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4. Kapitel

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Nach knapp acht Stunden hatte er wieder Frankfurter Boden unter den Füßen. Da es jetzt zu spät war um nach Berlin zu fliegen überlegte er, welche Alternativen ihm blieben. Ein Blick auf sein leeres linkes Handgelenk zeigte, er hatte vergessen, sich eine Uhr zu kaufen. Neben einer Anzeigetafel fand er endlich eine überdimensionale digitale Anzeige, deren rote Anzeige zweiundzwanzig Uhr siebenundvierzig anzeigte.

Allzu viele Möglichkeiten blieben ihm nicht, er konnte sich ein Hotelzimmer am Flughafen suchen und morgen versuchen einen Flug nach Berlin zu bekommen. Noch ehe er sich ernsthaft damit auseinandersetzen konnte, schloss er diese Möglichkeiten für sich aus. Er wollte so schnell als möglich nach Berlin, ein Hotelzimmer kam also nicht infrage.

Damit blieb nur noch die Option zwischen Mietwagen oder Eisenbahn, wegen der seit Jahren fehlenden Fahrpraxis tendierte er zur Bahn.

Ein Hinweisschild wies auf eine Bahnauskunft hin, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass diese noch besetzt sein würde. In den USA hätte da bestimmt noch einer hinter dem Counter gesessen, hier war er sicher schon seit Stunden verweist. Bei der gewohnten deutschen Gründlichkeit würde aber wenigstens ein Fahrplan aushängen.

Verwundert blickte er in das Gesicht einer alten, mit Falten überzogenen Frau. Es wirkte belustigend, wie sie ihre Mütze bis zu den Augenbrauen gezogen hatte, vielleicht war diese auch zu groß, egal er wollte nur eine Auskunft.

Als sie in ihrem Computer nach einer Zugverbindung suchte, beobachtete er, wie sie ohne Brille versuchte, die Angaben zu entziffern. Habe meine Brille vergessen nuschelte sie, können Sie selber gucken dabei drehte sie den Monitor in seine Richtung.

Nach so einer Aussage wollte er sicherheitshalber die auf dem Monitor dargestellten Verbindungen überprüfen, tatsächlich es waren die Zugverbindungen nach Berlin. Er benutzte die Scrolltaste der Tastatur, um den Zeitbereich aufzurufen, der ihn betraf. Kurz vor dem Ende der Anzeige fand er eine Verbindung, auf die er gehofft hatte. In etwas mehr als einer halben Stunde würde ein Zug diesen Bahnhof in Richtung Berlin verlassen.

Der Zug fuhr um dreiundzwanzig Uhr achtunddreißig los, die planmäßige Ankunft in Berlin sollte um acht Uhr sechsundvierzig erfolgen. Diese Verbindung war geradezu ideal, er würde versuchen im Abteil schlafen, um die Auswirkungen des Jetlags zu vermindern. Er löste eine Fahrkarte, danach ging zu dem angegebenen Gleis, um sich einen Platz auf einer Bank zu suchen.

Ausgeschlafen trat er auf dem neuen Hauptbahnhof aus dem Zugabteil, was für ein monströses Gebäude dachte er noch, während er sich auf den Weg richtigen zum Ausgang suchte. Wie angenehm war doch das Reisen ohne Gepäck, wie er jetzt unfreiwillig feststellen konnte. Trotzdem brauchte er in den nächsten Tagen eine komplette Ausstattung, wenn er sich bei einer Agentur vorstellen wollte.

Auf dem Weg zum Ausgang sah er einige Geschäfte die eine vorläufig ausreichende Auswahl an Grundausstattung anboten. Er kaufte sich eine Erstausstattung an Kleidung sowie Toilettenartikeln, dann machte sich, mit zwei Tüten beladen, auf den Weg.

Wo sollte er wohnen, was nicht infrage kam, war bei seinen Eltern, er hatte den Kontakt nach seinem Studium abgebrochen. Mit dem Abschluss war er nach München umgezogen, später wechselte er für einen Job nach Hamburg, von da war er nach New York gegangen.

Die Wende hatte er in der Anfangszeit, später nur aus der Entfernung miterlebt, deshalb war für ihn dieses neue Berlin unbekannt. Natürlich hatte er immer wieder über die Entwicklung von Berlin gelesen, im Fernsehen einige Sendungen gesehen, aber die gesamte Entwicklung nur aus der Ferne miterlebt.

Er hatte immer einen Bogen um Berlin gemacht, als er neunzehnhundertneunzig nach München geflohen war. Flucht war genau der Gedanke, den er damals empfunden hatte, die neue Stadt sollte ein Neubeginn für ihn werden.

Während der Anfangszeit hatte seine Mutter versucht, den Kontakt aufrechtzuerhalten, bis er ihr, mit sehr drastischen Begriffen erklärt hatte, dass er nichts mehr mit ihnen zu tun haben wolle. Sie hatte es nicht verstanden, ihr Glaube an die eigene Unfehlbarkeit ließ keine andere Meinung, schon gar keine Kritik zu. Sein Vater hatte sich sowieso geweigert mit ihm zu reden, er hatte ihm immer gezeigt, dass sein Sohn ihn enttäuscht hatte.

Als er acht Jahre später nach Hamburg in eine der großen Agenturen wechselte, hatte er sich bereits in Deutschland einen Namen in der Branche gemacht. Seine internationalen Meriten sollte er sich allerdings erst in Hamburg erworben. Die Leistungen in jener Zeit waren es auch, die ihn international bekannt machten und seinen Weg in die USA ebneten.

Jetzt war er wieder hier, nach fast zwanzig Jahren kam er zurück zu der Stätte, die für ihn alles bedeutete. Freude, Leid, Glück, Unglück, Einsamkeit und Qual, unendliche Qualen, die sein Leben immer noch prägten. Bisher hatte er dies immer negiert, nichts davon sollte je wieder zum Vorschein kommen, keiner sollte je davon erfahren.

In den Tagen, als er über sein bisheriges Leben nachgedacht hatte, waren erste Zweifel in ihm aufgetaucht, ob er wirklich alles richtig gemacht hatte. Oder hatte er es sich zu einfach gemacht, indem er vor diesen unendlichen Qualen davongelaufen war.

Die Phasen, in welchen er ein störungsfreies Leben geführt hatte, waren immer unterschiedlich lang gewesen, häufig wurden diese durch eine Erinnerung oder einen Impuls wieder beendet. War es ein Geruch, ein Wort oder ein besonderer Körperkontakt, der diese Saiten in ihm zum klingen gebracht hatte. Sie waren jedenfalls immer der Auslöser für das Ansteigen der Spannung, bis die Saite riss.

Der Bezirk, den er am besten kannte, war Tiergarten, dahin würde er fahren, sich vorerst in einem Hotel einquartieren. Er sah zwar die Schilder, die zur S-Bahn zeigten, er hatte allerdings keine Ahnung wie sich die Verbindungen in den letzten zwanzig Jahren geändert hatten. Etwas entfernt konnte er an der Stirnseite des Bahnhofs das BVG-Zeichen erkennen.

Erleichtert hörte er der Erklärung der Angestellten zu, die ihm sagte, dass er nur eine Station zu fahren brauchte, um zum S-Bahnhof Bellevue zu gelangen. Er wusste, dort würde er sich zurechtfinden, schließlich war dies die Gegend, in der er seine Jugend verbracht hatte.

Er verließ den Bahnhof, hier kannte er sich aus, es schien als wäre die Zeit stehen geblieben. Gegenüber auf der anderen Straßenseite sah er ein Restaurant, er erinnerte sich, auch damals wurde an gleicher Stelle ein jugoslawisches Restaurant betrieben. Er fühlte sich, als wäre er zu Hause angekommen, hier wollte er die Vergangenheit abschütteln, hier wollte er sein neues Leben beginnen. Die Frage, wie oft er bereits neu begonnen hatte, ebenso wie die Antwort nach dem Scheitern wollte er heute nicht stellen, sie hätte ihn sonst deprimiert.

Langsam, jeden Schritt auf heimischen Boden genießend wandte er sich nach rechts in Richtung der Moabiter Brücke. Hier schien alles so geblieben zu sein, wie er es aus seiner Erinnerung kannte. Rechts, entlang der S-Bahngleise führte der Weg zum Schloss Bellevue, auch hier schien keine größere Veränderung sichtbar, oder sein Gedächtnis spielte ihm einen Streich.

Auf der Brücke angekommen fiel sein Blick sofort nach links, zeigte ein geradezu vollständig neu entstandenes Stadtquartier. Alles war neu, die historischen Gebäude der alten Meierei waren verschwunden. Hier hatten sich Architekten und Stadtplaner zulasten der historischen Gebäude ausgetobt. Ob es wirklich besser oder schöner war, mochten andere entscheiden. Was ihm ins Auge fiel, war die Leuchtreklame, die über allem prangte, Abion Hotel, das war es, was er gesucht hatte.

Am Empfangstresen des Hotels blickte ihn der Concierge neugierig an, die Klangfarbe seines Gegenübers hatte bei der Aussprache diesen leichten amerikanischen Einschlag. Trotzdem scheint dieser leicht mitgenommene Herr ohne Gepäck mit zwei Plastiktüten ein Zimmer zu wünschen, dachte er, ohne es direkt auszusprechen.

Um einer Diskussion vorzubeugen, erklärte Matthias ihm, mein Gepäck ist leider abhandengekommen, deshalb werde ich neue Sachen benötigen. Dann fügte er hinzu, außerdem hätte ich gerne ein Doppelzimmer für zunächst vierzehn Tage.

Leicht irritiert von der Person die vor ihm stand, begann sich bei dem Concierge die Augenbraue an seinem linken Auge nach oben zu bewegen. Etwas derangiert, dazu ohne Gepäck, jetzt ein Zimmer für zwei Wochen. Kann ich bitte Ihren Ausweis sowie eine Kreditkarte haben, um die Anmeldeformalitäten zu erledigen, fragte er höflich, ohne seine Irritation erkennen zu lassen. Er hatte schon andere eigenwillige Hotelgäste erlebt, sich abgewöhnt, nur nach Äußerlichkeiten zu urteilen.

Am dringendsten brauchte er eine Dusche, er genoss sichtlich das auf ihn brausende Wasser, er hatte den stärksten Strahl eingestellt, der möglich war. Um sämtlichen Schmutz der Reise loszuwerden, hatte das Wasser so heiß eingestellt, wie er es gerade noch ertragen konnte. Rot wie ein Krebs aber vollständig erfrischt, stieg er aus der Dusche. Abschließend packte noch das neue Rasierzeug aus, dann begann er, den Bart der letzten Tage aus seinem Gesicht zu entfernen. Er fühlte sich wie ein neuer Mensch, mit seiner neuen sauberen Kleidung konnte er nun beginnen die Dinge zu besorgen, die er dringend benötigte.

Als Erstes brauchte er dringend einen Kaffee, beim Hinaustreten aus dem Hotel blickte er sich genauer um. Vorher hatte er eher unterbewusst den Rest der ehemaligen Meierei gesehen, jetzt sah er genauer auf die Einbindung des alten Gebäudes in das neue Ensemble.

Er wandte sich nach rechts zu dem Restaurant, dort bestellte einen einfachen Kaffee, wobei er einen Tisch wählte, der ihn ungehindert auf die Spree blicken ließ. Die Ausflugsschiffe, die permanent an ihm vorbei fuhren, zeigten ihm, er war wieder zu Hause, endlich daheim. Außerdem war es ein Genuss, wieder einmal Kaffee ohne die zweihundert Zusätze oder Varianten zu trinken. Es überraschte ihn, wie gut Kaffee in seiner ursprünglichen Form doch schmeckte.

Er ließ sich ein Taxi rufen, als dieser ihn nach dem Ziel fragte, sagte er ihm, ich brauche einen Apple Computer, können sie mir sagen, wo ich hier einen bekommen kann.

Ein Grinsen machte sich in dem Gesicht des Fahrers breit, klar Mann, ich benutze auch Apple, am Ernst-Reuter-Platz ist einer, da kriegen sie alles, was sie brauchen. Es dauerte keine zehn Minuten, als der Fahrer auf den Store zeigte, hier bekommen sie alles, was sie haben wollen.

Er kaufte den neuesten MacBook sowie alles, was er für einen mobilen Internetzugang benötigte. Beim anmelden hatte er zwar gesehen, dass dieses Hotel über einen Internetzugang für Gäste verfügte, trotzdem wollte er, unabhängig davon, auch unterwegs die Möglichkeiten des Internets nutzen.

Deshalb ließ er die Karte sofort freischalten, er wollte wissen, ob Rachel oder sein ehemaliger Boss auf seine Mails reagiert hatten. Außerdem musste er im Internet die Agenturen in Berlin suchen, die für einen neuen Job infrage kamen. Im Anschluss daran musste er sich dringend eine Wohnung suchen.

Verdammt, beinahe hätte er es vergessen, er brauchte noch ein Telefon sowie eine deutsche Mobilfunknummer. Das Ladegerät für sein Telefon lag noch in New York, außerdem hatte es nur die amerikanischen Anschlüsse. Wenn er daran dachte, was er alles noch besorgen musste, waren die nächsten Tage komplett ausgefüllt.

Der Weg zurück ins Hotel erfolgte völlig zugepackt, und um zweitausenddreihundert Euro ärmer, jetzt musste er alles noch einrichten, um es auch nutzen zu können. Für heute hatte er genügend besorgt, nun wollte er auch damit arbeiten. Nachdem er die Funktionen überprüft hatte, rief er seinen E-Mail-Account auf, um nachzusehen, ob Mails eingegangen waren.

Die beiden hatten, neben anderen, geantwortet, trotzdem ging er zuerst in den Einstellungs-Modus, um sein Passwort zu ändern. Er hatte Rachel sein Passwort gegeben, da er nichts vor ihr zu verbergen hatte, das hatte sich nun geändert. Er rief als erste Mail die von seinem ehemaligen Chef auf, dieser war sauer, er beschimpfte ihn mit „What a douche bag“. Mann der war richtig sauer, wenn er ihn als üblen Kotzbrocken beschimpfte. Er musste umschalten, wieder auf Deutsch denken, damit er hier nicht den Amerikaner raushängen ließ, meist wurde einem dies sehr schnell sehr übel genommen.

Er las weiter, unabhängig von seinem Job nahm er ihm sein Verhalten Rachel gegenüber übel. Zum Schluss wurde er versöhnlicher, wenn er für einen neuen Job in Europa eine Empfehlung bräuchte, würde er die trotzdem erhalten, da er seinen Job gut gemacht hatte.

Sein Finger wollte die nächste Mail nicht öffnen, er hatte Angst, was sie geschrieben hatte. Er fürchtete zu Recht ihre Wut und ihren Zorn, wenn sie ihn beschimpfen würde, könnte er es nur zu gut nachvollziehen.

Sie war traurig, sie war verwirrt sie fühlte sich schuldig, sie wusste aber nicht, worin ihre Schuld lag. Sie bat ihn zurückzukommen, ihr alles zu erklären, es hatte sie wütend gemacht, dass er so einfach aus ihrem Leben verschwunden war, ohne ihr die Chance des Verstehens zu geben. Wieso wollte er ihr oder ihrem gemeinsamen Leben keine Chance geben, hatte sie alles nur missverstanden. Sie hatte mit ihrer Familie telefoniert, ihr Vater sei sehr wütend geworden aber Kim und ihre Mutter hatten sie getröstet. Ob er nicht doch zurückkommen wolle?

Er war fassungslos, das hatte er nicht erwartet, mit allem hatte er gerechnet, mit Beschimpfungen mit Verwünschungen auch mit Drohungen, aber nicht mit so einer Mail. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte, er hatte jetzt noch keine Erklärung, er musste in Ruhe darüber nachdenken. Er brauchte erst mal eine Pause, er konnte nach dieser Mail nicht einfach zum nächsten Punkt gehen, der erledigt werden sollte. Nach dem Ausloggen legte er sich auf das Bett, als er sich umdrehte, spürte er, dass sein Kopfkissen feucht war, er wischte über sein Gesicht, er hatte geweint.

Völlig zerschlagen wachte er am Morgen auf, die Zeitdifferenz von sechs Stunden würde ihm noch ein paar Tage zu schaffen machen. In New York war es schließlich noch sehr früh gerade mal drei Uhr in der Nacht. Trotzdem quälte er sich aus dem Bett, nach einer Dusche würde die Welt sicher etwas freundlicher aussehen. Er ging zum Fenster, er wollte sehen, wie das Wetter heute sein würde, er wusste noch sehr gut, der Herbst in Berlin war nicht immer freundlich.

Er zog die Jalousie zur Seite, heute hatte er wohl noch mal Glück, die Sonne schien, trotzdem hatten die Leute die unten vorbei gingen warme Jacken an. Es schien kälter zu sein, als es wirkte, egal, heute würde er sich einkleiden dabei überlegen, was er Rachel schreiben sollte. Gleichzeitig wollte er sie bitten, seine persönlichen Dinge hier an das Hotel zu senden, vielleicht brauchte er doch nicht alles neu zu kaufen, ein Versuch war es wert.

Nach seiner Einkaufstour wollte er sich zuerst seine Mail an Rachel schreiben, danach wollte er sich eine Wohnung und einen Job suchen. Wenn er weiter so mit seinen Ersparnissen umging, wie in den letzten beiden Tagen brauchte er wirklich bald eine neue Einkommensquelle.

Liebe Rachel, bitte verzeih mir, was ich Dir angetan habe. Ich kann Dir nicht erklären, weshalb ich in der damaligen Situation so gewalttätig reagiert habe. Ja ich weiß, ich bin ganz sicher, dass Du keine Schuld an meinem Gewaltausbruch hast. Lange habe ich mir in den vergangenen Tagen die Situation vor Augen geführt und es hat mich erschreckt, zu welchen Dingen ich fähig bin. Ich habe Dich verlassen, weil mir bewusst geworden ist, wie sehr ich zu einer Gefahr für Dich geworden bin, da ich nicht beurteilen kann, wann und weshalb ich erneut die Kontrolle verliere. Ich wünsche Dir, dass Du das Glück welches Du verdienst bei einem anderen Mann findest. Falls es Dir möglich ist, bitte ich Dich, mir meine persönlichen Dinge an das Abion Hotel zu senden. Bitte versuche nicht, mich umzustimmen. Bitte hasse mich nicht, Matthias.

Mehr war nicht zu sagen, er hoffte, dass sie dies so akzeptieren würde. Jetzt kamen Wohnung und Job dran, zuerst der Job, schließlich musste man einen künftigen Vermieter von der Zahlungsfähigkeit überzeugen. Er suchte nach Agenturen in Berlin und erschrak über die Vielzahl, die sich auf seinem Monitor ausbreiteten, dann suchte er nach bekannteren Namen.

Er fand seine ehemalige Agentur aus Hamburg, die inzwischen auch eine Dependance in Berlin hatte, sie war eine der größten in Deutschland. Dort würde er es zuerst versuchen, sie hatten bedauert, als er die Agentur verließ, um in den USA zu arbeiten. Sollte er je wieder nach Europa zurückkehren, hatten sie ihm einen Job in Aussicht gestellt.

Es war bereits zu spät, morgen wollte er direkt in Hamburg anrufen. Dort so hoffte er, hatte sich die Struktur nicht wesentlich verändert, mit etwas Glück würde er seine ehemaligen Vorgesetzten noch vorfinden. Dies würde die gesamte Prozedur vereinfachen, sie hatten seinen Werdegang in New York sicher verfolgt.

Üblicherweise blickte man auch über den Teich, um die Arbeiten der Mitbewerber zu verfolgen, diese konnten sich auf dem immer kleiner werdenden Markt schnell zu Konkurrenten entwickeln. Dass einige der Kampagnen seinen Namen trugen, war sicher mit Interesse vermerkt worden.

Er musste sich entscheiden, in welchem Bezirk sollte seine neue Wohnung liegen. Eigentlich war dies sicher von seinem Job abhängig, andererseits wollte er in der Gegend bleiben, in welcher er vieles wiedererkennen würde. Spontan entschied er, dass eine Wohnung nur in diesen Bezirken suchen wollte, Tiergarten, sein ehemaliger Heimatbezirk sowie das angrenzende Charlottenburg.

Es ging nicht darum, in Erinnerungen zu schwelgen, nein er wollte sein Lauftraining wieder aufnehmen, dazu bot sich der Park geradezu an. Die Entscheidung, die prinzipiell gefallen war, hing im Wesentlichen von der Tätigkeit sowie dem Umfeld ab, heute war darüber keine Entscheidung mehr möglich, so entschied er, erst morgen das Telefonat abzuwarten.

Plötzlich hatte er freie Zeit, bevor er genau wusste, was geschah, stand er ausgehfertig vor dem Hotel. Ruhig blickte auf die vereinzelten Spaziergänger, sah, wie eine ältere Frau an einer Büste stehen blieb, um zu lesen, was auf einem Kupferschild stand. Ihr Weg führte zur nächsten Büste, wo sich die Prozedur wiederholte. Auf dem vorübergleitenden Ausflugsschiff waren nur wenige Plätze mit Ausflügler belegt, die trotz des Sonnenscheins, in dicke Jacken gehüllt waren.

Er wandte sich ab, ging jetzt selbst die „Straße der Erinnerung“ entlang, in der Personen der Zeitgeschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geehrt wurden. An der Moabiter Brücke wählte er den Weg in den Tiergarten, er wollte unbedingt sehen, was sich in den letzten zwei Jahrzehnten geändert hatte. Hatte der Park, außer seinem natürlichen Wachstum, seine Anziehungskraft behalten, oder hatte man auch derart gravierende Änderungen vorgenommen. Er erinnerte sich noch sehr genau an die Wochenenden, die er mit Freunden im Park verbracht hatte, der immer von sonntäglichen Spaziergängern überlaufen war.

Beim Durchlaufen des Parks entdeckte er Stellen, die ihn an seine Kindheit erinnerten, hier hatten sie Fußball gespielt, Spaziergänger geärgert oder einfach nur in der Sonne gelegen. Bereits beim Betreten des Parks hatte er es gespürt, hatte den Geruch aufgesogen, den er nie vergessen hatte. Der Park hatte sich verändert aber nicht so spürbar, dass er die markanten Stellen nicht erkannt hätte. Er lief am Teehaus vorbei, ohne zu ahnen, wie schicksalhaft dieser Ort für ihn werden sollte, plötzlich fühlte er sich wieder zu Hause angekommen. Hier auf seine Eltern zu treffen brauchte er nicht zu befürchten, diese hatten vor Jahren bereits Berlin verlassen und lebten in Bayern. Das heißt, seine Mutter lebte noch dort, wo genau hatte ihn nie interessiert. Den Tod seines Vaters hatte er längst aus seinem Gedächtnis gelöscht.

Wieder im Hotel angekommen prüfte er seine Mails, dann surfte er wahllos im Internet, wobei er die Meldungen nur überflog, ohne genau zu lesen, was da stand. Heute hätte er nicht sagen können, wie er darauf gestoßen war, dunkel erscheinen die Worte Missbrauch und Bartholomäus Kolleg in der Überschrift.

Mechanisch klickte er den Artikel an, dieser erschien groß auf seinem Bildschirm, plötzlich sah er schwarz auf weiß, was er für undenkbar gehalten hatte. Es war als hätte jemand einen Schalter in seinem Kopf umgelegt, bisher verdeckte Erinnerungen brachen in den Vordergrund und dominierten seine Gedanken.

Wie unter einem Wasserfall kamen plötzlich die Erinnerungen zum Vorschein. Er war missbraucht worden, über Jahre hinweg gequält und missbraucht worden, fassungslos saß er vor dem Artikel, in welchem auf die Missbrauchsfälle eingegangen wurde. Jetzt las er den Artikel voller Hoffnung und Erwartung auf den Namen zu treffen, der ihm das angetan hatte. Voller Enttäuschung stellte er fest, der gesuchte Name stand nicht in dem Artikel, wütend griff er nach dem Computer, wollte diesen zertrümmern.

Wie aus einer Trance erwacht, merkte er, wie er in seinem Zimmer stand und seinen Computer in beiden Händen hielt. Vorsichtig stellte er ihn auf den Tisch dann ging er ins Bad, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Danach rieb er mit einer Vehemenz über sein Gesicht, bis es schmerzte, dabei spürte er, wie Tränen über das Gesicht liefen und nicht aufhören wollten.

Er drückte sich das Handtuch vor das Gesicht, dabei ließ er sich auf die Toilette sinken. Mit in dem Handtuch vergrabenem Gesicht saß er mehr als eine Stunde, währenddessen die Erinnerungen wie Blitze durch sein Gehirn schossen.

Völlig leer und ausgebrannt stand er auf, er musste diesen Artikel noch einmal lesen, vielleicht hatte er den Namen übersehen, vielleicht stand er an anderer Stelle. Konzentriert las er nochmals, dieses Mal Wort für Wort, nichts sollte ihm entgehen. In dem Artikel wurde auf Missbrauchsfälle eingegangen und auch Täter wurden genannt, wenn auch nur unkenntlich bei der Nennung ihres Namens, ausschließlich der Anfangsbuchstabe mit einem Punkt. Der einzige Name, der in dem Artikel genannt wurde, war der eines Therapeuten, ein Dr. Werner Schmidt-Holzer mit Telefonnummer, wohin man sich wenden konnte, wenn man als Betroffener Hilfe suchte.

Er recherchierte weiter, gab Suchbegriffe ein die den gesuchten Namen einschlossen, die einzigen Artikel, die er fand, befassten sich ausschließlich mit dessen Lehrtätigkeit, nirgends ein Hinweis auf seine Taten.

Zum ersten Mal war ihm mit dieser Klarheit bewusst geworden, dass er Opfer eines Verbrechens geworden war, er selbst dies immer nicht hatte wahrhaben wollen. Immer noch weigerte er sich, dieses in Gänze zu akzeptieren, alle Erinnerungen und Gedanken zuzulassen, sich endlich, damit auseinander zu setzten.

Er griff nach seinem Telefon, das Gefühl diesen Therapeuten anrufen zu müssen schien ihn nicht loszulassen. Schnell wählte er die Telefonnummer, Schmidt-Holzer meldete sich eine Frauenstimme am Telefon, erschrocken wollte er auflegen, als die Stimme sich noch mal meldete, Sie wollen meinen Mann sprechen. Bevor er sich melden konnte, klang eine sonore Männerstimme aus dem Hörer, Schmidt-Holzer, wie kann ich Ihnen helfen.

Seine Starre war gewichen, leise sagte er, ja vielleicht können sie mir helfen, ich rufe an, weil auch ich ein Betroffener bin. Noch immer konnte er es nicht aussprechen, was mit ihm geschehen war.

Am besten machen wir einen Termin, Matthias unterbrach, kann ich kurzfristig zu ihnen kommen. Er hörte ein kurzes Rascheln, kommen Sie morgen um zehn Uhr, dann nannte er die Adresse und verabschiedete sich. Danke, aber das konnte er nicht mehr gehört haben, ein Besetztzeichen klang an seinem Ohr. Er vermochte sich nicht vorzustellen, was ihn erwarten, wer ihn erwarten würde.

Völlig zerschlagen stand er unter der Dusche, er hatte keine Minute geschlafen, neben dem Jetlag kamen jetzt auch noch Schlafprobleme dazu, lange konnte er dies nicht aushalten. Bereits zehn Minuten vor dem Termin stand er vor dem Haus, in dem sich in der zweiten Etage die Praxis befand. Er lief umher, er wollte nicht zu früh erscheinen, er hatte nicht vor, diesem Menschen zu zeigen, wie sehr er mit Problemen kämpfte.

Der Mann der ihm öffnete war etwa in seinem Alter, allerdings hatte er bereits einen größeren Bauchumfang, der ihn aber nicht zu stören schien. Das rundliche Gesicht war mit einem Vollbart umrahmt, in welchem bereits die Farbe grau, ebenso wie bei den Haaren, dominierte.

Die braunen Augen sahen ihn neugierig an, wir hatten gestern telefoniert sagte Matthias, während er seinen Blick auf den Rollkragenpullover richtete.

Kommen sie doch herein, ich habe Sie bereits erwartet, dabei trat er zur Seite, um ihn vorbei zu lassen. Er schloss die Tür, dann ging er voraus zu einer Tür, von der Matthias annahm, dass dahinter das Behandlungszimmer lag. Dabei blickte er über die Schulter, wie um sich vergewissern, dass er ihm folgte,

Im Zimmer stand ein Schreibtisch mit Regalen sowie in der rechten Ecke eine Couch mit zwei Sesseln. Bitte setzten Sie sich, dabei zeigte er auf die Couch, während er sich auf einen Sessel setzte.

Sie haben mir gestern nur ansatzweise erzählt, um was es geht, gehe ich recht in der Annahme, dass es das Bartholomäus-Kolleg betrifft.

Er erzählte diesem fremden Mann in groben Zügen, was er in den letzten Tagen durchlebt hatte, wobei er bei dem Vorfall mit Rachel endete. Bis auf ein paar Zwischenfragen hatte ausschließlich er geredet, sein Mund fühlte sich vollkommen ausgetrocknet an. Es war aus ihm heraus gesprudelt, ohne dass er gemerkt hatte, dass er mehr erzählte, als er ursprünglich preisgeben wollte. Es musste an dem sympathischen und vertrauenswürdigen Eindruck gelegen haben, den der Therapeut auf ihn gemacht hatte.

Dieser hatte zwischenzeitlich eine Flasche Wasser sowie zwei Gläser auf den Tisch gestellt, er hatte also gemerkt, dass sein Mund ausgetrocknet war.

Er forderte ihn auf, bitte nehmen Sie sich selbst, wenn Sie möchten. Bedächtig wiegte er seinen Kopf, es ist gut, dass Sie zu mir gekommen sind. Ob zu mir oder zu einem anderen Therapeuten wäre in Ihrem Falle gleichgültig, viel wichtiger ist, dass Sie erkannt haben, dass Sie Hilfe benötigen. Damit haben Sie bereits den schwersten Schritt vollzogen, der zu einer Heilung erforderlich ist.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch wir werden ihre Erfahrungen die Sie durch den Missbrauch erlebt haben nicht erneut vergraben, sondern alles zutage fördern und darüber reden. Danach werden Sie ihr Erlebnis nie mehr vergessen, Sie werden aber anders damit umgehen und Sie werden verstehen, weshalb bestimmte Erinnerungen diese Reaktionen bei Ihnen ausgelöst haben.

Nach dem Gespräch klärten sie noch die technischen Fragen zur Krankenkasse seiner derzeitigen Jobsituation. Zum Abschluss vereinbarten sie einen Termin für kommenden Dienstag, die offenen Fragen würden sich im Laufe der Sitzungen klären.

Die Therapie sollte in einer Gruppe erfolgen, wobei alle Patienten eine ähnliche Vorgeschichte aufweisen würden, alle seien als Kinder missbraucht worden.

Nachdenklich starrte er auf sein Glas, wollte er seine Probleme vor anderen erörtern, unabhängig von deren Erlebnissen mussten diese doch nicht erfahren, was mit ihm geschehen war.

Dr. Schmidt-Holzer spürte die Zweifel bei seinem Gegenüber, ich kann verstehen, wenn Sie Bedenken vor einer Gruppentherapie haben. Ich kann aber aus meiner Erfahrung sagen, dass diese sich bei der Mehrzahl schneller positiv auswirken wird. Lassen Sie es sich durch den Kopf gehen, der Termin findet am Dienstag um neunzehn Uhr statt. Wenn Sie sich dagegen entscheiden sollten, dann würde ich Ihnen dringend empfehlen einen anderen Therapeuten aufzusuchen. Alles was ich heute gehört habe, deutet darauf hin, dass Sie dringend Hilfe benötigen, dann verabschiedete er ihn.

Vor dem Haus blickte er auf seine Uhr, er hatte fast zwei Stunden über sich erzählt, dabei nicht bemerkt, wie die Zeit verflogen war. Aber er fühlte sich irgendwie erleichtert, es war als hätte er den ersten Schritt einer schwierigen Etappe getan. Das Gespräch hatte ihm wieder etwas Kraft gegeben, vielleicht weil er spürte, dass es ihm gutgetan hatte. Oder lag es daran, dass er diesem Therapeuten von Beginn an vertraut hatte.

Sein Gespräch mit der Agentur hätte er beinahe vergessen, jetzt fiel es ihm wieder ein. Er suchte sich eine stille Ecke, nahm sein Mobiltelefon, um in Hamburg anzurufen. Mit etwas Glück war Claudia immer noch die Sekretärin von Josh, seinem ehemaligen Chef, keiner wusste wie er richtig hieß alle nannten ihn Josh, er wollte es auch nicht anders.

Claudia war noch da und sie freute sich, von ihm zu hören, er erzählte ihr ausschnittweise, dass er Sehnsucht nach Europa gehabt habe, deshalb wieder hier sei. Eigentlich wollte er Josh sprechen, weil er einen Job suche, vorwiegend in Berlin.

Das trifft sich gut meinte sie, der ist gerade in Berlin, da ist wohl ein größerer Umbruch im Gange, am besten sie sage ihm Bescheid. Seine Telefonnummer hatte sie bereits vom Display notiert, er wird sich bei Dir melden. Er bedankte sich bei ihr und versprach ihr ein opulentes Abendessen, wenn er das nächste Mal in Hamburg sein würde.

War es sein Versprechen ein opulentes Abendessen auszugeben oder war es tatsächliches Interesse, Josh meldete sich nach knapp drei Stunden bei ihm.

Hey, Claudia hat mir eine gute Nachricht übermittelt, Du bist in Berlin, wo bist Du.

Ich habe vorerst ein Hotelzimmer im Abion, das trifft sich gut unterbrach Josh ihn, dann kennst Du das Lanninger unten bei Dir im Haus. Treffen wir uns um neun Uhr heute Abend, es gibt bestimmt viel zu erzählen, jetzt muss ich noch zu einer Besprechung, dann legte er auf.

Es hatte sich nichts geändert, Josh fuhr mit Blutdruck zweihundertvierzig durch die Termine. Eigentlich hatte er schon längst mit einem Herzinfarkt oder Ähnlichem bei ihm gerechnet, aber vielleicht brauchte er genau diese Aufregungen.

Seine üblichen Verspätungen betrug früher immer etwa eine halbe Stunde, heute unterbot er diese halbe Stunde, wenn auch nur um fünf Minuten. Sofort erkennbar an seinem dynamischen Betreten, seinem kurzen Blick, in welchem er alles Wesentliche erfasste, steuerte er kurz entschlossen auf den Tisch zu. Obwohl er versuchte jung und dynamisch zu wirken, sah man ihm die Anstrengungen des Tages an.

Sie begrüßten sich herzlich, ihr Verhältnis war durch den Wechsel nie getrübt, auch wenn er den Weggang von Matthias bedauert hatte. Allerdings konnte er auch diesen verstehen, da er für sich etwas Neues entdecken wollte, außerdem stagnierte er in seiner Entwicklung, diese Erfahrungen in New York konnten ihm also nur guttun.

Ich freue mich, dass Du wieder in Deutschland bist und uns nicht vergessen hast, es wäre wirklich ärgerlich gewesen, wenn Du zu einem Mitbewerber gegangen wärst. Claudia hat mir bereits gesagt, dass Du eine neue Aufgabe suchst, deshalb hat sie mich auch sofort angerufen.

Hat sie Dir gesagt, weshalb ich hier bin, Matthias schüttelte den Kopf, während Josh aufseufzte. Hier ist in den letzten Monaten einiges schief gelaufen, außerdem habe ich von Unregelmäßigkeiten gehört. Heute habe ich dem ein Ende gesetzt und den stellvertretenden Zweigstellenleiter auf die Straße gesetzt. Den Posten habe bereits wieder besetzt, er zuckte mit den Schultern, dafür kommst Du zu spät, aber dafür ist die Leitung Marketing frei geworden.

Hast Du Interesse, es klang alles sehr verlockend, was er durch Zufall so unvermittelt serviert bekam, es klang auch verdammt gut, wo war der Haken. Wo ist der alte Marketingleiter, fragte er, oh der ist jetzt der neue Zweigstellenleiter ergänzte Josh das vorher Ungesagte.

Denk in Ruhe darüber nach, Du hast eine halbe Stunde Zeit, in der Zwischenzeit können wir eine Kleinigkeit essen, dabei griff er nach der Speisekarte. Es war typisch für ihn, immer zeigen, dass man selbst das Heft des Handelns in der Hand behält, dem anderen keine Zeit zum Nachdenken lassen.

Eine halbe Stunde, eigentlich eine indiskutable Frist, hier kam ihm diese kurze Frist entgegen. Sie zeigte aber auch, dass Josh unter Druck stand, er suchte schnellstmöglich eine gute Lösung für Berlin, und glaubte, diese in ihm gefunden zu haben.

Jetzt schien ihm aufgefallen zu sein, dass Matthias sich in einem Hotel einquartiert hatte, in dessen Umgebung er sich ebenfalls auskannte, wie er bei der Auswahl des Restaurants gezeigt hatte.

Wieso wohnst Du hier im Hotel, fragte er direkt, es war besser, alle offenen Fragen sofort zu klären, neben dieser hatte er noch einige andere. Weshalb er zum Beispiel gerade jetzt in Deutschland aufgetaucht war, was war mit seinem Job in den USA, hatte er Probleme mit seinem ehemaligen Arbeitgeber usw., aber alles nacheinander. Er blickte ihn neugierig an.

In dieser Gegend habe ich die ersten fünfundzwanzig Jahre meines Lebens verbracht, hier kenne ich immer noch alles wie meine Westentasche, wie es so schön heißt. Hier bin ich mit Freunden durch die Gegend gezogen, habe die Umwelt unsicher gemacht.

Dass er hier auch seine schrecklichste Zeit hier verbracht hatte, verschwieg er, so sehr vertraute er ihm nicht. Möchtest Du wieder in diese Gegend, fragte Josh neugierig, vielleicht hatte er zusätzlich noch einen Trumpf in der Hand, den er ausspielen konnte. Matthias schaute ihn fragend, worauf wollte dieser hinaus, leichthin meinte er, vielleicht suche ich mir in der Gegend eine Wohnung.

Josh konnte es nicht mehr zurückhalten, er erzählte, dass die Agentur in dem Neubau an der Kirchstraße, der ja hier zum Gesamtkomplex gehörte für den ehemaligen stellvertretenden Leiter eine Wohnung angemietet hatte. Da sie die Wohnung langfristig angemietet hatten, betrug die Restlaufzeit des Mietvertrages noch drei Jahre. Dieser hatte zugesichert die Wohnung innerhalb der nächsten vierzehn Tage zu räumen, wahrscheinlich sogar schneller, da er Berlin wieder verlassen wollte. Du könntest Deine Suche beenden, wenn Du dich für mein Angebot erwärmen könntest, dabei grinste er ihn an, als hätte er alle Trümpfe in seiner Hand vorgefunden.

Sie erzielten schnell eine Einigung, in der die Wohnung Teil der Vereinbarung wurde. Er würde formal in der Berliner Hierarchie eine nachrangige Position innehaben, allerdings sollte über ihn die Kommunikation mit der Zentrale in Hamburg laufen. Eine derartige verfahrene Situation, wie er sie vorgefunden hatte, wollte er nicht wieder erleben.

Sie sprachen über diverse Projekte der Vergangenheit sowie auch Kampagnen in den USA, der Versuch Näheres über das abrupte Ende in New York zu erfahren misslang. Es störte nicht, vorerst, zu gegebener Zeit würde er erfahren, was er wissen wollte. Es gab kein Geheimnis in der Branche, welches nicht früher oder später ans Licht der Öffentlichkeit gelangt wäre.

Es hatte sich alles sehr viel schneller geregelt, als er erwartet hatte, bei der Verabschiedung hatte Josh ihn umarmt und in der Agentur willkommen geheißen. Wie alt mochte er sein, dreiundsechzig, vierundsechzig, er sah auf jeden Fall jünger aus, trotzdem hatte er in ihm eher den väterlichen Freund gesehen. Gerade auch im Hinblick darauf, dass er nie einen wirklichen Vater gehabt hatte, Erzeuger, ja aber auch nicht mehr. Morgen würde er mit ihm zusammen in sein neues Büro fahren, in diesem Zusammenhang sollte er gleich vorgestellt werden, sein eigentlicher Beginn war in zehn Tagen vorgesehen.

In seinem Zimmer schaltete er seinen Computer ein, vielleicht hatte Rachel geschrieben, eigentlich wusste er nicht, was er erwartete, er hatte doch selbst für, aus seiner Sicht, geklärte Verhältnisse gesorgt. Ungeduldig trommelte er auf den Tisch, bis der Rechner endlich hochgefahren war. Schnell startete er seinen Browser und rief sofort seinen Mail-Client um den Eingang zu prüfen, nichts, keine Nachricht von Rachel. Er löschte die Spams, die trotzdem noch den Weg in seinen Account gefunden hatten, dann schloss er ihn wieder.

Egal, eigentlich war alles gesagt, die paar persönlichen Dinge würde er sich nach und nach wieder besorgen. Als Erstes würde er morgen nach der Vorstellung eine neue Ausstattung zum Laufen besorgen. Unbewusst gab er Nike Store Berlin in dem Suchfenster ein, vielleicht gab es auch in Berlin so einen Store wie in New York, er wusste genau, was er wollte. Als sich das Fenster öffnete, sah er auf die Adresse, Tauentzienstraße Ecke Nürnberger, eigentlich kannte er die Ecke. Was war da eigentlich früher fragte er sich, die Adresse brauchte er sich nicht notieren.

Die Vorstellung verlief angenehm, Josh stellte ihn überall vor, die meisten kannten seinen Namen, ansonsten waren es Fremde für ihn. Ein Gesicht glaubte er noch aus seiner Hamburger Zeit wiedererkannt zu haben, sonst blickte er in fremde Gesichter. Überall ein unbestimmter Gesichtsausdruck, sie wussten ihn noch nicht einzuschätzen, waren aber vorsichtig, da der große Boss ihn persönlich vorstellte.

Im Anschluss daran verabschiedete Josh sich nach Hamburg, sie wollten zu gegebener Zeit telefonieren, er fuhr zum Tauentzienstraße. Die Überlegung sich eventuell ein Auto zu kaufen, um beweglicher zu sein, verwarf er angesichts der künftigen Wohnsituation zum Büro. Er brauchte nur zwei Stationen mit der S-Bahn zu fahren, um aus dem Zug direkt ins Büro zu fallen, welches sich in einem Neubau an der Friedrichstraße befand.

Es war kein Vergleich zu dem Store in New York, aber er fand, was er brauchte, sie hatten seine Laufschuhe vorrätig. Zusätzlich besorgte es sich auch wärmere Laufkleidung, morgens war es inzwischen schon so frisch, dass er Angst hatte, zu frieren, wenn er verschwitzt laufen würde. Er lief in Richtung Kurfürstendamm, wie lange war er schon nicht mehr hier gewesen. Das letzte Mal, an das er sich erinnern konnte, war nach der mündlichen Abschlussprüfung, die er mit anderen Kommilitonen in einer Seitenstraße gefeiert hatte. Auch hier hatte sich einiges geändert, er würde seine Heimatstadt neu erkunden müssen, er überlegte, ja, er freute sich darauf.

Kein Vergessen

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