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2. Kapitel

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Wie erstarrt stand er auf seiner Dachterrasse in unmittelbarer Nähe zum Tiergarten und blickte mit leerem Gesichtsausdruck auf die Wolke. Es war nur ein flüchtiger Gedanke, der sofort wieder verschwunden war. Jetzt war die Wolke, die das Aussehen eines Löwenkopfs hatte, gerade im Begriff sich vor die Sonne zu schieben.

Von der Straße drangen die Geräusche der Spaziergänger, die an der Spree entlang spazierten, bis hinauf zur Terrasse. Dazu kam das Gemurmel der Besucher, die auf dem Restaurantschiff ihren Kuchen aßen und dazu ihren Kaffee tranken oder ein verspätetes Frühstück einnahmen.

Seinen fünfundvierzigsten Geburtstag hatte er gerade hinter sich gebracht, den er wie immer nicht gefeiert hatte, nein das war falsch, vor dem er regelrecht geflüchtet war. An seinen Schläfen konnte man bereits die ersten vereinzelt ergrauten Haare sehen, trotzdem zeigten sich in seinem Gesicht fast keine Falten. Die Einkerbungen an der Stirn, die im Laufe der Jahre immer tiefer geworden waren, beruhten auf anderen Ursachen.

Wie heute Morgen trug er immer noch seinen Jogginganzug, an dem nur wenige Schweißflecke zu sehen waren, die auf sportliche Betätigung schließen ließ. Er hatte es die ganze Zeit geahnt, die Zeit heilt keine seelischen Wunden, sie verdeckt nur, was nicht vergessen werden kann.

Trotz seines Alters war er körperlich fit, bei einer Größe von einem Meter fünfundachtzig wog er nur achtundsiebzig Kilo. Seine Fitness hatte er seinen ehemaligen Kollegen in New York zu verdanken, deren Fitness- und Laufwahn ihn langsam auch dazu animiert hatte es ihnen gleichzutun.

Fast alle aus seinem ehemaligen Büro liefen jeden Sonntag mehrere Kilometer durch den Central Park, dabei war es gleichgültig, welchem Geschlecht man angehörte. Obwohl noch neu in dem Büro versuchten ihn alle zu überreden mitzulaufen. Er trotzte ihren Überredungskünsten, weigerte sich standhaft, bei diesem wahnwitzigen Treiben mitzumachen, seinem Körper mit diesen Anstrengungen Gewalt anzutun.

Es war schließlich Rachel, die ihn überredet hatte mitzumachen, es zu versuchen, um auch Teil ihrer Gemeinschaft zu werden. An diesen sonntäglichen Läufen teilzunehmen sollte neben dem Gruppenerlebnis auch das Miteinander im Büro fördern. Dies war eines der Hauptargumente, die ihm jeder auf andere Weise einzureden versuchte.

Sie waren immer in einer Gruppe von bis zu fünfzehn Personen gelaufen und sie waren fit. Bei Gott waren die fit, wenn er daran dachte, wie schnell er bei seinen ersten Versuchen außer Puste war. Dann musste er eine Pause einlegen, wobei er sich auf die Treppen am Ostufer des Jacqueline Kennedy Onassis Reservoirs setzte, die sich zwischen Guggenheim und Jüdischem Museum befanden.

Wieder erholt, wartete er, bis die Gruppe erneut vorbeikam, um zu einer weiteren Runde anzusetzen, damit er sich wieder anschließen konnte. Langsam bekam er die Kondition, um mit den anderen mitzuhalten, merkte dabei, dass er mit dem Laufen auch vor Problemen weglaufen konnte, woraufhin er sein neues Hobby immer exzessiver betrieb.

Bald konnte er mit den besten Läufern der Gruppe mithalten, sodass sich alle über seine Wandlung wunderten, sollte er vom Saulus zum Paulus geworden sein. Erneut war es Rachel, die ihn ansprach, sie hatte die Vermutung, dass er vor etwas davonlaufe, trotzdem fand sie ihn so attraktiv, dass sie immer häufiger seine Nähe suchte. Seine negativen Erfahrungen mit Beziehungen, die bisher immer gescheitert oder katastrophal verlaufen waren, führten dazu, dass er, so weit es möglich war, auswich. Er wollte mit ihr weder über seine Probleme reden, noch wollte er ihr sein Herz ausschütten.

Den Job als Art Director bei der Werbefirma in New York hatte genau er aus diesem Grunde angenommen. Es war mal wieder eine Beziehung gescheitert, sodass er sich entschloss, eine gravierende Änderung in seinem Leben vorzunehmen. Ein paar Jahre zuvor war er von einer amerikanischen Firma angesprochen worden, ob er nicht wechseln, nach New York kommen wolle.

Er rief an, sein ehemaliger Gesprächspartner war immer noch da, hatte sogar Karriere gemacht. Als er jetzt erfuhr, dass sein Werben, wenn auch mit Verzögerung, Erfolg gehabt hatte, lud er ihn umgehend ein, seine Zelte in New York aufzuschlagen.

Sie machten ihm die Eingewöhnung leicht, abwechselnd luden sie ihn an den Wochenenden in ihre Familien ein, damit er diese nicht allein verbringen musste. Er lernte dabei die amerikanische Herzlichkeit aber auch die Oberflächlichkeit kennen, alles, was nicht Amerika direkt oder indirekt betraf, war unwichtig, aber er gewöhnte sich daran, es lenkte ihn ab. Diese unbeschwerte Form der Kreativität, die in Deutschland immer etwas gezwungen wirkte, machte im Spaß, ja sie befeuerte in regelrecht.

Sie mochten ihn, „the nice German boy“, obwohl er eher introvertiert war, sich Häufiger als gewünscht zurückzog, war er höflich und nett. Trotzdem hielt seine vor langer Zeit errichtete Mauer allen Abrissversuchen seiner neuen Kollegen stand. Er wehrte sich auch lange standhaft den Versuchen seiner Kollegen, ihn in die sonntägliche Laufbewegung einzubinden. Nun hatten sie ihn weich gekocht, er hatte zugesagt, es wenigstens zu versuchen.

Nachdem er sich entschlossen hatte es versuchen zu wollen, ließen sie nicht mehr locker. Rachel wurde abkommandiert ihn an die Hand zu nehmen und dafür zu sorgen, dass ihm die benötigte Ausstattung auch bis Sonntag zu seiner Verfügung stand.

Aus diesem Grund verabredeten sie sich am Samstag um zehn Uhr vormittags an der Metrostation Fifth Avenue / 53rd Street. Von da wollten sie dann gemeinsam die Fifth Avenue bis 6 East 57th Street laufen. Dort würden sie auf die Auswahl treffen, die dafür sorgte, dass der nächste Tag mit dem erforderlichen Equipment stattfinden konnte.

Sie trafen sich um zehn Uhr vor der Metrostation, wobei er Rachel beinahe nicht erkannt hatte, als sie in ihrer sommerlich leichten Bekleidung auf ihn zukam. Sie hatte die sportliche Variante gewählt, die er bisher noch nicht kannte, dabei konnte ihr Shirt allerdings unter sehr heiß in doppelter Bedeutung subsumiert werden. Augenscheinlich hatte sie auch vergessen, einen BH unter dem bisschen T-Shirt unterzubringen.

Sie sprach ihn an, es war die Stimme, die er zuerst erkannte, dann riss er seine Augen auf, was sie lächelnd zur Kenntnis nahm. Im Gegensatz zum Büro hatte sie auf jegliche Farbe im Gesicht verzichtet, außerdem trug sie ihr schulterlanges Haar offen. Diese Wirkung von Natürlichkeit mit einem Schuss Sommersprossen faszinierte ihn augenblicklich.

Sie hakte sich bei ihm unter, zeigte in die Richtung, die sie die Fifth Avenue entlang gehen mussten. Auf seine Frage, in welches Sportgeschäft sie ihn entführen wollte, zeigte sie nur auf ihre Schuhe, deren Herkunft durch das Logo bestimmbar war.

Zielbewusst führte sie ihn im Niketown zu den Schuhen, wobei sie ihm erklärte, alle anderen Klamotten, die er noch benötigen würde, wären nicht so wichtig, das Wichtigste sind die Laufschuhe.

Sie fragte nach seiner Größe, dann wählte sie ein Paar aus und brachte diese zum Probieren. Er versuchte noch zu lesen, was auf den Schuhen stand, irgendetwas mit Max Air aber genau hatte er es nicht lesen können, als sie ihn nachdrücklich auf einen Stuhl drückte.

Er wusste nicht genau, was hier geschah, sie saß vor ihm auf einem kleinen Hocker, hatte seinen Fuß genommen dann einfach auf einer leicht schrägen Abstellfläche abgestellt. Verwundert blickte er zu wie sie begann, seinen linken Schuh auszuziehen, wobei sie ihren Kopf in den Nacken legte, um ihn von unten anzulächeln.

Er ließ es geschehen, es war ja auch nicht unangenehm, außerdem schien es ihr Freude zu bereiten. Nachdem sie ihm den Laufschuh angezogen hatte, sollte er sagen ob er zu groß oder zu klein sei oder ob dieser sogar passen würde. Er stellte sich auf den Fuß, wippte ein paar Mal um den Sitz zu testen, dann meinte er, dass er wunderbar an seinem Fuß sitzt.

Er musste sich erneut setzen damit sie den zweiten Schuh anziehen konnte dann führte sie ihn zu einem Laufband. Hier sollte er probeweise seine erste Meile laufen, wie sie lächelnd hinzufügte, dann schaltete sie ein. Er hatte noch nie auf so einem Teil gestanden, beinahe wäre er bei seinem ersten Versuchen auf der Nase gelandet. Es musste wohl sehr lustig ausgesehen haben, wie er versuchte einen Sturz zu vermeiden, denn Rachel, aber auch ein paar andere Zuschauer bogen sich vor Lachen. Er machte gute Mine zu dem verunglückten Auftritt, sie konnten ja nichts dafür, dass er sich etwas ungeschickt anstellte.

Er hatte, trotz seines Missgeschicks festgestellt, dass die Schuhe etwas zu klein waren, was er jetzt loswerden musste, vielleicht konnte er ihren Lachflash damit unterbrechen. Sie nickte, sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischend führte sie ihn wieder durch die grinsende Meute zu seinem Stuhl.

Lachend erklärte sie ihm, dass sie zuerst noch Laufsocken besorgen wolle, um dann mit größerer Schuhkollektion wiederzukommen. Immer noch lachend verschwand sie aus seinem Gesichtsfeld, während er etwas peinlich berührt versuchte, die Schnürbänder zu öffnen, um die Schuhe loszuwerden.

Etwas beruhigt aber immer noch mit Lachfältchen um die Augen kam sie zurück und streichelte ihm über die Wange. Sorry, es sah so lustig aus, dabei sah sie ihn so unschuldig an, dass er ihr nicht böse sein konnte. Sie erklärte ihm, dass die Laufsocken keine Nähte hätten, deshalb könnten sie auch keine Blasen oder sonstige Verletzungen beim Laufen verursachen.

Jetzt sollte also das Ganze noch einmal erfolgen dieses Mal aber mit den Laufsocken. Bevor er reagieren konnte, hatte sie bereits seinen Fuß in ihren Händen und zog ihm seine Strümpfe aus. Es war ihm unangenehm, gottseidank hatte er heute Morgen ausgiebig geduscht, dabei auch seine Füße nicht vergessen.

Es schien ihr nichts auszumachen, manchmal hatte er das Gefühl sie würde darüber streicheln, sie blickte ihn jetzt auch nicht mehr an. Nachdem er beides an den Füßen hatte, ging es erneut zu dem Laufband, wo es sehr viel besser lief als beim ersten Mal.

Es war alles in Ordnung, alles passte, er war nicht gestolpert, allerdings war er bereits nach den paar Schritten auf dem Laufband außer Atem. Sie gab ihm die Hand um ihm herunter zu helfen dabei meinte sie nachdenklich, an Deiner Kondition werden wir wohl noch etwas intensiver arbeiten müssen. Wie auch immer, jetzt gingen sie erst einmal zu ihrem Platz zurück, er wollte wieder seine normalen Schuhe an den Füßen spüren.

Das sollte sich allerdings als undurchführbar erweisen, die Schuhe waren weg. Wer zum Teufel klaute gebrauchte Schuhe. Sie fragten sich durch das umstehende Personal, alle zuckten nur mit den Schultern und drückten ihr Bedauern aus. Nicht ohne zu vergessen darauf hinzuweisen, dass man selbst auf seine Schuhe aufpassen muss.

Sie war geknickt, es war ihr anzusehen, sie hätte es eigentlich wissen müssen. Er beruhigte sie, es war kein Weltuntergang, er brauchte nun eben noch ein Paar Schuhe, damit er wechseln konnte.

Mit den Sportschuhen, die er jetzt an den Füßen trug, sowie den anderen dringend erforderlichen Laufutensilien gingen sie zur Kasse, wo er der Kassiererin seine Kreditkarte reichte. Er blickte etwas verwundert auf, als die Kassiererin ihm sagte, in welcher Höhe sie diese belasten würde. Als er unterschrieb, standen siebenhundertachtundvierzig Dollar und fünfzig Cent auf dem Beleg, den er achselzuckend einsteckte.

Rachel war wegen seiner Schuhe immer noch unangenehm berührt, als sie erneut ansetzen wollte, um sich zu entschuldigen, unterbrach er sie. Erstens hast Du die Schuhe nicht entwendet, Du brauchst Dich deshalb auch nicht schuldig fühlen. Eigentlich stehe ich in Deiner Schuld deshalb lade ich Dich, als Belohnung für Deine kompetente Beratung, zum Kaffee ein. Jetzt war er es der sie anlächelte, nimm es Dir nicht zu Herzen, es waren wirklich nur Schuhe ohne goldene Schnürbänder oder sonstige Besonderheiten.

Er hatte sich bereits am Tag der Entscheidung vorgenommen, Rachel als Belohnung für ihre Mühe, die sie mit ihm haben würde, zum Lunch einzuladen. Den Tisch im Le Bernardin hatte er für den frühen Nachmittag bestellt, es sollte eine Überraschung für sie sein. Er kannte die Gegend ein bisschen, da er an manchen Wochenenden hier spazieren gegangen war, er wusste also, dass das Restaurant etwa eine halbe Meile von hier entfernt lag. Er hatte sogar einen kleinen Umweg eingeplant, da er mitbekommen hatte, dass nicht an allen Straßen Fußwege vorhanden waren.

Die Überraschung war gelungen, sie hatte zwar schon von dem Restaurant gehört, hatte aber noch nie darin gegessen, da es ihr zu teuer war. Etwas hatte er vergessen zu berücksichtigen, die Kleidung war nicht angemessen aber scheinbar kein Problem, da man ihnen Jackett und Blazer zum Überziehen anbot.

Sie aßen gut und lange, da sie über vieles redeten, dabei fühlte sie, wie sie dieses angenehme Gefühl des Neuen des sich Kennenlernens genoss. Nach mehr als zwei Stunden machten sie sich gemeinsam auf den Weg zur Metro, wo sie sich gegenseitig für die Wohltaten des jeweils anderen bedankten. Nachdrücklich wie sie ihn auf den nächsten Tag hin, damit er die Verabredung zu ihrem ersten Lauf nicht vergesse.

Sie fuhren getrennte Wege in ihre jeweiligen Wohnungen, als sie das gemeinsame Mittagessen Revue passieren ließ, extrahieren wollte, was sie Neues erfahren hatte. Dabei musste sie feststellen, dass sie nicht viel mehr als vorher wusste. Er hatte sie immer animiert, von sich zu erzählen. Dabei war er so geschickt vorgegangen, dass sie die ganze Zeit geredet hatte, während er sich auf die Rolle des Zuhörers beschränkte. Er war so clever, so verdammt clever, aber jetzt erst recht dachte sie.

Ihm war nicht entgangen, dass sie ihre Kleidung auch deshalb so gewählt hatte, um ihn auf ihre Reize aufmerksam zu machen. Dazu hätte es ihres sexy Outfits nicht bedurft, er fand sie auch so sehr anziehend. Aber er wusste auch, dass jede Beziehung früher oder später in einem Fiasko enden würde. Deshalb fragte er sich häufig, ob er sich oder auch seinen Partnerinnen diese Pein nicht ersparen sollte.

Letztendlich würden erneut zwei Personen verletzt auf der Strecke bleiben, er war inzwischen daran gewöhnt aber wollte er dies wirklich auch Rachel antun. Seine Tendenz ging eindeutig in Richtung Nein, er mochte sie, er würde, um ihr nicht wehzutun, wieder etwas mehr Distanz wahren, versuchen ihr aus dem Weg zu gehen.

Der erste Lauf sollte beginnen, er war pünktlich zum Treffpunkt erschienen, wobei er das am Vortag erworbene Equipment vorführte. Erste anerkennende Pfiffe erklangen, zustimmende Kommentare waren zu vernehmen auch die ersten Lobreden auf Rachel erklangen, der diese unglaubliche Veränderung des German Boy zugeschrieben wurde. Jetzt würde alles wie von selbst gehen, er brauche seinen Beinen nur freien Lauf lassen, dann würde die Strecke in Rekordzeit zurückgelegt werden.

Leider war es doch nicht so einfach, nach etwa zwei Kilometern fing er so an zu pumpen, dass er mit rotem Gesicht stehen blieb. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt er sich die stechende Seite, damit sich alles wieder beruhigen konnte. Er rief den anderen zu, dass er eine Pause einlegen wolle, bei der nächsten Runde aber wieder dabei sein würde.

Rachel erbot sich, bei ihm zu bleiben, ihm zu helfen, was er vielleicht zu barsch zurückwies. Er wollte, er musste sie auf Abstand halten, bevor es zu spät war. Er setzte sich auf die Treppen am Ostufer des Reservoirs und wartete, dabei blickte er über den See, versuchte ruhig zu atmen, wie seine Kollegen es ihm vorher gezeigt hatten. Als die Gruppe erneut auftauchte, hatte er sich so weit erholt, dass er wieder mit einsteigen und mitlaufen konnte.

Die Kondition kam langsam aber stetig, jeden Sonntag versuchte er, aufs Neue bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit zu gehen. Nach vier Monaten war er bereits so fit und konditionell so stark, dass er mit den Cracks in der Gruppe mitlaufen konnte.

Dies ging so weit, dass er weiter im Central Park lief, während die anderen bereits auf dem Weg nach Hause waren. Rachel hatte sich etwas zurückgezogen, sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte, aber es musste etwas Schlimmes gewesen sein, sonst hätte er nicht so reagiert. Sie war aber immer mehr davon überzeugt, dass er vor etwas davonlief, worüber er nicht reden wollte.

Währenddessen drehte er unermüdlich seine Runden in der Hoffnung einer baldigen Erschöpfung. Mochten andere doch annehmen, dass er vor etwas davonlief, es war ihm egal, er hatte festgestellt, dass er die Erschöpfung suchte, ja sogar brauchte. Manchmal überkam ihn das Gefühl oder war es bereits Gewissheit, dass die Ausschüttung der Endorphine ebenso brauchte wie die Erschöpfung. Er war wie ein Junkie, der begierig auf seinen nächsten Schuss wartete, diesen regelrecht herbeisehnte.

Er lief, im Sommer wie im Winter, egal bei welchem Wetter er war mit seinen Max Air unterwegs, inzwischen hatte er bereits das zweite Paar. Er lief vorbei an den acht Seen, an Gedenkstätten wie Strawberry Fields. Hier hatte neunzehnhundertfünfundachtzig Yoko Ono einen kleinen Bereich im Central Park John Lennon gewidmet, der am achten Dezember neunzehnhundertachtzig ermordet worden war.

Er hatte davor gestanden vor dem kreisrund gestalteten Mosaik aus schwarzen und weißen Steinchen, in dessen Zentrum, in Anlehnung an seinen vielleicht berühmtesten Titel Imagine zu lesen stand.

Und er stellte sich vor, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er in Strawberry Fields gewesen wäre, jenem Waisenhaus bei Liverpool. In dessen Garten Lennon gespielt hatte, nicht an dem Ort, den er immer noch als Belastung mitschleppte. Er freute sich aber auch über The Gates of Christo, an der Installation der siebentausendfünfhundert Tore aus safrangelben Stoffbahnen. Er hatte sie alle durchlaufen, sich an ihnen erfreut, inzwischen war der Central Park zu seinem zweiten Zuhause geworden.

Im Büro machten sich einige schon Vorwürfe was sie mit ihrem Vorschlag ausgelöst, was sie damit losgetreten hatten. Trotz, oder vielleicht auch deswegen, seiner Kreativität taten diese Strapazen, diese immerwährenden Erschöpfungszustände an den Wochenenden keinen Abbruch. Es bewirkte eher das Gegenteil, er schien nach solch einem Wochenende zu neuen Höchstleistungen aufzulaufen.

Es hatte den Anschein, als wären seine Gedanken fokussiert, nichts konnte ihn ablenken, als hätte er beim Laufen unnützen Ballast abgeworfen. Immer wenn gedankliche Flaute in der Agentur eintrat, die Ideen ausblieben, fragte ihn der Leiter der Agentur, ob er nicht den Central Park unsicher machen wolle.

Er war jetzt fast vierzig Jahre und fühlte zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Zufriedenheit, seine Gedanken schweiften nicht mehr ausschließlich in die Vergangenheit. Rachel, die diese Entwicklung mit zwiespältigen Gefühlen betrachtete, ahnte eine dunkle Seite, die irgendwann ausbrechen würde. Sie fragte sich verzweifelt, was sie tun, wie sie helfen, ob sie das Unglück verhindern könne.

Sie sprach mit niemandem, alle hätten sie ausgelacht, hätten ihre Bedenken kleingeredet, vielleicht hätten sie ihr auch unterstellt sie sei sauer, weil sie nicht bei ihm landen konnte. Es gab durchaus Tuscheleien und Gerüchte, zwischen ihr und Matthias sei irgendetwas im Gange, auf alle Fälle wäre sie scharf auf ihn.

Diese Zufriedenheit, sowie das Fehlen bestimmter Auslösemechanismen führten dazu, dass die Hoffnung wuchs endlich alles überwunden zu haben. Es war endlich vorbei, es war vorbei, es war vorbei, es war endlich vorbei, das Leben war also auch für ihn wieder lebenswert. Es hatte lange gedauert, aber wenn jetzt alles vorbei war, dann wollte er verzeihen und vergessen.

Rachel nahm diese innere Zufriedenheit, diese neue Gelassenheit als Erste wahr, was auch nicht besonders verwunderlich war, sie hatte ihn auch am meisten und am intensivsten beobachtet. Für Sonntag nahm sie sich deshalb etwas Besonderes vor, sie wollte später zu der Laufgruppe dazustoßen, erst bei der Vierten von üblicherweise fünf Runden mitlaufen.

Nach Abschluss und Verabschiedung der Gruppe wollte sie Matthias bitten, ob sie noch etwas mit ihm zusammenlaufen dürfe, sie hoffte, so wieder Zugang zu ihm zu erhalten. Er war zwar die ganze Zeit höflich und zuvorkommend zu ihr gewesen, das war aber nicht, was sie wollte.

Das geplante Zusammentreffen klappte wie vorhergesehen, entgegen ihrer Befürchtung war Matthias bester Stimmung und freute sich zusammen mit ihr zu laufen. Nach weiteren vier Runden merkte er, wie Rachel nach und nach mehr verkrampfte, mit seinem Tempo zu kämpfen hatte. Er beendete die Runde mit ihr, dann erklärte er ihr, dass auch er für heute genug hätte und aufhören wolle.

Sie war extra mit dem Auto gefahren, obwohl sie selbst über keines verfügte. Eine Freundin hatte sich sofort bereit erklärt, ihr das Auto zu überlassen, als Rachel ihr ausmalte, welchen Zweck sie damit verfolgte. Wenn Du den Typ aufreißt, habe ich aber etwas gut bei Dir, sagte diese noch, als sie ihr den Fahrzeugschlüssel in die Hand drückte.

Aus Spaß erwiderte diese, Du darfst die Brautjungfer sein, beide lachten, keine nahm diese Aussage ernst. Nun bot sich die Gelegenheit ihren Trumpf auszuspielen, Du kannst bei mir mitfahren, ich habe übers Wochenende das Auto meiner Freundin. Nicht ganz wahrheitsgemäß fügte sie hinzu, sie ist dieses Wochenende verreist.

Fragend blickte er sie an, was stellte sie sich vor, noch konnte er keinen Vorteil erkennen, aber er konnte sich ja anhören, was sie sich vorstellte. Früher hatten sie sich immer an dem Fahrzeug eines Kollegen umgezogen, danach war er mit der Metro nach Hause gefahren. Seit er länger lief, hatte er seine Route immer so gelegt, dass er an der Metrostation sein Laufen beendete, die drei Stationen nach Hause dann in seiner verschwitzten Laufkleidung fuhr. Am Anfang war es ihm unangenehm, mit der durchgeschwitzten Laufkleidung in der Metro zu fahren, bis er festgestellt hatte, dass andere es ihm gleich taten.

Da seine Wohnung sehr viel günstiger zum Park lag als ihre, hatte sie sich auf alles vorbereitet. Ich kann Dich nach Hause bringen, dafür darf ich bei Dir duschen, Sachen zum Wechseln habe ich dabei, danach könnten wir noch gemeinsam frühstücken. Ist das ein Vorschlag, sie blickte ihn fragend an. Sie war sich sehr wohl bewusst, dass sie bei ihrer Größe den Kopf in den Nacken legen musste, dabei sehr hilflos wirkte, wenn sie ihn entsprechend ansah. Sie kannte diese Wirkung, jetzt setzte sie diese gezielt ein.

Er überlegte kurz, OK einverstanden, wenn ich Dich nachher zum Frühstück einladen darf. Sie atmete innerlich erleichtert auf, ungewohnt burschikos aber auch zurückhaltend ging sie darauf ein, indem sie einfach mit „Einverstanden“ antwortete.

In seiner Wohnung angekommen zeigte er auf die Tür des Badzimmers, Du darfst zuerst duschen, ich mach uns einen Kaffee, es kann ja nicht schaden, vorher einen Kaffee zu trinken. Sie nickte, nahm ihre Tasche, dann verschwand sie in dem Badezimmer, sie verschloss die Tür absichtlich nicht, wenn er reinkommen wollte, dann sollte kein Hindernis zwischen ihnen sein. Sie duschte sehr ausgiebig, sie hatte ihre teuerste Duschlotion mitgenommen, danach nutzte sie ausgiebig ihr bevorzugtes Lieblingsparfüm. Es sollte nicht, am sich nicht riechen können, scheitern.

Er hatte keinen Versuch unternommen zu ihr ins Badezimmer zu kommen, das war aber nicht so schlimm. Die Waffen einer Frau konnten in vielfältiger Natur eingesetzt werden, sie war gerade erst am Anfang. Als sie aus dem Bad erschien, wirkte sie dezent in ihrem Outfit, sie hatte gelernt, wie leicht er zu verschrecken war, dieses Mal wollte sie alles richtig machen. Du kannst ins Bad, rief sie in die Küche, wo er an einem Tresen stand und Kaffee trank.

Er trank seine Tasse aus, Kaffee ist fertig in der Maschine, leider habe ich keine Milch, er wusste also, dass sie ihren Kaffee im Büro immer mit Milch trank.

Das macht nichts murmelte sie, konnte sich aber nicht vorstellen, dass er sie noch gehört hatte. Sie nahm sich den Kaffee, dann blickte sie sich um, eigentlich ganz angenehm, auch wenn man auf den ersten Blick sah, dass hier ein Mann allein lebte. Sie öffnete den Kühlschrank, die Vorurteile über Kühlschränke und Männer wurden hier in exemplarischer Art bestätigt. Er war einfach nur leer bis auf einen Joghurt, sie wollte sehen welche Sorte, es war egal, dessen Haltbarkeitsdatum war bereits vor mehr als zwei Monaten abgelaufen.

Sie beschloss, sich die Zeit zu nehmen, Matthias schien ein besonderes Exemplar der Gattung Mann zu sein. Er stand in der Küchentür, die Haare immer noch feucht, nur mit den Händen irgendwie in Form gebracht, mit T-Shirt und Hose. Sie blickte an ihm abwärts, bemerkte, dass er barfuß mit fragendem Blick vor ihr stand.

Wenn sie ihn nicht schon geliebt hätte, so hätte sie sich jetzt spontan in ihn verliebt. Er schien zu warten, dann kam die Frage noch mal, hast Du dir überlegt, wo wir frühstücken wollen. Sie schüttelte den Kopf, nein meinte sie leise, wenn sie recht überlegte, hatte sie keinen Hunger mehr.

Sie wollte doch keinen Fehler machen, sie riss sich zusammen, forsch fügte sie hinzu. Du kennst dich in der Gegend besser aus, wenn man Rückschlüsse auf den Inhalt in Deinen Kühlschrank zieht, dann kennst Du bestimmt alle Cafés in der Gegend.

Ich warne Dich, wenn ich frühstücke dann meist europäisch im Mont Blanc, in die 48th Street.

OK, wird eine neue Erfahrung für mich, lass es uns probieren.

Den Fehler, den sie beim letzten Mal gemacht hatte, wollte sie korrigieren, sie wollte hinter das Geheimnis dieses Mannes kommen, sie würde heute die Fragen stellen. Sie war verwundert, was man doch in Europa so zum Frühstück aß. Gottseidank gab es auch amerikanisches Frühstück, um sich langsam an das Ungewohnte zu gewöhnen, mischte sie aus beiden Kontinenten ein paar Kleinigkeiten. Sie wunderte sich nur, mit welch ungeheuerem Appetit, er die unfassbare Menge an süßen Speisen vertilgte.

Sie redeten über dieses und jenes, über das Büro, die Kollegen dabei versuchte er erneut sie zu animieren von sich zu erzählen. Doch dieses Mal war sie vorbereitet, agierte so, wie er es beim letzten Mal gemacht hatte. Er gab bereitwillig Auskunft über sein Leben in Deutschland, seine berufliche Entwicklung oder die Werbekampagnen, die er geleitet und initiiert hatte.

Allerdings schien es immer einen Bruch zu geben, wenn sie auf frühere Beziehungen eingehen wollte, ihn verdeckt danach fragte. Er wich aus, wollte nicht darüber reden, es schien als hätte es ein Leben davor nicht gegeben. Seine Antworten waren ausweichend, wenn sie weiter insistierte, wurde er abweisend bis zur Unfreundlichkeit.

Nun wusste sie, welche Themen sie tunlichst vermeiden sollte, wenn sie wollte, dass sie sich näherkommen, sie hatte aber auch gemerkt, dass sie sich Zeit lassen musste.

Die nächsten Monate vergingen wie im Flug, sie unternahmen vieles gemeinsam, besuchten Veranstaltungen, gingen in Konzerte. Zu ihrer Verwunderung war er auch an Kunst interessiert wenn sie wieder eine neue Ausstellung in einem weniger bekannten Museum entdeckt. Die Jahreszeiten zogen an ihnen vorbei, mittlerweile hatte sich ihre Beziehung geändert, sie waren Freunde geworden.

Sie hatte inzwischen ein Gefühl entwickelt, welchen Stand seine derzeitige Gefühlslage aufwies, sie hatte gelernt, mit seinen Gefühlsschwankungen umzugehen. Sie wusste, wann sie sich zurückziehen musste, wenn er allein sein wollte und sie spürte, wenn er ihre Nähe und Zuneigung zuließ.

Er war inzwischen seit fast drei Jahren in den USA, im Büro mochten sie ihn, es schien als führe er ein zufriedenes, ein ausgeglichenes Leben. Sie wusste es inzwischen besser, sie hatte ihn in den unterschiedlichen Phasen erlebt sich gewundert, dass keiner der anderen Kollegen dies bemerkt hatte.

Er musste ein ausgezeichneter Schauspieler sein, wie sonst war es möglich, das alles zu verstecken, was sie in unterschiedlichen Phasen miterlebt hatte. Sein über die Maßen ausgeprägtes impulsives Verhalten, welches sich abwechselte mit diesem Gefühl von permanentem betäubt sein.

Was ihr auch immer zu schaffen machte, waren diese Störungen in seinen Beziehungen, dann spürte sie seine Gleichgültigkeit, seine Teilnahmslosigkeit gegenüber anderen Menschen oder Tieren, auch gegen sie. Es machte sie wütend, aber sie konnte ihm nie lange böse sein, wenn sie zu erkennen glaubte, dass diese emotionale Abgestumpftheit nur als Schutzreaktion auf ihr Verhalten war. Auch die Gespräche mit ihm in solchen Phasen führten zu irrationalen Angstzuständen, seine Angst in seinem Beruf zu versagen oder sein Zurückziehen in eine Art Todessehnsucht.

Alles dies hatte sie in den letzten gemeinsamen eineinhalb Jahren, die sie näher und intensiver mit ihm verbracht hatte, mit Schrecken erlebt und durchlebt. Häufig fragte sie sich, wie lange kann er dieses Gefühlschaos, diesen Wechsel seiner Ängste unbeschadet überstehen. Immer wenn sie fühlte, wie er in seiner Todessehnsucht versank, hatte sie Angst um ihn und hoffte, dass er kämpfen würde, diese zu überwinden. Sie konnte, nein sie durfte ihm nicht helfen, er sperrte sie aus, es war, als würde er sie vor sich selbst schützen wollen.

Trotz oder vielleicht auch wegen seiner nur für sie ersichtlichen Zustände liebte sie ihn. Sie wollte immer bei ihm sein, ihn beschützen, ihm helfen, mit ihm gemeinsam diese traumatischen Erlebnisse zu überwinden. Sie war inzwischen überzeugt, dass es eine oder mehrere traumatische Erlebnisse gegeben haben musste, in einer Zeit, die weit zurücklag.

Es gab keine sexuelle Beziehung zwischen ihnen, auch wenn im Büro darüber getuschelt wurde, keine der Kollegen neidete es ihnen, nein sie gönnten beiden ihr gemeinsames Glück.

Wenn sie gewusst hätten, wie die Realität aussah, sie hätten die Welt nicht mehr verstanden. Sie sahen nur, wie sie häufig sehr liebevoll miteinander umgingen, auch wenn ein Austausch von Zärtlichkeiten im Büro bisher von niemandem beobachtet werden konnte.

Ihr Geburtstag war der Auslöser, sie waren gemeinsam essen gegangen, hatten sich bestens amüsiert, Matthias war seit Längerem in ausgesprochen zuversichtlicher und fröhlicher Stimmung und es wurde ein wunderbarer Abend. Sie unterhielten sich und Matthias erzählte ihr von all dem Schönen im alten Europa, ganz besonders von Deutschland. Diese besonderen Orte, über die er teils so plastisch erzählte, dass sie glaubte, mit ihm da gewesen zu sein. Sie wusste es inzwischen besser, aber jeder andere Zuhörer hätte sich gewundert, dass nie Personen Teil dieser Erzählungen waren.

Nachdem er bezahlt hatte, gingen sie noch spazieren, auch wenn der Herbst bereits seine ersten Anzeichen schickte, hatte er an diesem Abend ein Einsehen mit ihnen. Der ganze Tag war heiter verlaufen, das Wetter hatte sich dieser heiteren Stimmung angepasst. Die Sonne schien während des ganzen Tages, auch wenn die Intensität in den letzten vier Wochen stark nachgelassen hatte. Der heutige Tag schien die Wetterkapriolen der letzten Tage Lügen zu strafen, oder es war ein verzweifeltes Aufbäumen des Sommers gegen den bevorstehenden Herbst.

Kein Wind störte die laue Luft die sich samten an ihre Gesichter schmiegte, als wollte das Wetter unterstützend in diese Beziehung eingreifen. Er rief ein Taxi, er wollte sie nach Hause bringen. Als das Taxi vor ihrer Tür ankam, griff sie in ihre Tasche, gab dem Taxifahrer zwanzig Dollar, danke sehr wir brauchen Sie nicht mehr. Dann zog sie ihn aus dem Taxi, komm mit sagte sie einfach ohne Pathos oder Aufgeregtsein, ich möchte heute nicht alleine sein.

Es wurde die Nacht, die sie sich seit Langem erträumt hatte, er war zärtlich, liebevoll und zurückhaltend. So hatte sie sich die erste Nacht mit ihm erträumt, dass es an ihrem Geburtstag geschehen war, machte es zusätzlich zu etwas Besonderem. Die Zeit, die jetzt kam, schien alle Bedenken zu zerstreuen, er war einfach nur lieb zu ihr, alle vorherigen Gefühlsverwirrungen schienen wie weggeblasen.

Ihre zeitweiligen Bedenken hatten sich in Luft aufgelöst ihre geheimsten Wünsche waren in Erfüllung gegangen. Deshalb war es nicht ungewöhnlich, dass ihr das Glück aus jeder Pore zu sprießen schien. Auch ihre Freundin, die ihr vor langer Zeit ihr Auto geborgt hatte, wie lange war das eigentlich her, erinnerte sie an ihr Versprechen, dass sie die auserkorene Brautjungfer sein durfte.

Die Zeit verflog, Weihnachten flog sie, mit ihm im Gepäck, zu ihren Eltern, um ihn vorzustellen, er sollte der Auserwählte sein. Ihr Vater hatte sie seit Langem aufgezogen, ihr prophezeit, dass sie nie einen Mann mit nach Hause bringen würde außer der Weihnachtsmann, würde ihr den unter den Weihnachtsbaum legen.

Er fühlte sich sofort wohl, eine Familie wie diese hatte er sich immer gewünscht, wenn er in seiner Traumwelt versunken war. Er wurde, obwohl nicht Amerikaner, mit offenen Armen empfangen, umarmt, liebevoll in der Familie aufgenommen.

Rachel hatte ihn bereits vorbereitet, ihre kleine Schwester würde ebenfalls die Weihnachtsfeiertage in ihrem Elternhaus verbringen, sie kam aus San Francisco, wahrscheinlich brachte diese, wie seit Jahren, wieder einen Freak mit.

Ihr Flug würde fünf Stunden dauern, da ihr Elternhaus in Eugene in Oregon lag, einmal quer über den Kontinent. Kimberley, oder wie sie lieber genannt wurde, Kim holte sie vom Flughafen ab. Dabei konnte er miterleben, wie sehr sie sich freute, ihre kleine Schwester nach einem Jahr wieder zu sehen.

Diese sah ihrer Schwester überhaupt nicht ähnlich, im Gegensatz zu ihr hatte sie ein immer fröhliches lachendes Gesicht, als wenn es in ihrem Leben noch nie ein ernsthaftes Problem gegeben hätte.

Sie betrachtete Matthias ziemlich offensichtlich, fast schon provokant, dann nickte sie ihrer Schwester zu, jetzt kann ich verstehen, weshalb Du so lange gewartet hast. Damit hakte sie sich bei ihm ein, während Rachel den Gepäckwagen schieben musste. Auf dem Weg zum Auto fragte Rachel sie, was für einen Freak hast Du dieses Mal angeschleppt oder soll ich mich überraschen lassen.

Du brauchst dich nicht überraschen lassen, dieses Mal bin ich ohne Anhang gekommen, ich wusste doch, dass Du jemand mitbringst, dabei grinste sie ihre Schwester frech an. Sie neckten sich während der gesamten Fahrt, Matthias saß auf dem Rücksitz und amüsierte sich, er fand es schön, zu sehen, wie Familie auch funktionieren konnte.

Rachel hatte ihre Eltern vorbereitet, dass Matthias Deutscher und kein Amerikaner ist, wie ihr Vater es sich gewünscht hatte. Sie waren nicht praktizierende Juden, hatten das Weihnachtsfest nur der Kinder wegen eingeführt. Inzwischen war es zu einer Institution innerhalb der Familie geworden, damit sich einmal im Jahr alle Familienmitglieder treffen konnten, um diesen Tag gemeinsam zu verbringen.

Niemand in der Familie hatte Vorurteile gegen ihn, weil er aus dem Land kam, deren schreckliche Vergangenheit kein Jude je vergessen konnte. Wenn man ihren Vater gefragt hätte, wäre seine Antwort gewesen, dass er sich freue, dass Rachel endlich das Glück gefunden zu haben schien, welches sie verdient hatte. Rachel war immer sein Sorgenkind gewesen, nicht weil sie weniger hübsch als Kim gewesen wäre, nein, eigentlich war sie sogar hübscher, Sorgen machte ihm nur ihre Ernsthaftigkeit.

Neugierig blickte er aus dem Fenster, er war inzwischen neugierig auf den Deutschen geworden, der Empfang durch das Wetter war ja nicht besonders freundlich zu ihm. Seit Tagen regnete es, wobei die Temperatur nie höher als zehn Grad anstieg, aber das war immer noch besser als New York, welches unter einer weißen Schneedecke lag.

Beim Aussteigen wirkte er ausgesprochen sportlich. Rachel hatte ihm zwar erzählt, dass Matthias viel laufen würde, aber dass er für einen über Vierzigjährigen so sportlich wirken würde, hatte er nicht erwartet. So auf den ersten Blick wirkte er sehr sympathisch, wie er aus dem Auto sprang, Rachel die Tür öffnete, dann erst die gemeinsame Reisetasche ergriff.

Sprachbarrieren waren auch nicht zu überwinden, da er in den inzwischen mehr als drei Jahren die er in den USA lebte, umgangssprachlich dem eines New Yorkers angeglichen hatte. Nur bei bestimmten Begriffen konnte man hören, dass sein Geburtsort nicht in den USA gelegen haben konnte.

Die Weihnachtsfeiertage verliefen ausgesprochen harmonisch, nicht so besinnlich, wie es in Deutschland üblich war, aber fröhlich und ausgelassen, wobei Kim sich besonders hervortat, wenn irgendein Unsinn ausprobiert wurde. Sie war es auch, die beim Mittagessen einfach herausplatzte, fragte, wann sie denn zur Hochzeit kommen könne, schließlich wolle sie ihre Zeitplanung darauf ausrichten. Dies war bisher eines der Themen, die beide nie angesprochen hatten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Rachel winkte ab, lass uns doch Zeit, wir sind gerade etwas mehr als drei Monate zusammen.

Ihre Schwester unterbrach sie, aber Du hast doch schon vor einem Jahr von ihm geschwärmt, dabei setzte sie bewusst einen verwirrten Gesichtsausdruck zur Schau.

Die Röte, die sich bei Rachel über das ganze Gesicht zog sprach Bände, bis Kim laut aufschrie, den Tritt unter dem Tisch wusste sie sehr wohl zuzuordnen. Matthias drückte leicht ihren Arm, um ihr zu zeigen, dass er damit kein Problem hatte, dann wechselte er geschickt das Thema.

Nun war das Thema angesprochen, es konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden, sodass auch andere Familienmitglieder dieses Thema aufgriffen. Rachels Mutter fragte sie im Vertrauen, ob etwas Derartiges geplant sei, ihr Vater fragte sie, ob er die Absicht habe zum Judentum zu konvertieren.

Trotz aller Abwehrmaßnahmen setzte sich der Gedanke auch bei ihr fest, eigentlich wäre es doch nur ein Tritt auf die nächste Stufe ihrer derzeitigen Beziehung. Als sie einen Tag vor Sylvester wieder nach New York zurückflogen, war die ganze Familie überzeugt, dass ihre Tochter respektive Schwester endlich das Glück gefunden hatte, das alle ihr gönnten.

Er war in die Familie aufgenommen worden, ohne Vorbehalte hatten sie ihn Willkommen geheißen, ihm ihre Tür und ihr Herz geöffnet. So hatte er sich immer in seinen Träumen eine Familie vorgestellt, jeder war für den anderen da, sie hätten alle gemeinsam den Kampf gegen jeden Widersacher aufgenommen.

Sylvester feierten sie mit Freunden und Kollegen, auch ihre Freundin mit dem Auto hatte sich angemeldet, sie wollte endlich den Typ kennenlernen, zu dessen Verbindung sie beigetragen hatte. Sie hatten ihren Spaß, alle feierten fröhlich in das neue Jahr, jeder nahm sich etwas Besonderes für das neue Jahr vor, was er endlich angehen oder erledigen wollte.

Im Februar war es, als er die letzten Monate Revue passieren lies. Dabei stellte er fest, dass er schon lange, er wusste nicht ob überhaupt, einen so langen Zeitraum glücklich und unbeschwert gewesen war. Die Gedanken drängten deshalb in den Vordergrund, weil Rachel vorgeschlagen hatte, dass es sinnvoll sei, eine Wohnung aufzugeben, um zusammenzuziehen, da in letzter Zeit immer eine Wohnung ungenutzt war.

Ja es stimmte, Rachel tat ihm gut, sie ahnte nicht, wie gut sie ihm tatsächlich tat, sie hatte seine Träume abgeschaltet. Sie hatten entschieden gemeinsam, seine Wohnung aufzugeben, da ihre Wohnung näher zum Büro lag und was noch wichtiger war, sie war sehr viel wohnlicher. Seine Wohnung hatte auch nach der langen Zeit noch immer den Charakter einer Single Wohnung und es lohnte auch nicht, jetzt etwas daran zu ändern.

In ihrer Beziehung lief es gut, das Vertrauen wuchs, im Büro konnten sich die bestätigt fühlen, die bereits lange vorher die Gerüchte in die Welt gesetzt hatten, dass die beiden ein Paar seien. Auch die Arbeit innerhalb der Werbeagentur war erfolgreich, eine neue Werbekampagne sicherte die Jobs für die nächsten vierzehn Monate. Alles hätte so weiter gehen können, hätte sich die Frage ihrer Schwester nicht so in ihren Gedanken festgesetzt. Sie liebte ihn mehr als sie denken konnte, sie wollte dies aber auch mit einem Ring dokumentieren, damit auch andere ihr Glück daran sehen sollten.

Sie saßen gemeinsam auf den Treppen am Ostufer des Jacqueline Kennedy Onassis Reservoirs, um sich nach ihrem sonntäglichen Lauf etwas zu erholen. Sie lehnte an seiner Schulter, während er melancholisch über den See blickte. Sie sah ihn schon wieder, mit zurückgelegtem Kopf und diesem Ausdruck an, der nichts Gutes verhieß. Sie wusste genau, dass er diesem Blick nicht widerstehen konnte, deshalb erschien dieser immer dann auf ihrem Gesicht, wenn sie unbedingt wollte, dass er ihren Wünschen zustimmte.

Ich habe über das nachgedacht, was Kim an Weihnachten gesagt hat, eigentlich spricht doch nichts dagegen, dass wir heiraten, oder, dabei blickte sie ihn verliebt an. Er erschrak, nach Weihnachten hatte er es in die hinterste Ecke seiner Gedankengänge geschoben, um nicht daran erinnert zu werden. Lass uns in Ruhe darüber reden. Als er einen Schatten über ihr Gesicht ziehen sah, fügte er noch schnell hinzu, es spricht nichts dagegen aber hier ist der falsche Ort darüber zu reden.

Jetzt war es aus der Ecke hervorgezogen, er musste sich damit auseinandersetzen, dabei fragte er sich, welche Risiken dies bedeuten würde. In seinem Kopf ratterte fast automatisch eine Risikoanalyse ab, wie er es aus dem Projektmanagement kannte, in welcher die Vor- und Nachteile sich vor seinen Augen darstellten

Die Vorteile überwogen so erheblich, dass er die Bedenken, die ebenfalls vorhanden waren, überhaupt nicht in Betracht zog. Seit ihrer gemeinsamen Zeit hatten die Träume, dieses emotionale Auf und Ab sowie diese Panikattacken aufgehört, als hätte Rachel diese weggezaubert. Bei ihrem gemeinsamen Gespräch bei Kerzenschein beschlossen sie, dass sie unmittelbar nach den Weihnachtsfeiertagen in Eugene heiraten wollten.

Aus Rücksicht auf die Unvereinbarkeit ihrer Konfessionen wollten sie auf ein kirchliches Zeremoniell verzichten und nur vor einem Standesbeamten heiraten. Das war in Oregon ziemlich unproblematisch, da es ausreichte, drei Tage vor der Hochzeit eine Hochzeitslizenz zu erwerben und die Berechtigung eidesstattlich zu versichern.

Glücklich rief sie überall an, um die freudige Mitteilung zu verbreiten. Als Erstes erzählte sie ihrer Mutter von der geplanten Heirat, die sich für ihre Tochter freute aber auch traurig wegen der einfachen Zeremonie war.

Der nächste Anruf war bei ihrer Freundin, diese sollte ihre Trauzeugin werden, als sie Matthias fragte, wer sein Trauzeuge werden sollte, entschied er sich spontan für Kim. Diese freute sich darüber so sehr, dass Rachel Angst hatte, diese würde durch die Leitung springen, um ihrem Ehemann in spe um den Hals zu fallen.

Sie war überglücklich, deshalb war die zusätzliche Arbeit alles zu organisieren keine Belastung, im Gegenteil, immer wenn sie das Gefühl hatte, müde zu werden, dachte sie an das Ereignis.

Die Gefühle, die ihn beschlichen waren zwiespältig, an manchen Tagen hatte er das Gefühl, dass das Unglück noch kommen würde, es wartete nur versteckt auf eine günstige Gelegenheit. An anderen Tagen genoss er es, wenn er Rachel in Aktion erlebte. Sie ging auf in dem Wunsch, dass alles perfekt vorbereitet sein sollte, nur dann konnte die Abfolge dieses Tages auch vollkommen sein.

Ihr Geburtstag, der zugleich ihr Jahrestag war, sollte einen kleinen Vorgriff auf die künftige Festlichkeit aufzeigen. Sie hatte, da sie wusste, dass er Steaks über alles liebte, einen Tisch im Steakhouse bei Peter Luger am Broadway reserviert. Dieser Tag sollte der erste perfekte Tag im neuen gemeinsamen Jahr werden. Er freute sich, seit Langem hatte er die Absicht dort ein Steak zu essen immer wieder aufgeschoben, nun bekam der Tag den angemessenen Rahmen.

Sie genossen das Außergewöhnliche, ihre Verbundenheit setzte sich fort bei der Wahl ihres Menüs, als sie sich für das „Steak for Two“ entschieden. Völlig überfordert von der Größe ihres Steaks sowie ein bisschen zu viel von dem Bier machten sie sich auf den Weg nach Hause. In dem Taxi lehnte sich an seine Schulter, dabei dachte sie an das vergangene Jahr zurück. Ihre gemeinsamen Erlebnisse und Unternehmungen, sie fühlte sich glücklich, genau so hatte sie es sich gewünscht.

Zu Hause angekommen neckten sie einander spielerisch und zogen, unter gegenseitigen Liebkosungen, die Kleidung des jeweils anderen aus. Der Weg ins Schlafzimmer war bedeckt mit unterschiedlichen Kleidungsstücken, wobei männliche und weibliche Teile miteinander vermischt den Weg dahin zeigten.

Sie stieß ihn auf das Bett, während sie vor ihm stehend, ihren BH und Slip mit tänzerischen Bewegungen von sich warf. Vielleicht hatte sie doch ein Bier zu viel getrunken, es tat ihrer Stimmung keinen Abbruch, sie stürzte sich auf ihn, um ihm die Boxershorts zu entreißen.

Er lag auf dem Bett, betrachtete wie sie ausgelassen vor ihm posierte, sah, wie sich seine Erregung zeigte. Sie kam zu ihm auf das Bett, wobei sie sich auf seine Oberschenkel setzte, anfing ihn zu streicheln. Als sie spürte, dass er leicht protestieren wollte, legte sie ihm den Zeigefinger auf den Mund. Pst lass es einfach zu, flüsterte sie mit einer inzwischen rauchigen Stimme, die er so nicht kannte.

Sie wollte, dass er diese Liebkosungen nur genoss, er sollte sich gehen lassen, zulassen, was sie sich ausgedacht hatte. Er schloss die Augen, während Rachel begann ihn zu streicheln. Sie begann vorsichtig seinen Oberkörper mit ihren Händen zu streicheln, rieb langsam ihre Brustwarzen über seine Brust, dabei spürte sie den immer stärker werdenden Druck an ihrem Bauch. Spielerisch lies sie ihre Brüste über seinem inzwischen erigierten Glied tanzen, beobachtete dabei sehr genau seine Reaktion. Sie hatte sich vorgenommen, heute sollte sein Abend sein, heute wollte sie ihn verwöhnen.

Er spürte, wie sie von seinen Oberschenkeln glitt um sich neben ihn zu legen. Dann fühlte er plötzlich die Wärme, die sein Glied umschloss, als sie sich über ihn gebeugt seinen Schwanz in ihren Mund genommen hatte. Das Saugen und das leichte Schmatzen kamen ihm irgendwie bekannt vor, ein Pochen zeigte seine steigende Erregung und Rachel spürte diese Steigerung ebenfalls.

Zusätzlich streichelte sie seine Hoden weiter zum Damm, sie wusste um die erogenen Zonen im Bereich des Anus. Sie fühlte das verstärkte Pulsieren, um die Erregung noch zu steigern, glitt ihr Finger zum Anus, als unter ihr alles zu explodieren schien.

Sie spürte einen Schlag, als hätte sie jemand mit ungeheuerer Kraft vom Bett gewischt dann wurde alles verschwommen, als sie mit dem Kopf an das Sideboard stürzte. Mit wutverzerrtem Gesicht stand Matthias über ihr und hob die Hand. Sie zuckte zusammen, wobei sie instinktiv ihren Kopf mit den Händen zu schützen versuchte. Als er dies sah, wandte er sich ab, griff sich seine Kleidung, die er, ohne groß darauf zu achten, überzog.

Während sie immer noch vollkommen benommen vor dem Sideboard lag, der Aufprall musste doch heftiger gewesen sein, verstand sie die Welt nicht mehr. Was hatte sie falsch gemacht, wodurch hatte sie seinen Zorn herausgefordert, ein solch schreckliches Gesicht hatte sie noch nie bei ihm gesehen. Jetzt liefen die Tränen über ihr Gesicht, zu den körperlichen Schmerzen kamen jetzt noch die seelischen Schmerzen hinzu.

Sie überlegte, was konnte sie falsch gemacht haben, sie konnte sich nicht geirrt haben, sie hatte doch seine Erregung gespürt. Dunkel kam die Erinnerung, während sie seine steigende Erregung gefühlt hatte, war, kurz bevor sie dachte, dass gleich der Erguss folgen würde, die Spannung aus dem Penis gewichen, er musste plötzlich erschlafft sein.

Ein Rätsel folgte dem anderen sie verstand nichts mehr. Sie hatte früher zwar nicht bedenkenlos mit jedem der sie angebaggert hatte sofort die Matratze geteilt, gänzlich unerfahren war sie aber auch nicht. Wo war er eigentlich, er konnte doch nicht einfach so gegangen sein, es war doch ihr Geburtstag, ihr gemeinsamer Jahrestag.

Mühsam stand sie auf, sie fühlte, dass etwas an ihrer Stirn entlang lief, strich darüber, ihre Hand war rot, es musste Blut sein. Leicht schwankend ging sie zum Badezimmer, wo sie als Erstes nach ihrem Bademantel griff. Sie wollte jetzt nicht nackt vor dem Spiegel stehen, sie wollte überhaupt nicht nackt gesehen werden, wenn er zurückkommen sollte.

An der rechten Seite ihrer Stirn war eine Platzwunde, aus der das Blut lief, die musste sie sich an dem Sideboard zugezogen haben. Dann sah sie die starke Rötung ihres linken Auges, sein Schlag musste sie direkt auf den Wangenknochen getroffen haben, sie drückte leicht, puh, wie das schmerzte.

Das würde ihr ein Veilchen einbringen, das mit normalen Schminkversuchen nicht zu verdecken war, sie würde versuchen mit einem Eisbeutel der Verfärbung entgegen zu wirken. Aber als Erstes wollte sie ihn anrufen, er hatte bestimmt sein Mobiltelefon dabei. Bereits nach dem ersten Klingeln erklang die Stimme der Mailbox, es erklang der übliche Spruch „the number you have called is temporary not available“, er hatte sein Telefon abgeschaltet.

Er lief durch die Nacht, die Temperatur war erheblich kälter als vor einem Jahr und er hatte seine Jacke vergessen, trotzdem fror er nicht. Es war wieder passiert, in seiner Erinnerung waren Bilder erschienen. Es war das Wiedererleben dieser schrecklichen Erinnerungen, etwas von dem, was Rachel gemacht hatte, musste der Auslöser für diesen Flashback gewesen sein.

Ausgelöst dadurch hatte er die Kontrolle verloren, er hatte sich gewehrt, niemand sollte ihm je wieder etwas so Schreckliches zufügen können. Sein Abwehrmechanismus hatte ausgelöst, waren es die Bilder oder ein Geräusch, oder doch der Geruch oder alles gemeinsam, was diese Reaktion ausgelöst hatte und die mit dem gewalttätigen Übergriff endete.

Er konnte es nicht begreifen, nie hatte er geglaubt, dass er Rachel wehtun könnte. Beinahe hätte er noch weiter auf sie eingeschlagen, ihre Zuckungen hatten ihn wieder zur Besinnung gebracht. In diesem Moment wusste er, dass er von hier weg musste, er hatte jegliche Kontrolle über sich verloren, wenn er bleiben würde, konnte er nicht für ihre Sicherheit garantieren.

Sein Verdrängungsmechanismus schien ausgezeichnet zu funktionieren, wenn er in Wirklichkeit so gewalttätig war und dieses bisher unterdrückt hatte. Oder hatte zu einem früheren Zeitpunkt eine Desensibilisierung zur Gewalt stattgefunden, er hatte Kopfschmerzen, war ein Tumor Auslöser für die soeben verursachte Gewaltorgie.

Das Gefühl, seit Stunden zu laufen, überkam ihn, er wollte auf seine Uhr sehen, sein Arm war leer. Er hatte seine Uhr vergessen, sie lag immer noch neben dem Bett auf der Ablage. Jetzt musste er als Erstes zur Ruhe kommen, nachdenken was und weshalb es passiert war, was er tun sollte.

Aufmerksam betrachtete er eine Reklame, die, wahrscheinlich wegen einer defekten Leuchtstoffröhre, permanent flackerte. Sie hing über der Eingangstür eines kleinen Hotels, er blickte sich um, die Umgebung erschien ihm bei der nächtlichen Beleuchtung unbekannt, den Namen des Hotels hatte er noch nie bewusst gelesen.

Es war egal, es konnte jedes beliebige Hotel sein, also auch dieses, auch wenn es nicht unbedingt den saubersten Eindruck hinterließ. Er ging bis zu Empfangstresen, wo ein älterer Schwarzer saß, der ihn freundlich anblickte. Kann ich ein Zimmer haben, diese Frage hatte er bestimmt schon hunderttausend Mal gehört, er nickte.

Einzelzimmer oder Doppelzimmer?

Einzel bitte, er hatte nicht die Ansicht sich sportlich zu betätigen.

Seine Geldbörse mit den Kreditkarten hatte er gottseidank in seiner Gesäßtasche, sodass es kein Hindernis gab, welches ihn hätte aufhalten können. Der Nachtportier zog die Kreditkarte durch den Automaten, dann gab er ihm einen Schlüssel für ein Zimmer in der ersten Etage.

Frühstück gibt es ab acht Uhr, es wird hier im Erdgeschoss serviert, dabei zeigte er in den hinteren Bereich der Hotelhalle.

Mit dem Schlüssel in der Hand ging er zur Treppe, er wollte nicht reden, mit niemandem, trat auf die Stufen, die ihn in sein Zimmer bringen sollten. Er hatte sich nicht getäuscht, es war ein einfaches Hotel, er war froh, als er sich umblickte und entdeckte, dass Dusche und WC im Zimmer waren. Als er sich auf das Bett legte, spürte er ein Drücken in seiner linken Hosentasche. Es war sein Telefon, er blickte drauf, es war ausgeschaltet, das war auch gut so, er hätte es nicht ertragen, jetzt mit Rachel zu telefonieren.

Beim Aufwachen fühlte er sich völlig zerschlagen, er musste irgendwann in der Nacht, vollständig bekleidet, eingeschlafen sein. Er wollte auf die Uhr sehen wie spät es ist als ihm wieder einfiel, die lag immer noch auf der Ablage neben dem Bett. Er musste sich heute unbedingt eine Uhr besorgen.

Die Gedanken fingen erneut an durch seine Gehirnwindungen zu sausen, sie waren so schnell, er konnte sie nicht stoppen um zu sehen, welche es gerade waren, in welche Richtung sie tendierten. Rachel fiel ihm ein, sie musste sich schrecklich fühlen, sie hatte bestimmt versucht, ihn anzurufen. Nein, er würde das Telefon nicht einschalten, bei seinem Glück würde dieses, unmittelbar nach der Netzwahl, sofort klingeln und Rachel wäre am Apparat. Er wusste nicht, wie sehr er sie verletzt hatte, das Blut an ihrer Stirn hatte er wahrgenommen, ob sie weitere Verletzungen hatte, konnte er nicht sagen.

Er hatte Glück, dass heute Sonntag war, er musste sich unbedingt Gedanken über seine weitere Tätigkeit im Büro machen. Würde Rachel zur Arbeit gehen oder lag sie im Krankenhaus, auch wenn sie nicht ins Büro gehen würde, musste er eine Lösung finden. Es war unvorstellbar, wie sollte er ihr je wieder unter die Augen treten, ohne sofort an das erinnert zu werden, was er ihr angetan hatte. Was würden seine Kollegen im Büro dazu sagen, wenn Rachel mit Verletzungen und Flecken auftauchte, er konnte sich die Reaktion seiner Kollegen lebhaft vorstellen. Am besten wäre es die Decke über den Kopf zu ziehen, liegen bleiben, bis er gefunden wurde.

Im Büro war man ebenso ratlos wie entsetzt, als man Rachel sah, die am Montag pünktlich im Büro erschien. Rachel versuchte, einen großen Teil der Schuld auf sich zu nehmen. Sie habe ihn über Gebühr gereizt, in so verärgert, dass er sich nicht anders zu helfen gewusst habe, die Verletzungen seien gar nicht so schlimm, sie habe auch keine Schmerzen.

Das Verhalten von Prügelopfern kannten auch ihre Kollegen, niemand glaubte ihr die Ausreden, außerdem wo war er denn, wenn er doch so unschuldig war. Sie waren alle wütend auf ihn, wäre er da gewesen, die Mehrzahl der Kollegen hätte ihm die Freundschaft aufgekündigt.

Seit drei Tagen lag er auf seinem Bett, er hatte dieses nur verlassen, um auf die Toilette zu gehen. Das letzte Essen waren die Steaks vom Samstag, er hatte aber auch keinen Hunger, entweder litt er an einer Essstörung oder der Appetitverlust hatte andere Gründe. Er hatte ständig das Gefühl wie betäubt zu sein, seine Antriebslosigkeit und seine Lustlosigkeit erschreckten ihn. Eine Lösung war immer noch nicht in Sicht, langsam wuchs in ihm jedoch die Scham über das Geschehene. Am besten wäre es, wenn er New York verlassen würde, um in Europa neu zu beginnen.

Am nächsten Morgen stand er zum ersten Mal wieder von seinem Bett auf, um etwas zu unternehmen. In dieser Nacht war sein Entschluss gereift, er würde New York definitiv verlassen, als Ziel hatte er Berlin ausgesucht. In seinem Beruf hatte er sich nicht nur in den USA einen Namen gemacht, auch in Europa kannte man inzwischen seine Arbeiten und Kampagnen.

Berlin hatte er deshalb gewählt, weil er es am besten kannte, aber auch, weil er seine beruflichen Möglichkeiten dort sehr zuversichtlich einschätzte. Berlin boomte, alle größeren Werbefirmen hatten, wenn sie nicht nach Berlin umgesiedelt waren, so doch Dependancen in der Stadt. Seine Ersparnisse reichten für die nächsten Monate, wenn nicht sogar für mehr als ein Jahr.

Rachel, ja, sie würde er vermissen, er vermisste sie bereits jetzt, aber zu ihrem Schutz wollte er sie in den Untiefen seiner Gehirnwindungen vergraben. Was wusste er, auf was für schreckliche Dinge sie da stoßen würde.

Nach langer Zeit wieder unter der Dusche, er wollte diesen Schmutz loswerden auch den, der unterhalb seiner äußeren Hülle war. Er stellte das Wasser so heiß ein, dass sich seine Haut bereits nach kurzer Zeit rot färbte. Erst als es nicht mehr auszuhalten war, beendete er seine Reinigung und zog seine verknitterte Kleidung wieder an. Auf dem Weg zum Flughafen würde er einen Stopp einlegen, sich das Nötigste kaufen, er hoffte, auf dem JFK ein Internetcafé zu finden, damit er seine Erklärungen noch abschicken konnte.

Nachdem er sich neu eingekleidet hatte, hielt er ein Taxi an, damit dieses in zum Flughafen bringen solle. Auf seine Frage nach einem Internetcafé antwortete der Fahrer, dass er ihn an der Stelle des JFK abkippen würde, wo er auch eines vorfinden würde.

Nun saß er hier, um zwei E-Mails zu schreiben, eine an seinen Boss, eine an Rachel. Bei seinem Boss war es relativ einfach, er brauchte nur die Wahrheit zu schreiben. Er bedauerte außerordentlich, ihn sowie seine Kollegen alleine gelassen zu haben, außerdem bat er um Verständnis für seine Flucht. Diese lag ausschließlich in seinem Verhalten gegenüber Rachel, er konnte ihr zum jetzigen Zeitpunkt vor Scham nicht unter die Augen treten, deshalb wolle er New York in Richtung Europa verlassen.

Bei Rachel war die erheblich schwieriger, ihm war in den letzten Tagen klar geworden, dass er sie liebte, eigentlich bei ihr sein wollte. Dies konnte er ihr jedoch nicht schreiben, er wollte ihr schreiben, dass sie ihn schnellstmöglich vergessen soll. Vielleicht würde sie Trost bei einem anderen finden, es war besser für sie beide. Er schrieb ihr, dass er sich für sein unentschuldbares Verhalten entschuldigen wolle, dass es nicht nachzuvollziehen war, wie es so weit hatte kommen können. Aus diesem Grund bat er um Verständnis, dass er von der geplanten Hochzeit Abstand nehmen, sich von ihr trennen werde. Er sei auf dem Weg nach Deutschland und bitte sie, ihm seine Sachen nachzusenden, wenn er eine Adresse haben würde. Die Mail fiel unpersönlicher aus, als er ursprünglich gewollt hatte, er wollte sie aber nicht mehr ändern, vielleicht war es auch gut so, er schickte beide ab.

Sein nächster Weg führte ihn an den Schalter der Lufthansa, er wollte versuchen einen Flug nach Deutschland zu bekommen, es war gleichgültig, in welche Stadt dieser Flug ging. Der nächste Flug nach Deutschland mit freien Plätzen ging nach Frankfurt, für den er sofort einen Platz buchte.

Kein Vergessen

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