunter eine weitere Stunde mit bislang unveröffentlichtem Material von den Rehearsals, sowie eine ebenfalls 60-minütige Making-Of-Dokumentation. Unbedingt empfehlenswert!