Читать книгу Gegen diese Zukunft - Ernst Meder - Страница 4
1. Kapitel
ОглавлениеDurch das Krähen des Hahns geweckt tastet sie, mit noch halb geschlossenen Augen an die Stelle ihres gemeinsamen Ehebettes, an der eigentlich Holger liegen sollte. Als ihre tastende Hand ins Leere greift, spürt sie, dass die Stelle, an der sie ihren Ehemann erwartet hatte, bereits kalt geworden war. Immer noch im Halbschlaf lächelt sie, er musste bereits aufgestanden sein, um die Tiere zu füttern, dabei war er so rücksichtsvoll, dass sie nicht mitbekommen hatte, als er das Bett verlassen hat.
Mit einem Stöhnen öffnet sie halb ein Auge, blickt auf die leere Seite neben sich, jetzt wünscht sie sich, dass Holger noch da liegen und sie in den Arm nehmen würde. Sie blickte unverwandt auf die Stelle, dann fällt ihr auf, was sie daran irritiert. Seine Bettseite scheint genau so unberührt wie am Abend zuvor, als sie sich zum Schlafen gelegt hatte. Nun öffnet sie ihre Augen ganz, dann fällt ihr Blick auf die rote digitale Anzeige ihres Weckers. Die Uhr zeigt erst Halbsieben Uhr, so früh ist Holger sonntags noch nie aufgestanden. Vor allem dann nicht, wenn er am Abend zuvor im Dorfkrug war.
Mit leichtem Stöhnen setzt sie sich auf, plötzlich ist sie wieder da diese verdammte morgendliche Übelkeit die sie veranlasst, schnellstmöglich das Badezimmer aufzusuchen. Während sie über der Toilettenschüssel hängt und sich übergibt überlegt sie, wo Holger sein kann. Mit dem Drücken der Toilettenspülung ruft sie nach ihm, Holger, ihr lautes Rufen verhallt, ohne dass sich etwas ändert.
Am Waschbecken spült sie sich den Mund aus, wäscht sich mit kaltem Wasser das Gesicht, dann zieht sie einen Morgenmantel über ihren Schlafanzug. Ein Blick in den Spiegel, dann ein leises »Oh mein Gott«, als sie in ein blasses Gesicht mit zerzausten Haaren sieht. Schnell greift sie zu der Bürste, um die am schlimmsten abstehenden Strähnen zu bändigen. Nach einem erneuten Blick sowie einem gleichgültigen Hochziehen der Schultern verlässt sie das Bad. Damit muss er leben, schließlich hat er sich die Nacht um die Ohren geschlagen, hatte sie allein gelassen. Gestern war er wieder in den Gasthof gegangen, dort sollte erneut so eine Versammlung stattfinden, die, wie sie oft genug miterlebt hatte, nie zu einem Ergebnis führte.
Zuerst wurden große Reden geschwungen, was man alles damit anfangen könne. Mit fortschreitendem Abend sowie der Zunahme des Alkohols kommt es dann zu den üblichen Streitigkeiten. Diese führen schon mal dazu, dass einer der Beteiligten mit einer blutenden Nase oder einem blauen Auge den Weg nach Hause torkelt. Zum Beginn dieser Sitzungen, wie die Teilnehmer hochtrabend ihre Treffen nannten, wollte sie auch dabei sein. Schließlich war auch sie eine der Personen, die von dem Ergebnis dieser Beschlüsse betroffen sein würde. Als sie jedoch die Auswüchse dieser Treffen miterlebte, hatte sie beschlossen, immer dann auf Besuche des Gasthauses zu verzichten, wenn diese Treffen angekündigt waren.
Lieber genoss sie am Samstagabend die Ruhe in ihrem Haus, wo sie sich in ein Buch vertiefen konnte, nachdem die Tiere versorgt waren. Zurzeit las sie eine Geschichte, die sich so oder so ähnlich auch in ihrem kleinen Dorf hätte zutragen können.
Bei der Geschichte ging es um einen Unfall bei dem die Ehefrau und das Kind sterben, nachdem das Auto in einen See stürzt. Ein junger Pfarrer, der neu in dem Dorf ist und der zu dem Unfall gerufen wird, erfährt in der Folgezeit Gerüchte, die den Unfall in einem anderen Licht erscheinen lassen. Plötzlich ist der Familienvater verdächtig, nachdem Abgründiges über die Familie ruchbar wird.
Sie hatte sich beim Lesen vorgestellt, dass diese Geschichte sich auch in ihrem kleinen Dorf hätte ereignen können. Als sie daran dachte, überlief sie ein leichter Schauder, vielleicht lag dieses Ereignis ja noch vor ihnen. Seit im Sommer diese Anzugträger aufgetaucht waren, die ihnen dieses verlockende Angebot unterbreitet hatten, schien nichts mehr wie früher.
Nachdenklich füllte sie Wasser in die Kaffeemaschine, dann nahm sie den Kaffeebehälter, überlegte kurz, dann lächelte sie, egal, sie würde auch für ihn Kaffee zubereiten. Es war sehr wahrscheinlich, dass er diesen auch dringend benötigte. Eigentlich war es nicht seine Art, im Gasthof zu versacken, seit ihrer Heirat vor zwei Jahren war es erst dreimal geschehen. Die Erinnerung an diese drei Tage ließ sie laut auflachen. Erschrocken hielt sie ihre Hand vor den Mund, sah sich um, als ob er in diesem Augenblick auftauchen würde.
Während der Kaffee durch den Filter lief, bereitete sie sich ihr spezielles Frühstück, wozu neben Marmelade, Ketchup auch Gewürzgurken zählten. Ein Tribut an ihre Schwangerschaft, oder wie Holger immer sagte, außergewöhnliche Nahrung für ein außergewöhnliches Wesen, welches in einer außergewöhnlichen Frau entsteht. Gedankenverloren strich sie über ihren Bauch. Seit ihrer Schwangerschaft hatte sich so viel verändert, Holger war noch rigoroser in seiner Meinung noch unerbittlicher in seinen Forderungen geworden. Inzwischen hatte er das ganze Dorf gegen sich aufgebracht.
Leicht stöhnend ließ sie sich auf ihren Stuhl sinken, goss sich den Kaffee in den Becher. Mit einem zufriedenen Blick betrachtete sie aus ihrem Küchenfenster die aufsteigende Sonne, die sich bereits zur Hälfte über den Apfelbäumen befand. Jetzt im September hatte ihre Kraft schon spürbar nachgelassen, trotzdem war es angenehm, die Wärme im Gesicht zu spüren. Während Holger morgens nicht in die Sonne sehen wollte, genoss sie die Wärme der Sonnenstrahlen.
Ihre Gedanken schweiften zurück zu der Ausstellung vor dreieinhalb Jahren, als sie zur Delegation der Brandenburger Landwirte gehörte, die Lebensmittel aus Brandenburg bei der „Grünen Woche“ in Berlin vorstellte. In dieser Ausstellung, in der diese schicksalhafte Begegnung stattfand, sollte sie die Liebe ihres Lebens finden. Dass diese Ausstellung auch in ihrem späteren Leben schicksalhaft eingreifen sollte, hatte sie damals noch nicht geahnt, auch nicht, wie sehr sich in den Folgejahren dadurch ihr Leben verändern sollte. Alles begann auf der Grünen Woche vor drei Jahren.
Zu der Delegation damals gehörte auch Ronald Holzer, den sie seit ihrer Schulzeit kannte und der sich bis zu jener Ausstellung noch Hoffnungen gemacht hatte, dass sie früher oder später ein Paar würden. Das ging so weit, dass er bereits überall verbreitete, dass sie ihn in Kürze heiraten würde.
Während die Handwerker die Stände aufbauten, war sie durch die Hallen der anderen Bundesländer spaziert, um sich diese anzusehen. Sie war häufig stehen geblieben, hatte sich mit Landwirten aus der jeweiligen Region unterhalten, wobei sie die Präsentation der Waren genau betrachtete.
Bei einem dieser Spaziergänge hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen, wie er Handwerker dirigierte, sowie den Aufbau bestimmter Vorrichtungen veranlasste. Wie er trotz der kalten Jahreszeit, mit nur einem knappen T-Shirt ins Schwitzen geraten war, sich ohne Koketterie eine Haarsträhne aus dem Gesicht wischte. Trotzdem wirkte er auf eine ganze besondere Weise anziehend, die sie nicht beschreiben konnte.
Es war nicht die ach so bekannte Liebe auf den ersten Blick, die sie innehalten ließ. Es war eher die Bestimmtheit, mit der er seine Anordnungen traf, die sie so faszinierte. Sein Gesicht war eher durchschnittlich, nichts was sich besonders hervorgehoben, aber auch nichts, was entstellend gewirkt hätte. Es waren seine Augen, die sie sofort faszinierten, diese graublauen Augen, in die sie später so oft versunken war. Die aber auch Blitze verschießen konnten, wenn er wütend wurde oder aufgeregt war.
Sie war an einer Stelle stehen geblieben, von der sie angenommen hatte, dass sie den Aufbau nicht störte. Während sie ihn versunken betrachtete, war unbemerkt von ihr, die Erweiterung der Ausstellungsfläche bis zu dem Bereich vorgedrungen, in dem sie stehen geblieben war.
Ein heftiger Schlag an ihren Hinterkopf erinnerte sie schmerzhaft, dass die von ihr gewählte Stelle vielleicht doch nicht so ohne Störung sein würde.
›Autsch‹, schrie sie laut auf, während sie ohne ihr Zutun auf dem Hallenboden landete.
›Entschuldigung‹, die Stimme des Handwerkers klang bedauernd, während er einen Holzbalken ablegte, um ihr aufzuhelfen.
›Was haben Sie da zu suchen, Sie sehen doch, dass hier gearbeitet wird‹, klang es scharf aus einiger Entfernung hinter ihrem Rücken, während sie, mithilfe des Handwerkers, versuchte sich mühsam zu erheben.
Leicht benommen fasste sie an die getroffene Stelle, wo sie eine schnell wachsende Beule feststellte. Ein Blick auf ihre Hand zeigte ihr, dass nichts Schlimmeres geschehen war, da sie kein Blut an der Hand feststellte.
›Kann ich etwas für Sie tun‹, die Stimme des Handwerkers klang immer noch bedauernd, als er ihre leicht schwankende Gestalt festhielt.
›Hol ein feuchtes Tuch‹, die befehlsgewohnte Stimme in ihrem Rücken klang jetzt sehr nah und weniger scharf, als sie noch vor Kurzem geklungen hatte. ›Kommen Sie, Sie müssen sich setzen‹, dabei griff er nach ihrem Ellbogen, um sie in die Richtung einer Sitzgelegenheit zu dirigieren.
›Wie können Sie nur an dieser Stelle stehen bleiben, Sie hätten doch sehen‹, dann verstummte er urplötzlich mitten im Satz.
Sie hatten zwischenzeitlich einen Stuhl erreicht, auf dem sie sich niederließ, dabei hatte sie ihm direkt ins Gesicht geblickt. Dieser Blick war es, wie er ihr später erzählte, der ihn hatte innehalten lassen, der ihn zum Verstummen brachte. Diese traurigen Augen, in welchen er die Feuchtigkeit des Schmerzes sowie die Trauer des Missverständnisses zu erkennen glaubte, hatten ihn sofort gefangen genommen.
Wie ein Ruck ging es durch seinen Körper, als er jetzt mit leiser Stimme sagte, ›lassen Sie mich nachsehen, wie schlimm Sie verletzt wurden‹. Während sie sich langsam nach vorne beugte, um ihm einen Blick auf die schmerzende Stelle zu gewähren, spürte sie das sich stetig steigernde Pochen aufziehender Kopfschmerzen.
Vorsichtig, ja fast zärtlich versuchte er, ihre Haare von der betroffenen Stelle zu entfernen, als sie sein scharfes Ausatmen vernahm. ›Mit der Beule werden sie in den nächsten Tagen nicht auf dem Rücken schlafen können‹, klang seine ruhige Stimme. Nichts in seiner Stimme war jetzt noch in der vorherigen Aggressivität zu vernehmen.
›Jetzt wird es ein bisschen wehtun‹, seine inzwischen zärtliche Stimme klang durch das Pochen in ihrem Kopf, als sie bereits die Kälte eines feuchten Tuches verspürte. ›Haben Sie Schmerzen, ist Ihnen übel‹, seine Fragen wurden immer drängender, während sie sich wunderte, dass er so laut sprach.
Ihr kurzes Nicken zeigte ihr sehr schnell, dass es besser war, ruckartige Bewegungen des Kopfes zu vermeiden. Während sie ihren Kopf mit geschlossenen Augen auf ihre Knie legte, hörte sie entfernte Stimmen, in der sie auch seine Stimme heraushörte.
Kurze Zeit später spürte sie seine Hand, ›kommen Sie, es ist besser, wenn sie sich hinlegen, ich habe jemanden von der Messeleitung angerufen die wollen einen Arzt hierher schicken‹. Er führte sie zu einer eiligst hergestellten Liegemöglichkeit, die aus Paletten und Brettern bestand und die mit Stroh und Decken zu einem weichen Lager bereitet wurden.
Sie hörte selbst, wie zaghaft ihre Stimme klang, als sie leise ›danke‹, zu ihm sagte. Dabei hielt sie seine Hand fest, so als ob sie Halt suchte. Später erzählte er ihr, dass er zuerst Angst gehabt habe, dass sie ihn nie wieder loslassen würde. Dann jedoch spürte er dieses merkwürdige Gefühl, als ob er überhaupt nicht wolle, dass sie ihn je wieder loslasse.
Er wartete neben ihr, bis der Arzt kam, sie untersuchte, dann mit einer merkwürdig hellen Stimme feststellte, dass sie eine leichte Gehirnerschütterung habe. Erst in diesem Moment drang in ihr Bewusstsein, dass der Arzt eine Ärztin war. Mit einer Schmerztablette sowie dem Rat sich noch etwas auszuruhen, verabschiedete sie sich ohne großes Aufheben.
Sie hatte sofort wieder nach seiner Hand gegriffen, die sie während der Untersuchung hatte loslassen müssen. Sie musste eingeschlafen sein, denn als sie erwachte, waren die schlimmsten Kopfschmerzen verschwunden, während ihr Retter immer noch neben ihr saß und ihre Hand hielt.
Langsam öffnete sie ihre Augen, sah, wie er mit Gesten Anordnungen traf, ohne auch nur ein einziges Mal seine Stimme zu erheben. Mit halb geschlossenen Augen beobachtete sie ihn durch ihre langen Wimpern. Sie sah die Veränderung in seinem Gesicht, das Minenspiel, das Zustimmung oder Ablehnung deutlich zeigte. Noch nie hatte sie derart starke Veränderungen der Mimik bei einem Mann gesehen. Männer waren doch sonst immer bestrebt, mit keiner Regung ihre Gefühlswelt zu offenbaren. Hatten sie doch immer Angst ein Zacken ihrer Männlichkeit aus ihrer Manneskrone zu verlieren.
War es eine ungeschickte Bewegung von ihr oder hatte er aus den Augenwinkeln ein Blinzeln von ihr entdeckt, er wollte es ihr später nicht verraten, jedoch wandte er sich ihr zu, um sie zu begrüßen.
›Wieder unter den Lebenden‹, er lächelte, während er sich zu ihr wandte. ›Wie geht es ihnen, haben sie immer noch starke Kopfschmerzen oder ist Ihnen noch übel, kann ich noch etwas für Sie tun‹.
Es wirkte, als wollte er sie mit Worten an ihrer Liegestatt festhalten, wollte vermeiden, dass sie wieder aus seinem Leben verschwand.
›Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, wahrscheinlich hätte ich ohne Ihre Fürsorge mein Leben auf dem Boden der Grünen Woche ausgehaucht, ohne dass jemand dies mitbekommen hätte‹.
Sie hatte ihn angelächelt, während sie ihm mit ihrer melodischen Stimme gedankt hatte, dann setzte sie sich langsam und ganz vorsichtig auf, wobei sie sich an ihm festhielt. Mit leicht verzerrtem Gesicht aber noch unsicherer Stimme sagte sie ihm, ›ich glaube, es geht schon wieder‹.
Ein Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass bereits mehr als drei Stunden seit dem Beginn ihres Ausflugs verstrichen waren. Erschrocken fragte sie, ›haben Sie die ganze Zeit bei mir gesessen‹, während er nickte, fügte sie verschmitzt hinzu ›und Händchen gehalten‹.
Sein rosa Teint zeigte ihr sein Unbehagen, als er trocken erwiderte, ›mein Eindruck war eher der, dass das Händchenhalten eher auf ihre Initiative zurückzuführen war‹. Dann lachte er laut auf, ›ich glaube, wir sollten uns nicht darüber streiten, wer damit begonnen hat‹, dann setzte er verschwörerisch hinzu, ›wichtig ist nur, dass es Ihnen gefallen hat‹.
Nun war es an ihr, ihre Verlegenheit durch das Senken ihrer Lider zu dokumentieren, während sie geheimnisvoll lächelte.
›Ich glaube, ich muss wieder zurück zu meinem Stand, da wird man mich bestimmt schon vermissen, außerdem habe ich Sie und Ihre Geduld über die Maßen strapaziert‹. ›Wenn Sie mir hochhelfen, werde ich versuchen, zu meinem eigentlichen Platz zurückzukehren‹.
›Werde ich Sie wiedersehen‹, sein Interesse klang unverhohlen, als sie jetzt vor ihm stand.
Sie blickte zu ihm in seine geheimnisvoll schimmernden Augen. ›Aber natürlich, Sie kennen doch das asiatische Sprichwort, dass man für das künftige Leben der Person verantwortlich ist, dessen Leben man gerettet hat‹. ›Ich bin in der Brandenburg-Halle‹, dann ging sie mit noch unsicheren Schritten in die angekündigte Richtung.
Ein leichtes Kitzeln an ihrer rechten Wade ließ sie nach unten blicken, ›Brutus, na bist Du auch endlich aufgewacht‹, dabei streichelte sie ihm leicht über seinen Kopf. Sie hatte ihn als Welpen zu ihrem zehnten Geburtstag als Geschenk erhalten. Inzwischen hatte er sein siebzehntes Hundejahr hinter sich gebracht, fühlte die Last des Alters in jedem Knochen, weshalb er sich nur noch wenig bewegte.
Nun lag er fast immer in der Küche und verschlief die meiste Zeit des Tages, nur wenn sein Hunger ihn trieb, verließ er seine Lagerstätte um seinen Fressnapf aufzusuchen. Dies hinderte ihn jedoch nicht, seine Dickköpfigkeit, die eine Eigenheit seiner Rasse zu sein schien, immer aufs Neue durchzusetzen. Sie liebte ihren Rauhaardackel, auch wenn dessen Ende absehbar war. Er war jetzt schon älter als man ihr über die Jahre hinweg immer wieder prophezeit hatte, er hatte sich nicht darum geschert, hatte einfach jede Vorhersage ignoriert und weiter gelebt.
›Komm mit, da gibt es was zum Fressen‹, vorsichtig stand sie auf, immer darauf achtend, ihn nicht mit ihrer Bewegung zu überraschen. Es war vor etwa zwei Monaten, sie hatte wie heute gerade gefrühstückt, als er sich so ähnlich wie heute an sie gedrückt hatte. Ihr Aufstehen musste ihn überrascht haben, denn er fiel einfach um, konnte die abrupte Änderung nicht korrigieren. Seit diesem Tag achtete sie noch mehr darauf, mit Brutus vorsichtig umzugehen.
Sie bereitete seinen Haferbrei, in dem sie immer die Tabletten versteckte, die er sich standhaft zu schlucken weigerte. Sie war betrübt, wenn sie ihn so abwartend sitzen sah, um sie mit seinen traurigen Augen anzusehen, in dem bereits die Kenntnis seines nahenden Endes abzulesen war. Diese Augen waren es, die sie im Laufe der Jahre gelehrt hatten, was unter einem Dackelblick zu verstehen ist, und zu welcher Gelegenheit, dieser zum Vorteil eingesetzt werden konnte.
Der Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass die Sonne sich gerade in ihrer vollen Größe hinter den Bäumen erhoben hatte. Sie spürte die angenehme Wärme durch das Fensterglas, während sie nachdenklich in den Garten blickte.
Wo nur Holger blieb, es war bereits Viertel nach sieben, wenn er in der nächsten Dreiviertel Stunde nicht erschien, würde sie die Tiere füttern müssen. Er war erst einmal später nach Hause gekommen, dass war an jenem Sonntag, an dem er verbeult aber grinsend erklärt hatte, dass sie erst einmal den anderen sehen solle. Sie hatte ihm nicht böse sein können, wie er so vor ihr gestanden hatte, als der kleine freche Junge, der ab und an zum Vorschein kam.
Ohne sich an zeitlichen Abläufen zu orientieren, flogen ihre Gedanken zu den unterschiedlichen Ereignissen und Erlebnissen, die sie seit jener ersten Grünen Woche erlebt hatte. Ein Jahr später, genau zum Zeitpunkt der Ausstellung, hatte das Schicksal erneut zugeschlagen, ihre Eltern, die auf dem Weg zu Tante Erna waren, kamen bei einem Autounfall ums Leben.
Tante Erna, die bei Glatteis gestürzt war, hatte sich diverse Gliedmaßen gebrochen, der komplizierteste Bruch betraf ihren Oberschenkel. Da die Heilung nur sehr zögerlich voranschritt, hatte ihre Mutter, die Schwester von Tante Erna, beschlossen diese abzuholen. Wir können Dich hier im Haus besser versorgen, hatte sie ihre Schwester überzeugt, dem Arrangement zuzustimmen. Auf dem Weg nach Stralsund war in der Nähe von Greifswald ein Lkw ins Schleudern geraten, dabei auf die gegenüberliegende Fahrbahn geraten, wo sich in diesem Augenblick ihre Eltern befanden.
Beide hatten so schwere Verletzungen davongetragen, dass sie noch am Unfallort daran verstorben waren. Sie hatte am letzten Tag der Ausstellung von dem Tod ihrer Eltern erfahren, als die Polizei sie noch in der Halle davon unterrichtete.
Holger hatte sie getröstet, war für sie da gewesen, als sie Halt brauchte, als sie eine Schulter benötigte, die sie nass weinen konnte. Dann hatte er sie nach Hause gefahren, war bei ihr geblieben, bis sie sich wieder gefangen hatte.
Brutus streifte ihr Bein, als er wieder zu seinem Liegeplatz ging, der sich unter der Küchenbank befand. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie wieder an den Tod ihrer Eltern dachte, die sie viel zu früh allein gelassen hatten.
Ein Lächeln erschien auf ihrem verweinten Gesicht, als sie an Brutus dachte, seine Reaktion auf Holger, als er ihn das erste Mal gesehen hatte. Er fühlte sich immer schon berufen entscheiden zu können, welcher Umgang der Richtige für sie war. Der erste Freund, der sich seinen Unwillen zugezogen hatte, war Ronald, den er bei seinem ersten Besuch gebissen hatte.
Gebissen war vielleicht ein zu großes Wort für seine vier Monate, die er gerade alt geworden war, aber gekniffen hatte er ihn, wie noch lange an dem blauen Fleck zu sehen war. Diese Abneigung hatte sich nie geändert, inzwischen war diese allerdings beidseitig, da Ronald vier Jahre später erneut Bekanntschaft mit seinem inzwischen kräftigeren Gebiss machen durfte.
Auch andere Freunde, die sie im Laufe der Jahre, mit nach Hause gebracht hatte, wurden im besten Falle verbellt, sollten diese jedoch hartnäckiger werden so zeigte er seine unangenehme Seite. Obwohl er sonst auf sie hörte, schien er beschlossen zu haben, bei der Wahl ihrer Freunde aktiv mitzuwirken.
Den ersten und bisher einzigen Mann in ihrem Leben, den er, nach kurzem Zögern rückhaltlos akzeptierte, war Holger. Ihn hatte er als ihren Partner und als seinen neuen Herren billigend in Kauf genommen.
Leicht stöhnend ließ sie sich auf ihren Platz sinken, dann griff sie zu ihrem Kaffeebecher, der sich kalt anfühlte. Langsam goss sie sich Kaffee nach, als ihr der erste Tag ihres Kennenlernens wieder einfiel.
Er war kurz nach der Fertigstellung ihrer Aufbauten mit suchendem Blick durch ihre Halle geschlendert, so als würde er sich ausschließlich für die Präsentation sowie den Aufbau ihrer Stände interessieren. Er konnte sie nicht sehen, da sie sich nochmals frischen Kaffee gemacht hatte, in der Hoffnung damit ihre inzwischen wieder stärker werdenden Kopfschmerzen zu bekämpfen.
Sie hatte sich angeschlichen, stand direkt hinter ihm, als sie den verhängnisvollen Satz aussprach.
›Wen suchen Sie Fremder‹.
Erschrocken war er herumgefahren, dabei an ihren Arm gestoßen, sodass sich der soeben eingegossene Kaffee über ihre Brust ergoss.
Sie hatte aufgeschrien, wenn auch mehr durch den Schreck als durch die Temperatur des Kaffees, während er erschrocken das Malheur betrachtete, dessen raumgreifender Armschwung dafür verantwortlich war.
Einem ersten Impuls folgend wollte er seine Ungeschicklichkeit wieder dadurch gutmachen, dass er versuchte, den Kaffee von ihrer Brust zu wischen. Die Berührung ihres Busens brachte ihn wieder zur Besinnung, mit rötlichem Gesicht hatte er stotternd versucht, seine Ungeschicklichkeit zu entschuldigen.
Nach dem ersten Schreck hatte sie laut aufgelacht, sah das Komödiantische der Situation, in der sie sich gerade befanden. Ronald war dazu gekommen, hatte versucht, den Fremden mit bösem Blick zu verdampfen. Noch jemand der sich berufen fühlte sie beschützen, obwohl niemand ihn darum gebeten hatte. Außerdem witterte er die Gefahr, die von dem Fremden ausging, der ihm seine zukünftige Frau abspenstig machen wollte. Diese Ansicht, dass sie seine künftige Frau sein würde, hatte er zwar exklusiv, er war jedoch immer noch überzeugt, sie von dem Arrangement überzeugen zu können.
Sie war der drohenden Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen, indem sie nach der Hand von Holger gegriffen und diesen mitgezogen hatte.
›Komm mit, ich muss mir etwas anderes anziehen‹, dabei hatte sie Ronald demonstrativ angesehen, sollte er endlich begreifen, dass sie nichts von ihm wollte.
Im Aufenthaltsbereich hatte sie Holger aufgefordert sich umzudrehen, damit sie sich umziehen konnte. Sie hatte sich Bluse und BH abgestreift, dann hatte sie den kleinen Rucksack geholt, der ihre Ersatzkleidung enthielt. Dabei bewegte sie sich in dem Bewusstsein, dass sie einen Aufpasser hatte, der sie vor unangenehmen Überraschungen beschützen würde, z. B. den Zutritt von Ronald.
Während sie sich auskleidete, dann unbefangen halb nackt durch den Raum ging, um sich die Kleidung zu holen, konnte er sie in der satinierten Glastür wie in einem Spiegel betrachten. Er sah die zierliche Figur, die kleinen festen Brüste die neugierig nach oben blickten und die sich nicht zu bewegen zu schienen, während sie lief.
Es wirkte zwar etwas verschwommen, trotzdem hatte er, nachdem er zuerst unangenehm berührt auf das Spiegelbild gestarrt hatte, neugierig ihre Figur betrachtet. Was er sah, gefiel nicht nur ihm, auch eine andere Region bei ihm schien sich an dem Anblick zu erfreuen. Während sie unbewusst ein T-Shirt überzog, dabei den kaffeegetränkten Büstenhalter wegließ, wirkten ihre Bewegungen für ihn sinnlich.
Erst jetzt war ihm bewusst geworden, dass sie ganze Zeit geredet, ihm Dinge erzählt hatte, die an ihm vorbei gerauscht waren. Erst nach einer Frage, die sie bereits mehrfach gestellt haben musste, denn ihre Frage klang jetzt drängend, riss er seinen Blick von dem Spiegelbild. ›Ja, was hast Du gefragt, ich war in Gedanken, kannst Du bitte die Frage wiederholen‹.
›Du kannst Dich umdrehen, ich hab mich schon angezogen, ich habe gefragt, ob wir heute etwas gemeinsam unternehmen wollen, oder ob Du bereits verabredet bist‹.
›Nein, ich meine ja, ich würde gerne etwas mit Dir unternehmen‹. Er lachte kurz auf, ›ich habe das Gefühl, ich benehme mich wie ein Idiot, der nicht in der Lage ist drei Sätze geradeaus zu reden‹.
›Das ist in Ordnung, wenn ich jemand mit besonders intellektuellen Fähigkeiten suchen sollte, würde ich zur Universität gehen, da ist die Auswahl größer‹.
›Das ist, das habe ich nicht‹..
›Ich weiß, unterbrach sie ihn, war ja nur ein Scherz‹, dann beugte sie sich nach vorne, um ihn auf die linke Wange zu küssen. ›Danke für alles, was Du für mich getan hast‹.
›In zehn Minuten fahren wir los‹, es war ein Befehl, als sie mit Holger wieder nach vorne kam. In der Stimme von Ronald klang die unterdrückte Wut, die er nicht offen zeigen wollte.
›Ich bleibe heute in der Stadt, wir treffen uns dann morgen wieder‹. Damit ließ sie ihn stehen, dann zog sie, während sie nach ihrer Winterjacke griff, nach Holgers Hand, um ihn mitzuziehen.
Während Roland zuerst nur verblüfft auf ihren Rücken starrte, dann die vertraute Geste des Händchenhaltens registrierte, zuckten seine Gesichtsmuskeln vor Wut. Diesem Schnösel würde er es zu gegebener Zeit schon noch zeigen.
Es war, als hätte er heute seinen eigenen Willen abgegeben, so folgsam befolgte er ihre Vorschläge. Hätte sie ihn nicht selbst auf andere Art und Weise kennengelernt, es wäre nur ein kurzes Intermezzo für die Tage der Ausstellung geworden. So wartete sie interessiert ab, wie lange es dauern würde, bis er aus seinem tranceähnlichen Zustand wieder den Zustand der Normalität erreichen würde.
Sie waren, trotz winterlichem Wetter spazieren gegangen, hatten geredet, dabei hatte sie ihm das Verhältnis zu Ronald dargelegt. Dieser hatte sich seit frühester Jugend darauf versteift, dass sie beide irgendwann heiraten würden, damit ihre Höfe zusammengelegt werden konnten.
Nach Auflösung der landwirtschaftlichen Genossenschaften nach dem Ende der DDR hatten ihre wie auch seine Eltern ihre ursprünglichen landwirtschaftlichen Flächen zurückerhalten. Beiden Familien ging es mehr schlecht als recht, da die wirtschaftliche Nutzung der kleinen Flächen nicht immer gewährleistet war.
Dies hatte Ronald zum Anlass genommen, gedanklich die etwas kleinere Fläche seiner Familie, mit der etwas größeren Fläche ihrer Familie zu vereinen. Als für ihn ebenfalls gangbare Lösung erschien ihm das Verhalten der Bauern von vor zwei Jahrhunderten, die ihre Höfe durch die Heirat der Kinder vergrößerten.
Seit jener Zeit verfolgte er sie, trotz immer wiederkehrender Ablehnung, mit seinen Heiratswünschen. Sogar die körperliche Ablehnung ihres Hundes Brutus hatte ihn nicht abgehalten weiter zu behaupten, er würde sie eines Tages heiraten. Der Gipfel seiner Vorwürfe hatte darin bestanden, als er ihr vorgehalten hatte, sie hätte ihren Hund dressiert, damit dieser ihn angreifen würde.
Holger, der ihr während des Gesprächs die ganze Zeit zugehört hatte, erzählte ihr von dem Familienhof, den allerdings sein älterer Bruder übernehmen sollte.
›Dann hab ich mir den falschen Bruder ausgesucht, sagte sie lächelnd‹.
Zuerst verblüfft dann spöttisch, ›wer hat hier wen ausgesucht‹.
›Entschuldige, meine Mutter sagt immer zu mir, ich soll nicht so vorlaut sein, sonst finde ich nie einen Mann‹.
Den Kopf nachdenklich hin und her bewegend, ›ja ja wenn denn die Mutter da mal nicht recht hat‹. Der Schalk in seinen graublauen Augen machte die grüblerische Aussage jedoch bereits im Ansatz zunichte.
Sie hatten unterwegs eine Kleinigkeit gegessen, als die Kälte langsam an ihr hochkroch, spätestens als ihr Bibbern nicht mehr zu übersehen war, ergriff er energisch die Initiative.
›Komm mit mir in meine Pension, da ist es wenigstens warm, da können wir uns weiter unterhalten, ohne zu frieren‹.
Beide hatten das Thema der Übernachtung nicht angesprochen, spätestens seit ihrer Absage an Ronald, dass sie in Berlin bleiben würde, wusste er, dass sie keine Schlafgelegenheit hatte.
Es klang selbstverständlich, als sie ihm, ohne zu zögern, zustimmte. ›Ja lass uns gehen mir ist kalt und ich friere schon seit einer Weile‹. Wie selbstverständlich hakte sie sich bei ihm unter und drückte sich an ihn.
Als sie im warmen Zimmer gesessen hatten, erzählte er weiter von seiner Familie, auch um keine Befangenheit aufkommen zu lassen.
›Es war immer schon klar, dass mein Bruder den Hof übernehmen sollte, deshalb habe ich mich entschlossen Agrarwirtschaft zu studieren, da ich in der Landwirtschaft auch meine Berufung gesehen habe‹.
›Wie groß ist euer Hof, ist er sehr groß‹?
›Das ist sicher relativ, in unserer Gegend ist er der Größte mit etwas mehr als fünfzig ha, der nächstgrößere Hof hat nur knapp zwanzig ha‹.
›Unser Hof hat zwölf ha‹, ihr Erstaunen konnte er in ihren großen braunen Augen sehen, ›der von Ronalds Eltern hat nur sieben ha‹.
›Na jetzt weißt Du auch, warum der Dich heiraten will, als Großgrundbesitzerin bist Du ja ein begehrenswertes Objekt‹, neckte er sie.
Er erzählte von dem kleinen Dorf, in dem er aufgewachsen war und welches kaum fünfhundert Einwohner zählte, von seinem Studium in Hannover, obwohl er auch in der sehr viel näheren Stadt Bremerhaven hätte studieren können.
›Ich brauchte den Abstand von zu Hause, da unsere Ansichten damals in den wenigsten Punkten übereinstimmten‹. ›Mein Vater wollte seine konventionelle Landwirtschaft, wie seit Jahrzehnten betreiben, ich habe ihn immer versucht zu überzeugen nachhaltige Landwirtschaft zu betreiben‹. ›Er allerdings wollte nichts von Bio wissen, wir haben früher nur biologisch angebaut war sein Standardspruch, allerdings hatten wir auch nur dreißig Prozent Ertrag‹.
›Mein Vater war ein Sturkopf, ich war ein Eiferer, mein Bruder hielt sich meist raus, oder er vertrat die Ansicht meines Vaters. Na ja, das war es im Großen und Ganzen, jetzt kennst Du mein bisheriges Leben‹.
›Du hast die Hälfte ausgelassen‹, stichelte sie, ›wo bleiben die Liebschaften, die Freundinnen, die Ehefrauen.‹ Der Rest der Frage klang fast ängstlich, so als wollte sie nicht glauben, was sie gerade gesagt hatte, wollte bestimmte Realitäten nicht wahrhaben.
Sein Achselzucken sprach Bände, ›derzeit bin ich alleinstehend, Single, total vereinsamt, alles, was Dir an Begriffen dazu einfällt, trifft auf mich zu‹.
An dieser Stelle hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen, als sie in seine Augen blickte, den Dackelblick den sie bereits von Brutus kannte. Von dem sie aber auch wusste, dass dieser ihn immer dann aufsetzte, wenn er etwas Bestimmtes erreichen wollte.
Die Zeit war wie im Flug vergangen, keiner hatte auch nur in Erwägung gezogen, ein einziges Mal auf eine Uhr zu sehen. Als sie nun spürte wie ihre Glieder immer schwerer, das Gähnen immer häufiger wurde, wusste sie, dass jetzt die Zeit gekommen war, das anzusprechen, was beide bisher bewusst vermieden hatten.
Unbewusst glitt ihr Blick zu dem Bett, dann sah sie ihn verlegen an, ›kann ich bei Dir schlafen, ich bin inzwischen so müde‹, das letzte Wort brachte sie nur noch unter Gähnen heraus. ›Bitte verstehe mich nicht falsch, aber ich möchte wirklich nur schlafen‹.
›Soll ich auf dem Sessel schlafen‹, die Frage kam eher zögerlich über seine Lippen, als er sie besorgt anblickte.
›Wenn wir uns beide nicht so breitmachen, passen wir bestimmt gemeinsam auf das Bett‹. Ihre Stimme klang burschikoser als sie sich fühlte, er sollte ihre plötzlich aufsteigende Angst nicht spüren. Plötzlich hatte sie Angst in einer bestimmten Schublade zu landen, die sie gerade bei ihm vermeiden wollte.
Eine übel riechende Wolke riss sie aus ihren Gedanken, ›Brutus du Ferkel, kannst du deine Blähungen nicht draußen absondern‹. Ihr Magen rebellierte, als sie die Türe öffnete, die direkt in den Garten führte. Ein tiefer Zug erfrischte ihre Lungen, langsam begann sich ihr Magen, wieder von dem Schock zu erholen.
›Brutus raus mit dir, wenn du fertig bist, kannst du wieder reinkommen. Los raus beweg dich endlich Brutus‹. Jetzt klang ihre Stimme schon unwilliger, bis sie sah, wie er sich mühsam erhob und mit gesenktem Kopf langsam an ihr vorbei trottete. Jetzt tat er ihr schon wieder leid, wie er als Büßer versuchte, eine Stelle zu finden, an der er sich entleeren konnte.
Der Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es erst drei viertel acht war, trotzdem wollte sie die Unterbrechung nutzen, um die Tiere zu füttern. Bei den Hühnern und Schweinen hatte sie kein Problem, Angst hatte sie bei den Gänsen, seit eine Bekanntschaft etwas schmerzhaft verlaufen war. Allerdings konnte sie diese auch von außerhalb des Freigeheges füttern, damit blieb sie außerhalb der Reichweite ihrer garstigen Schnäbel.
Das Futter befand sich in der angrenzenden Scheune, von wo aus sie alle Tiere füttern konnte, ohne die Scheune zu verlassen, sollte es während der Fütterungszeit regnen.
Schnell zog sie sich ihre Arbeitskleidung über, dann trat sie aus dem Hauseingang, von wo sie direkt auf das Freigehege der Gänse schaute. Sie waren ungewöhnlich ruhig am heutigen Morgen, auch die sonst üblichen Geräusche aus dem Schweinestall waren verstummt.
Ein leichter Schauer überlief ihren Rücken, plötzlich spürte sie, wie sich die Härchen an ihren Armen aufrichteten. Diese ungewohnte Stille machte ihr zum ersten Mal bewusst, welche Geräusche eigentlich sonst so zu hören waren.
Weshalb heute diese Ruhe, sie trat in den Hof, sah sich um, dann ging sie, sich fortwährend umsehend auf das Tor der Scheune zu. Holger schien gestern Abend das Scheunentor nicht richtig geschlossen zu haben, denn sie konnte sehen, dass dieses einen Spalt offenstand.
Energisch schüttelte sie ihr Haupt, eigentlich entsprach dies nicht seinem Verhalten, wahrscheinlich waren es andere Gründe, die dazu geführt hatten. Jetzt machte sie sich schon wegen schlafender Gänse und schlafender Schweine verrückt, das musste an ihrer Schwangerschaft liegen, früher wäre ihr das nie passiert.
Mit neu erwachter Energie stieß sie das Tor auf, sie hatte das Problem erkannt, es lag ausschließlich an ihr, besser gesagt an ihrem Zustand.
Sie sah ihn sofort, oh nein, leise wimmernd ließ sie sich neben ihn sinken, seine Augen waren offen, aus seinem rechten Mundwinkel war ein bereits angetrocknetes Blutrinnsal sichtbar. Mit zitternden Händen griff sie an seinen Hals, sie wollte nicht glauben, dass er tot war, wollte nicht glauben, dass sein Herz zu schlagen aufgehört hatte. Blickte in seine graublauen Augen, die sie jetzt nur noch wässerig anstarrten.
Laut aufschluchzend sank ihr Kopf auf seine Brust, dann liefen ihre Tränen auf seinen Pullover, den er gestern Abend angezogen hatte. Sie setzte sich neben ihn, nahm seine Hand in ihre Hände, dann drückte sie ihr tränennasses Gesicht hinein. Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein, er hatte sich so sehr auf seine Tochter gefreut. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie so da gesessen und leise in seine Hand geschluchzt hatte, als sie eine zärtliche Berührung spürte.
Brutus stand neben ihr, seine mitleidigen Augen wirkten durchsichtig, als er seinen Kopf auf ihren Schenkel legte. Erst jetzt sah sie, worauf Holger lag, es war die alte Egge, die noch von ihrem Großvater benutzt worden war, die eigentlich als Erinnerungsstück immer an der Wand hängen sollte. Wie kam diese Egge auf den Hallenboden, wer hatte sie von der Wand abgenommen, sehr viel wichtiger war jedoch, wer hatte Holger umgebracht und hier auf die Egge gelegt.
Sie konnte später nicht sagen, wie sie ins Haus gekommen war, wie sie die Polizei angerufen hatte. Erst als der Polizeiwagen mit Blaulicht auf den Hof fuhr, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Holger, sie musste ihnen Holger zeigen, außerdem musste sie der Polizei den Mörder nennen. Dieser sollte nicht ungestraft davonkommen.
Sie stakste auf den Polizeiwagen zu, die Tränenspuren in ihrem Gesicht bewirkte ein maskenhaftes Aussehen, das die Beamten erschreckte.
›Haben Sie bei uns angerufen‹, die Frage der Beamtin kam zögerlich von der Beifahrerseite, die in diesem Moment geöffnet wurde. Dann mitfühlend, ›wo ist Ihr Mann‹, sie hatte sofort gesehen, dass eine Diskussion nicht möglich war, diese Frau wies alle Anzeichen eines Schocks auf.
Sie hatte nur zu der Scheune gezeigt, als beide Beamten auch schon losrannten, bereits am Eingang den Toten sahen, der von einem Hund bewacht wurde. Wahrscheinlich nur reflexartig versuchte er, die nicht mehr vorhandenen Zähne zu fletschen, als er leicht schwankend seine Verteidigungsstellung einnahm. Niemand sollte ihn abhalten, sein Herrchen vor diesen fremden Eindringlingen zu verteidigen.
›Ruf die Mordkommission an, ich glaube, der wurde tatsächlich umgebracht‹, stellte der erste Beamte nach einem flüchtigen Blick fest, ›dann versuche, dass die Frau den Hund von der Leiche entfernt.‹ Den Schluss hatte er fast geflüstert, er wollte nicht missverstanden werden, seine Kollegin war in diesen Dingen verbindlicher.